Genozide sind verhinderbar
Einige Literaturhinweise anlässlich des Todes der Menschenrechtskämpferin Alison Des Forges und zur Aufklärung des Völkermords in Ruanda
Von Jan Süselbeck
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAlison Des Forges kam am 12. Februar 2009 bei einem Flugzeugabsturz in Buffalo ums Leben. "Sie arbeitete fast 20 Jahre als Senior Adviser der Africa Division von Human Rights Watch vor allem in und über Ruanda und die Region der Großen Seen", heißt es in einer von "Bestürzung" über ihren Tod geprägten Presseerklärung ihres deutschen Verlags: "Sie war eine der ersten, die die ethnischen Spannungen, die 1994 zum Genozid in Ruanda führten, erkannte und eine internationale Intervention forderte."
"Kein Zeuge darf überleben" lautet der Titel ihres Buches, das 2002 in der Hamburger Edition erschien. Hierin beschrieb die Autorin die "Geschichte und den Verlauf dieses Genozids und kritisierte das Versagen der UNO und anderer internationaler Akteure, die den Massenmord hätten verhindern können. In zahlreichen Vorträgen und Diskussionen auch in Deutschland forderte Alison Des Forges die internationale Gemeinschaft dazu auf, derartige Massenverbrechen zu verhindern", heißt es im Nachruf des Verlags.
Auch die "Süddeutsche Zeitung" beklagt den Tod der Aktivistin und schreibt, Des Forges' unermüdliche Arbeit habe nicht nur dazu geführt, dass "der Völkermord historisch aufgearbeitet wurde, sondern auch zur Einsetzung des Internationalen Strafgerichtshofes im tansanischen Arusha, vor dem sie in elf Verfahren aussagte. In letzter Zeit hatte sie den Konflikt im Kongo analysiert. Für den Menschenrechtsaktivismus in Afrika ist der Tod von Alison Des Forges ein großer Verlust. Sie wurde 66 Jahre alt."
Mit knapp 1.000 Seiten ist die Studie von Des Forges sicher eine der bisher wichtigsten Rechercheleistungen zur Aufklärung des Genozids der ruandischen Hutu an den Tutsi, bei dem 1994 etwa eine Million Menschen bestialisch abgeschlachtet wurden. Die Aktualität dieses grausigen Buchs war gerade in den letzten Monaten wieder mit Händen zu greifen: Aus dem an Ruanda grenzenden Krisengebiet des Kongos wollten die beunruhigenden Nachrichten von Massenvertreibungen und Massakern nicht abreißen, die allesamt auch Folgeerscheinungen der Geschehnisse sind, die Des Forges in ihrem Band eingehend beschrieben und analysiert hat.
"Es gilt Wege zu finden, mehr Menschen zu motivieren, sich solchen Verbrechen entgegenzustellen", appelliert die Autorin in ihrer Studie. "Wir müssen verstehen, wie lokale und internationale Proteste sich verbinden und Auswirkungen haben können, damit die Woge der Empörung anschwellen und in Zukunft Völkermorde verhindern oder beenden kann." Genozide drohen und geschehen weiter, und gerade wenn sie "weit weg" passieren, kümmert sich in der westlichen Welt, die aus ökonomischen und machtpolitischen Motiven noch dazu meist tief in die Geschehnisse verstrickt ist, bis zum heutigen Tag kaum jemand darum. "Die Täter waren eindeutig und ausschließlich Afrikaner", schreibt der Berliner Historiker Wolfgang Wippermann in seinem neuesten Buch über den Faschismus, das auch ein Kapitel über "Bonapartismus und Faschismus in Schwarzafrika" enthält. "Doch die Gedanken und Ideologien, die sie zu ihren Verbrechen verleitet haben, kamen aus Europa."
Aus gegebenem Anlass sei hier deshalb an einige weitere wichtige Bücher erinnert, die in den letzten Jahren zum Thema des Völkermords in Ruanda publiziert worden sind. 2007 erschien ebenfalls in der Hamburger Edition Jacques Sémelins Studie "Säubern und Vernichten. Die politische Dimension von Massakern und Völkermorden". In seiner Einleitung fragt sich der Pariser Professor für Politikwissenschaft ganz grundsätzlich: "Wie war es möglich? Wie kann man Tausende, Zehntausende, ja Millionen von wehrlosen Menschen töten? Und sie noch dazu leiden lassen, sie quälen und vergewaltigen, bevor man sie umbringt?"
