Ein Experten-Forum nicht nur für die Peter Weiss-Forschung - Das "Peter Weiss Jahrbuch für Literatur, Kunst und Politik" 2005 und 2006

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In einem Gespräch mit Jacques Outin bezeichnete Peter Weiss den jungen deutsch-tschechischen Künstler Peter Kien (1919-1944) als seinen besten Freund während des Studiums an der Prager Akademie: "Er hatte auch dieses natürliche Verständnis und verfolgte auf eine ähnliche Art wie ich einen Realismus, der ebenfalls von Kubin beeinflußt war" ("Peter Weiss im Gespräch", Frankfurt am Main 1986). Kien taucht auch in verschiedenen Szenen der beiden autobiografischen Romane "Abschied von den Eltern" und "Fluchtpunkt" auf als derjenige, der dem Erzähler vor Augen führt, für welche "Stätten" er "bestimmt gewesen war", wäre er nicht den Eltern ins Exil gefolgt. "Peter Kien wurde ermordet und verbrannt. Ich entkam", heißt es in "Abschied von den Eltern"; und in "Fluchtpunkt" bekennt der Erzähler, bei der Erinnerung an seine Prager Freunde, die in den "Torturkammern" der Nazis "verkamen", überkomme ihn "als Überlebender" ein Gefühl der Schuld und der Scham: "hatte ich mich nicht abgewandt [...] und sie aufgegeben und vergessen. Es schien nicht mehr möglich, weiterzuleben" ("Werke", Bd. 2).

Das fünfzehnte "Peter Weiss Jahrbuch" wird mit dem Erstdruck von drei Erzählungen des jungen Peter Kien, die er in den 1930er-Jahren schrieb, eröffnet. Michael Dörfel porträtiert im Anschluss daran den vielseitigen Künstler Peter Kien, der in seinen letzten Jahren im Ghetto Theresienstadt unter den Kunstschaffenden eine "bedeutende Stellung" einnahm, wie Weiss einmal formulierte ("Der Maler Peter Weiss", Berlin 1982). Der Beitrag enthält auch zahlreiche unveröffentlichte Fotos aus einem nachgelassenen Fotoalbum des Künstlers.

Von den folgenden Analysen widmen sich drei dem Werk von Peter Weiss. Michael Hofmann zeigt auf, wie in dem Roman "Die Ästhetik des Widerstands" (1975-1981) bereits interkulturelle Perspektiven angelegt sind, die in den Kulturwissenschaften erst in den letzten Jahren stärker ins Auge gefasst werden. Claudia Heinrich vergleicht das aus dem Nachlass publizierte Stück "Inferno" (1964) mit dem daraus entstandenen Libretto von Johannes Kalitzke und der Uraufführungsinszenierung dieser Oper unter der Regie von David Mouchtar-Samorai im Juni 2005 am Bremer Theater. Thilo Diefenbach untersucht die Verbindung des Politischen und Sexuellen vor allem in den handschriftlichen Notizbüchern sowie in den gedruckten "Notizbüchern" (1981-1982).

Die folgenden drei Analysen sind anderen Autoren gewidmet. Das "Peter Weiss Jahrbuch" versteht sich auch als Forum für Forschungen zur Gegenwartsliteratur insgesamt. Arturo Larcati verfolgt die Thematisierung der Artikulationsschwierigkeiten "gefesselter" Individuen vor allem im Werk von Ingeborg Bachmann, nicht ohne verwandte Konstellation bei Paul Celan, Peter Weiss, Nelly Sachs, Marie Luise Kaschnitz oder Ilse Aichinger mit einzubeziehen. Christof Hamann vergleicht die unterschiedliche Konfiguration von Raum und Zeit vor allem in Zusammenhang mit Todeserlebnissen in den jüngst erschienenen Romanen "Um Leben und Tod" (1997) von Hermann Kinder und "Abschied" (2003) von Sabine Peters. Rüdiger Scholz schließlich setzt die Besprechung der Sisyfos-Tetralogie, die er im "Peter Weiss Jahrbuch" 14 (2005) begann, mit einer Präsentation von Erasmus Schöfers Roman "Sonnenflucht" (2005) fort.

