Hinterlistige Handlungen als Leitmotive der Literaturgeschichte

Peter von Matt verbindet Erzählung und Analyse in seiner virtuosen Studie zur Intrige

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ob der Verkaufserfolg dieses Buches, das nach gut einem Jahr als Hardcover schon eine Auflage von weit über 20.000 Exemplaren erreicht hat, auf seinem plakativen Untertitel beruht, der Handreichungen für die Praxis der Intrige verspricht? Oder doch eher auf der Kennerschaft einer breiten Leserschaft, die weiß, dass Peter von Matts Bücher gewitzte Schatzkammertouren eines großen Komparatisten sind, dessen interpretatorische Analysen nicht nur Details für die Spezialisten im Elfenbeinturm aufschlüsseln, sondern stets auch die großen Fragen nach dem Warum und Wozu des Lesens im Blick behalten?

Wir wissen es nicht. Doch wollen wir dem emeritierten Zürcher Germanistikprofessor zum großen Wurf dieses Buches gratulieren - und seinen Käufern und Lesern zum Erwerb der materialreichen, scharfsinnig argumentierenden und flott formulierten Studie über die Intrige als Kernelement dramatischer wie erzählender Literatur. Peter von Matt erörtert mit diesem Buch - wie schon in seinen vorausgehenden Untersuchungen zum Lieben und zum Lachen, zum Tod und zur Treue, zum Familiendesaster und zum literarischen Porträt - existenzielle Fragen der Lebenswelt durch präzise Lektüren literarischer Texte.

Das Wunderbare an von Matts essayistischen Streifzügen durch die abendländische Hoch- wie Populärliteratur ist die Leichtigkeit, mit der er (eher selbstgestrickte als schulhörige) theoretische Modellierungen mit Beobachtungen an den Texten und einem psychologischen Lebenswissen eng führt. Wie nur ganz wenige andere hat sich der als Publizist in Zeitungen wie Fernsehen präsente Professor um eine allgemein verständliche und relevante Literaturwissenschaft verdient gemacht, wofür er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde. Dass die vorliegende Monografie quasi zur Gänze allein aus den literarischen Quellen gearbeitet wurde und auf 500 Seiten die Sekundärliteratur (etwa zur Erzählforschung oder zur Dramentheorie) keines Blickes würdigt, mag man, je nach Gusto, als Qualität eines aus eigener Fülle schöpfenden Essayisten loben oder als Vermessenheit und Zunftverachtung tadeln. Jedenfalls lässt sich von Matts Missachtung der literaturwissenschaftlichen Forschungsliteratur weitgehend erklären aus der Missachtung derselben für seinen Gegenstand: Die Intrige war bisher kaum als ehrbarer Gegenstand der Literaturtheorie etabliert. Sie galt unter den Vorzeichen modernistischer Ästhetiken eher als ein triviales Handlungselement vulgärer Unterhaltungsliteratur. Mit diesem Desinteresse an listigen Strategien als Strukturmerkmalen gerade auch hoch kanonischer Werke räumt von Matt nun fulminant auf.

Seine Analyse literarischer Intrigantengeschichten vom Esau des alten Testaments bis hin zu Thomas Bernhard, vom Odysseus aus Dantes 'Divina Commedia' bis zu Patricia Highsmith und anderen Krimis fundiert der anthropologisch versierte Literaturwissenschaftler in einer Beobachtung aus der Biologie. "Die Schöpfung lügt", so lautet der erste Satz des Buches. Nicht erst verstandesbegabte Menschen täuschen und intrigieren - auch ohne Großhirn verstellen sich viele Pflanzen und Tiere, um aus der Täuschung anderer Lebewesen ihren Vorteil zu ziehen. So rückt von Matt das Leben und das Fingieren, den Gang der Welt und die Erfindungen der Literatur ganz nahe zusammen. List, Verstellung und das Fingieren alternativer Wege und Welten sind freilich keineswegs immer vergnügungssteuerpflichtig. Denn die Täuschungsstrategien der Pflanzen und Tiere sind Teil des rücksichtslosen darwinistischen Kampfes ums Überleben. Ist die Intrige als täuschendes Handlungsmuster solcherart in der Naturgeschichte verankert, so indiziert sie doch auch einen emanzipatorischen Aspekt in der Geschichte der Menschheit: als Ausgang aus der Unmündigkeit des Schicksalsglaubens ist der selbsttätig handelnde Intrigant nämlich zugleich ein Agent der Aufklärung.