Sémelin treibt in seinem Buch, das auch die Gräuel von Ruanda thematisiert, die vergleichende Genozidforschung voran und konstatiert, dass es die Aufgabe der Soziologie sei, "dieses Forschungsgebiet systematischer zu besetzen", da die "Vernichtung der Zivilbevölkerung", wie sie eben auch in Ruanda geschah, "ein hervorstechendes Phänomen des 20. Jahrhunderts" sei, "mit dem das 21. Jahrhundert jetzt schon Schritt zu halten vermag".
Konkret zum Konflikt in Ruanda fand in Deutschland 2008 auch Roméo Dallaires voluminöse Abrechnung mit dem plakativen Titel "Handschlag mit dem Teufel. Die Mitschuld der Weltgemeinschaft am Völkermord in Ruanda" Beachtung, die im Original bereits 2003 in Kanada erschien. Dallaire war 1993 zum Befehlshaber der UN-Truppen in Ruanda ernannt worden, erlitt aufgrund seiner traumatischen Erlebnisse einen psychischen Zusammenbruch und konnte erst Jahre später versuchen, in seinem Text Rechenschaft über seine Erlebnisse abzulegen.
Dallaires Buch macht erfahrbar, wie hilflos sich selbst ein militärischer Befehlshaber wie er gegenüber den Geschehnissen vor Ort fühlen konnte und wie wenig er zunächst begriff, was unmittelbar um ihn herum geschah, als das große Töten begann: "Natürlich war das schon Völkermord, und es ist mir immer noch rätselhaft, warum ich damals den Begriff noch nicht benutzte. Vielleicht sperrte ich mich unbewusst dagegen, dass sich so etwas wie der Holocaust wiederholen könnte."
Dass auch diese aus der zeitlichen Distanz gewonnene Erkenntnis Dallaires zu kurz greift, wenn man den Genozid von Ruanda historisch einordnen will, hat der Jurist Gerd Hankel 2005 in der Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, Mittelweg 36, betont. Die Massaker in Ruanda waren eben keine ,Wiederholung' der Shoah, denn die Situation in Ruanda sah "anders als die Wirklichkeiten in Deutschland und Europa der Kriegs- und Nachkriegszeit aus. Der Krieg in Ruanda ist ein Bürgerkrieg gewesen, Täter und Opfer der Verbrechen im Krieg wie auch des Völkermords waren Ruander, die nun, nach dem Ende der Geschehnisse, in einem Land zusammenleben mußten."
Eine genaue Definition dessen, was in Ruanda geschah, hat man wohl immer noch nicht gefunden. Das beginnt schon mit der Frage, wie man mit dem statistischen Material umgehen soll, das meist das Erste oder auch das Letzte bleibt, was genannt wird, um die Faktizität des immer noch unfassbar Wirkenden zu unterstreichen. Am Ende von Dallaires Band etwa lässt der "taz"-Reporter Dominic Johnson, der für die deutsche Ausgabe ein Nachwort verfasst hat, Zahlen sprechen. Man kann sie zunächst einmal einfach zur Kenntnis nehmen, doch je länger man darüber nachdenkt, was sich 'wirklich' dahinter verbergen könnte, desto mehr unbeantwortete Fragen tauchen auf: 1.074.017 Tote habe es laut einer offiziellen Zählung von 2001 im Bürgerkrieg von 1990 bis 1994 in Ruanda gegeben: "97,3 Prozent davon waren Tutsi. 56 Prozent waren männlichen Geschlechts, 50,1 Prozent waren Kinder. 37,9 Prozent wurden mit Macheten umgebracht, 16,8 Prozent mit Keulen erschlagen, 14,8 Prozent erschossen, acht Prozent zu Tode geprügelt, vier Prozent in Latrinen ertränkt. Die anderen wurden lebendig verbrannt, in Stücke gerissen, aufgehängt, zu Tode vergewaltigt, zum Selbstmord gezwungen oder überfahren."
