Die Frau hinter der Tapete

Über eine eine geradezu bibliophile Neu-Ausgabe von Charlotte Perkins Gilmans Erzählung „Die gelbe Tapete“

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die US-amerikanische Autorin Charlotte Perkins Gilman war um und vor allem nach 1900 in vielen, nicht nur literarischen Textsorten unterwegs. Mit Herland (1915) veröffentlichte sie zudem eine der ersten feministischen Utopien, der sie schon ein Jahr später mit With her in Ourland ein – wie man heute sagen würde – weit weniger bekanntes Sequel folgen ließ. Ebenfalls kaum bekannt ist ihre bereits 1911 publizierte Nahzeit-Utopie Moving the Mountain. Zu ihren utopischen und anderen literarischen Werken kommen unzählige feministische Essays und Aufsätze sowie einige religionstheoretische, kulturwissenschaftliche und ökonomische Schriften, ganz zu schweigen von ihrer Zeitschrift The Forerunner, für die sie sämtliche Beiträge selbst verfasste.

Perkins Gilmans bedeutendste Veröffentlichung aber dürfte die 1892 erschienene Erzählung Die gelbe Tapete sein. Gut 150 Jahre nach ihrer Geburt liegt zwar immer noch nicht alles, aber doch einiges aus Perkins Gilmans umfangreichen Œuvre in deutscher Übersetzung vor – so auch eine Neuübersetzung der gelben Tapete. Gegenüber früheren hat diese Ausgabe den Vorteil, dass sie zweisprachig ist. So lässt sich die Übertragung von Christian Detoux ohne jeden Aufwand mit dem Originaltext vergleichen. Hält man zudem die wohl bekannteste der früheren Übersetzungen, die von Karl H. Schulz stammt, daneben, zeigt sich, dass ihr diejenige von Detoux nicht immer, aber doch zumeist überlegen ist, da sie Ton und Wortlaut des Originals genauer trifft. Allerdings ist gerade dies auch nicht in jedem Fall von Vorteil. „Our lease will be up in three weeks“ mit „unsere Miete ist erst in drei Wochen um“ zu übersetzen, kommt zwar dem Wortlaut des Textes von Perkins Gilman sehr nahe, befremdet aber gerade darum, während Schulz glatter übersetzt: „unser Mietvertrag läuft doch noch drei Wochen“.

Im Zentrum der zunächst scheinbar harmlosen, aber zunehmend düster werdenden Geschichte steht eine namenlose Ich-Erzählerin, die eine – vermutlich postpartale – Psychose entwickelt, zu der die vermeintlich oder womöglich auch nur vorgeblich heilsamen Maßnahmen ihres Ehemanns, einem Arzt, das ihrige beitragen. Erkennt man in ihm einen gar nicht so entfernten Vorfahren des „Fossil“ genannten Psychiaters Prof. Dr. Leopold Jordan, liegt man sicher nicht ganz falsch. Er entmündigt seine Frau zu einem hilf- und rechtlosen Kind, indem er sie in einem vergitterten Zimmer mit der titelstiftenden Tapete einquartiert und ihr – selbstverständlich nur zu ihrem Besten – jede Tätigkeit untersagt. Der zur Gefängniszelle umfunktionierte Raum diente zuvor nicht von ungefähr als Kinderzimmer.

Krankheit und Grauen schleichen sich kaum merklich heran. Galt die Tapete der Protagonistin zunächst nur als hässlich, so scheinen sich deren unfassbare, scheinbar irrlichternden Muster mit der Zeit zu Gitterstäben zu entwickeln, hinter denen sie bald eine hilflos umherschleichende Frau zu erkennen glaubt. Beide, die Frau hinter der Tapete und die Ich-Erzählerin im Zimmer, werden – für letztere – zunehmend ununterscheidbar, bis die Protagonistin zuletzt wie jene im Zimmer umherkriecht. Der letzte Absatz der Erzählung sorgt noch heute für heftige Diskussionen unter den InterpretInnen, könnte er doch ein wenn nicht befreiendes, so doch siegreiches Moment enthalten.

Perkins Gilman hat einige subtile Anspielungen in ihr kurzes Werk eingeflochten. So erwähnt die von ihrem Mann unter Mithilfe seiner Schwester in völliger Abhängigkeit gehalten Ich-Erzählerin etwa, der 4. Juli – also der amerikanische Unabhängigkeitstag – sei „endlich vorbei“. Ein andermal heißt es über eine Bemerkung der Schwägerin, sie klinge unschuldig. Tatsächlich aber ist nichts in diesem Buch unschuldig, nicht ein einziges Wort. Und sollte der Autor der 17 Jahre später erschienen Erzählung Die Verwandlung Perkins Gilmans kleines Werk gekannt haben, wäre es wohl keine Frage, woher er Anregungen für seine als kafkaesk bekannte Erzählweise nahm.

Der Dörlemann Verlag hat Gilmans Perkins Erzählung als sehr schönes, geradezu bibliophiles Bändchen verlegt, dessen Aufmachung fein auf den Inhalt des Buches abgestimmt ist. Bedauerlich ist nur, dass darauf verzichtet wurde, es mit einem Vorwort oder dergleichen auszustatten. Es hätte ja nicht gleich eine originelle Interpretation der Erzählung sein müssen, ein paar Sätze zur Entstehung und zur Rezeptionsgeschichte wären allerdings schön gewesen. Doch bietet der Band nicht mehr als fünfzehn magere Zeilen „zum Buch“, zwölf weitere „zur Autorin“ und neun „zu ihrem Übersetzer“. Das aber sollte niemanden davon abhalten, das Büchlein zu erwerben.

Titelbild

Charlotte Perkins Gilman: Die gelbe Tapete. Erzählung.
Englisch/Deutsch.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Christian Detoux.
Dörlemann Verlag, Zürich 2018.
96 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783038200581

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