Dabei ist die Intrige meist das Rettungsmittel der Schwachen, die sich gegen die körperlich Stärkeren nur durch List und Täuschung aus einer Notsituation befreien können. Diese Umkehrung der Kräfteverhältnisse durch listiges Tricksen kritisierte Nietzsche dann auch im Namen eines schiere Kraft verherrlichenden Vitalismus. Im Anschluss an die Fundierung der Intrige in biologischen Täuschungspraktiken entwirft von Matt eine veritable Morphologie der Intrige. Seine Studie gliedert die intrigenspezifischen Handlungsabläufe in mehrere Schlüsselszenen, deren Varianten dann durch die Höhenkämme und Seitentäler der Weltliteratur verfolgt werden.

Eine Intrige beginne in der Regel mit der Notlage des Intriganten, der in einer 'Planszene' ein Strategem entwickelt, das seine Not lösen soll. Verstellung und Verkleidung sind zentrale Bausteine der Intrige, ebenso die Figur eines Intrigenhelfers oder die Konstellation von Intrige und Gegenintrige, die besonders in Komödien handlungsstrukturierend ist. Den Abschluss bildet die Szene der Enthüllung der Intrige - die Anagnorisis, in der den Beteiligten und gelegentlich auch den Lesern oder Zuschauern das listige Verstellungsspiel durchsichtig wird. Von Matt unterscheidet gute und böse Intriganten und skizziert anhand der Bösen eine Theorie der diabolischen Dichtart, in der der Intrigant als Abtrünniger wirkt, als ein Nachfahre des aus dem Himmel verstoßenen Teufels. Männer-Intrigen werden vom genderbewussten Interpreten von Frauen-Intrigen und von Intrigantenpaaren wie den Eheleuten Macbeth oder Bonnie und Clyde unterschieden. Frauen greifen als das (vermeintlich) schwächere Geschlecht zu spezifischen Modellen und Mythen des Intrigierens: von Medea und Elektra bis zu Balzacs Cousine Bette reichen die hier analysierten Exempel für weibliche Kalküle der Rache.

Ein umfangreiches Kapitel ist dem Fuchs als Parabelfigur des Intriganten gewidmet. Von Matt forscht nach den Anfängen dieser tierischen Verkörperung des Listigen bei Äsop und im "Physiologus". Er rühmt Goethes "Reineke Fuchs"-Dichtung, der in den großen Goethestudien als vermeintlich belangloser Marginalie meist kaum ernsthafte Würdigung widerfährt, als Parallele zu Goethes "Faust". Und er stellt den Fabel-Fuchs als Prototyp eines Tricksters in den Zusammenhang der Forschungen zum Trickster. In der Ethnologie wie in der vergleichenden Märchenforschung wurde die Figur des anarchisch egoistischen Schelms als anthropologische Universalie nämlich intensiver diskutiert als in den Literaturwissenschaften.

Von Matt hat neben seiner analytischen Morphologie der Intrige auch ein geschichtsphilosophisches Narrativ zur Intrige zu bieten. Seine historische These skizziert dabei eine Zivilisationsgeschichte in nuce. Im Altertum indiziere die Intrige eine Modernität, einen Fortschritt gegenüber fatalistischer Mythologie. Denn die Menschen setzen sich mit ihrer qua Intrige angemaßten Handlungsmacht an die Stelle des Schicksals oder der Götter. Die Moderne seit Goethe und Schiller problematisiert die Intrige dann aber zunehmend. Denn die Menschen sind gemäß den nunmehr avanciertesten Anthropologien nicht mehr handlungsmächtige, freie Herren ihrer Entscheidung. Die Abgründe seines Unbewussten dezentrieren das souverän planende Intrigensubjekt ebenso wie die Unübersichtlichkeit der Macht- und Wirkungsverhältnisse in nach-absolutistischen Staaten und in städtischen Gesellschaften. Literaturgeschichtlich werde folglich die lineare höfische Intrige abgelöst von labyrinthisch vernetzt organisierten Großstadtintrigen bei Balzac - und zuvor schon im Fragment gebliebenen "Polizey"-Projekt Schillers.