Wie könnte man das, was sich hinter diesen nüchternen Angaben an Komplexität und an unermesslichem, konkretem Leiden verbirgt, auch nur ansatzweise in einem Text zu 'repräsentieren' versuchen? Robert Stockhammer, Mitarbeiter des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung Berlin und Dozent am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin, hat 2005 mit seinem Bändchen "Ruanda. Über einen anderen Genozid schreiben" eine konzise philologische Studie zu diesem Problem vorgelegt. Nach einer kurzen Einführung in die Geschichte Ruandas seit seiner Kolonialisierung durch das Deutsche Reich (1884/85) versucht Stockhammer dabei nicht etwa, die Rede vom "Unsagbaren" der Geschehnisse von 1994 zu wiederholen, sondern erörtert im Gegenteil die Bedingungen ihrer Sagbarkeit. Dabei diskutiert auch er die Frage, was ein "Genozid" überhaupt sei und kritisiert die Tendenz, Völkermorde gegeneinander im Sinne einer "Katastophenkomparatistik" aufzurechnen. Allerdings macht diese Beobachtung die Sache aus seiner Sicht nicht eben einfacher: "Jeder Genozid ist einzigartig; der Holocaust ist besonders einzigartig: Man soll nicht vergleichen. Diese Einzigartigkeit jedoch läßt sich nur daraus schließen, dass es keinen anderen ebensolchen Fall gegeben hat, und schon dieses Ergebnis ist eine negative Folgerung aus Vergleichen mit anderen Fällen. [...] Man hat immer schon verglichen; man kann nicht nicht vergleichen." So werde der Holocaust im Schreiben über Ruanda trotz der 'Unvergleichbarkeit' beziehungsweise 'Einzigartigkeit' der historischen Ereignisse nicht nur zu einer geradezu unvermeidbaren Referenzgröße, sondern bilde auch eine "Referenzrahmen": "Denn das Schreiben über den Genozid in Ruanda bezieht sich nicht nur immer wieder auf den Holocaust, sondern gelegentlich auch auf das Schreiben über den oder auch nach dem Holocaust selbst."
Nach Hans Christoph Buchs dokumentarisch-fiktionalem Reportage-Roman "Kain und Abel in Afrika" (2001), den Stockhammer in seinem Buch neben vielen weiteren, vor allem auf Französisch und Englisch verfassten ruandischen Texten über den Genozid der Hutu an den Tutsi thematisiert, erschien zuletzt ein weiteres deutschsprachiges literarisches Werk, das besonders die zwielichtige Rolle von Entwicklungshilfeorganisationen und der Schweiz in Ruanda anprangert und damit relativ große Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat: Lukas Bärfuss' Debüt-Roman "Hundert Tage". Der Versuch, 'unbeschreibliche' Massaker literarisch zu verarbeiten, ist besonders heikel. Das verhältnismäßig große öffentliche Interesse an Bärfuss' Text, das seit Erscheinen des Romans im Jahr 2008 nicht abriss, zeigt aber auch, dass Literatur manchmal vielleicht sogar nachhaltigere Emotionen bei den Lesern auslösen kann als historiografische Darstellungen, Reportagen oder vermeintlich 'alltägliche' Bilder im Fernsehen.
Darüber hinaus kann auch ein Romancier, der vor Ort recherchiert hat, plötzlich als 'Sachverständiger' von der Presse befragt werden: "Die Kriege sind nicht schicksalhaft", betonte Bärfuss kürzlich - ganz ähnlich wie Des Forges - anlässlich der neuesten Geschehnisse im Kongo in einem Interview mit der "Frankfurter Rundschau", "und es gibt sehr wohl Wege, die Konflikte zu beenden. Allein der politische Wille dazu fehlt. Es gibt zu viele, die von diesem Krieg profitieren." Gemeint sind hier vor allem die vielen Bodenschätze in der afrikanischen Region. Am Ende fügt der Autor in dem Gespräch deshalb noch zuspitzend hinzu: "Ich telefoniere gerade mit einem finnischen Handy, das Coltan enthält, wahrscheinlich aus dem Nord-Kivu, wahrscheinlich illegal abgebaut. Wir sind alle verstrickt."
Alison De Forges' Engagement war trotzdem nicht umsonst. Die Aufklärungsarbeit, die sie mit angestoßen hat, ist noch lange nicht zu Ende - leider aber auch nicht die politischen Mechanismen, die sie beschrieben hat. "Die Geschichte muß erzählt werden", lauten die letzten Worte ihres Buchs. Das gilt auch für die Zukunft.
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