Beschlossen wird das Jahrbuch mit Rezensionen zu Neuerscheinungen von Rainer Gerlach ("Die Bedeutung des Suhrkamp Verlags für das Werk von Peter Weiss"), Jörg Wollenberg ("Pergamonaltar und Arbeiterbildung"), Anke van Kempen ("Die Rede vor Gericht"), Norbert Otto Eke und Hartmut Steinecke ("Shoah in der deutschsprachigen Literatur") sowie Gila Lustiger ("So sind wir").

Das im Jahr zuvor erschienene vierzehnte "Peter Weiss Jahrbuch" konzentriert sich auf das auch in der Forschung der letzten Jahre im Zentrum der Aufmerksamkeit stehende bildkünstlerische Werk von Weiss sowie auf das Verhältnis von bildender Kunst und Literatur bei Weiss. Es wird mit der deutschen Erstveröffentlichung von Artur Lundkvists Mitte der 1960er-Jahre entstandenen Prosagedichte zu den Collagen von Peter Weiss eröffnet, die einmal mehr zeigt, welche Ausstrahlung das Werk von Weiss in avantgardistischen Kreisen Schwedens besaß. Magnus Berghs Essay über die Beziehung zwischen Lundkvist und Weiss wird ergänzt durch Abbildungen kaum bekannter Arbeiten von Weiss für Bücher von Lundkvist.

Im Dossier stellen Elisabeth und Gert Auer die noch eruierbaren Fakten zu Entstehung und Inhalt von Weiss' im Format größten bildkünstlerischen Arbeit, dem Wandgemälde in der ehemaligen Pathologie des Stockholmer Karolinska Universitätskrankenhauses, vor.

Im Analyseteil werden unter anderem Vorträge der Tagungen "Avant 2003. The Visual Weiss" (Karlstad, Schweden) und "Peter Weiss Bild/Kunst" (Bochum 2004) dokumentiert. Arnd Beise sprach über die Wandlungen des Stadt-Motivs vor allen in Werken des jüngeren Weiss, Christine Ivanovic über das Verhältnis von Collage und Schreibweise im "Schatten des Körpers des Kutschers", Anja Schnabel über stillgestellte Todes-Augenblicke in der "Ästhetik des Widerstands" und Max Reithmann über das Scheitern von Erinnerungskonzepten in Werken der bildenden Kunst sowie deren Behandlung bei Weiss. Dazu treten der Aufsatz von Günter Butzer über die unterschiedliche Anverwandlung von Breughels grotesken Körperdarstellungen in Weiss' letztem Roman sowie Rüdiger Scholz' Vorstellung der Tetralogie "Die Kinder des Sisyfos" von Erasmus Schöfer, der im Sinne von Weiss aus Sicht der 1968er ein Panorama der bundesrepublikanischen Geschichte der 1970er und 80er-Jahre malt.

Rezensionen zu Büchern von Klaus Wannemacher über Erwin Piscator und von Stefan Roloff über die "Rote Kapelle" schließen den Band ab.

A. B.

Anmerkung der Redaktion: literaturkritik.de rezensiert grundsätzlich nicht die Bücher von regelmäßigen Mitarbeiter / innen der Zeitschrift sowie Angehörigen der Universität Marburg. Deren Publikationen können hier jedoch gesondert vorgestellt werden.


Titelbild

Michael Hofmann / Martin Rector / Jochen Vogt (Hg.): Peter Weiss Jahrbuch für Literatur, Kunst und Politik im 20. Jahrhundert. Band 14.
Besorgt von Arnd Beise.
Röhrig Universitätsverlag, St Ingbert 2005.
188 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-10: 3861104016

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Arnd Beise / Michael Hofmann / Martin Rector / Jochen Vogt (Hg.): Peter Weiss Jahrbuch für Literatur, Kunst und Politik im 20. und 21. Jahrhundert. Band 15.
Röhrig Universitätsverlag, St. Ingbert 2006.
184 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-10: 3861104164

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