Die Entwicklung der modernen Höhenkammliteratur wird durch von Matt als ein Abschied von der Intrige ganz neu fokussiert. Die Plots der Moderne sollen nun nicht mehr von Intriganten bestimmt sein, das listige Subjekt als souveräner Denker und Handelnder dankt ab. Zuerst werden die Frauen von Lessing und Schiller als Intrigantinnen von der Bühne gejagt - konsequenter freilich in ihren Theorien als in ihren Theaterstücken. Lessings Kritik an Corneilles "Rodogune" wird hier als äußerst folgenreiche Etablierung eines neuen Frauenbildes dargestellt. Nur aus Liebe könnten und sollten die Frauen handeln, so die Behauptung Lessings, die als Schlüsselszene gelesen wird für das bürgerliche Verständnis der Geschlechterrollen. Die Krise des Intrigensubjekts verschärft sich zunehmend in der Moderne. Als Höhepunkt dieser Abdankung des handlungsmächtigen, souverän kalkulierenden Subjekts interpretiert von Matt Strindbergs Stück "Der Vater". Der Patriarch dieses Familienstückes projiziert die Handlungsanweisung seiner gefürchteten Entmachtung quasi selbst, indem er seiner Frau seine verletzliche Stelle, die immer unsichere Vaterschaft seiner Tochter gegenüber, anzeigt. In Thomas Bernhards Alt-Nazi-Stück "Vor dem Ruhestand" ist die Intrige gleichfalls nur noch als Hohl- und Spielform präsent: Statt handlungsmächtigen, intrigenfähigen Protagonisten begegnen wir hier eher Zombies, die in Gefängnissen aus rituell wiederholter Vergangenheit existieren.

Verschwindet die Plots strukturierende Intrige solcherart aus der kanonisierten modernen Hochliteratur, so genießt sie doch Asyl (und große Gefolgschaft!) in Genres der populären Literatur und des Films. Von Matt beschreibt das Fortleben der frei handelnden und zur Tragik fähigen Subjekte in Spionagethrillern wie etwa Graham Greenes "Der humane Faktor". Das von postmodernen Theorien und Romanen als Illusion durchschaute, entmächtigte Subjekt feiert mithin fröhliche Urstände in allen narrativen und theatralen Erfolgs-Gattungen. Und von Matt legt dabei Wert auf die Feststellung, dass nicht alle Detektiv- oder Spionage-Romane flache, schlecht gemachte Massenware sind. An Thrillern wie Forsyths "Schakal" oder dem vielfach verfilmten Krimi "The Postman always rings twice" demonstriert der Germanist, dass diese Bücher das anthropologische und soziologische Wissen ihrer Autoren - Greene arbeitete selbst für den Geheimdienst - mittels raffiniertester Erzählkunst darbieten. Erzähler von spannenden Geschichten verhalten sich dabei in ihrer temporalen Modellierung der Wissensvermittlung dem Leser gegenüber selbst wie Intriganten: sie halten Informationen zurück. Sie verstellen sich, um die Angstlust der Leser zu vergrößern und die Überraschung der finalen Aufdeckungsszene zu steigern.

Es sind offenbar am ehesten psychoanalytisch versierte Literaturwissenschaftler, wie Peter von Matt oder einst der Yale-Kritiker Peter Brooks mit seiner Studie "Reading for the Plot", die nach Motivationen und Funktionen beim Lesen fragen. Ihnen genügt es nicht, nur nach losgelösten Formen und Verfahren im luftleeren, genauer: im leserleeren Raum zu suchen. Was von Matts Bücher dabei zu solch unvergleichlich spannend zu lesenden literaturwissenschaftlichen Darstellungen macht, ist wohl vor allem seine eigene Kunst des pointierten Erzählens. In seiner wohlkalkulierten Verschränkung von ebenso simplen wie weitreichenden Fragen, theoretischen Bausteinen und charmant vorgetragenen literarischen Fallgeschichten erweist sich der Zürcher Emeritus als ein urbaner Causeur, dem nichts ferner liegt als akademisches Pedantentum und Langeweile. So entstehen Bücher, die den literaturwissenschaftlichen Fachleuten wie einem breiteren Lesepublikum so geistreich wie anschaulich verdeutlichen, was Literatur bedeutet und wie gute Literatur funktioniert. Und kaum merklich, weil gänzlich unangestrengt, durchläuft man mit diesem listig gelehrten Buch zugleich einen Grundkurs über das sperrige Thema einer "Geschichte der Subjektivität im Abendland".


Titelbild

Peter von Matt: Die Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist.
Carl Hanser Verlag, München 2006.
500 Seiten, 25,90 EUR.
ISBN-10: 3446207317

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