Das größere Monster

Christian Begemanns, Britta Herrmanns und Harald Neumeyers Sammlung kulturwissenschaftlicher "Lektüren des Vampirs" beleben einen längst nicht Totgeglaubten

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Herbst des Jahres 2006 trafen sich im Kunstmuseum der Stadt Bayreuth WissenschaftlerInnen verschiedener Disziplinen, um über "kulturwissenschaftliche Lektüren des Vampirs" zu referieren und zu diskutieren. Wie so oft bei solchen Veranstaltungen ist nun der dazugehörige Tagungsband erschienen. Das von Christian Begemann, Britta Herrmann und Harald Neumeyer herausgegeben Buch trägt den Titel "Dracula unbound" und enthält siebzehn Beiträge aus kultursemiologischer, gendertheoretischer, medizin- und psychologiegeschichtlicher sowie literatur- und medientheoretischer Perspektive.

In ihren einleitenden Bemerkungen über den "Vampir im Schnittpunkt kultureller Wissensbestände" weisen die HerausgeberInnen auf die "Präsenz des Blutsaugers in Bücher, Bildern, Filmen, Opern und Musicals, in Werbespots oder Subkulturszenen" hin. Eine Reihe, die sich ohne weiteres erweitern ließe, was Jürgen E. Müller in seinem Beitrag "Identitätsmetamorphosen" denn auch tut und Malerei, bildende Künste, Theater, Fotographie, Hörspiel, Kino, Rockmusik, Fernsehserien, Kinderliteratur und -serien, Internet und digitale Medien hinzufügt. Comics (wie etwa die als solche fortgeführten Fernsehserien "Buffy" und "Angel" oder die ältere "Vampirella"), Heftromane (wie "Vampira", aus der sogar einige Hörspiele hervorgingen), oder Zeichentrickserien (wie "Graf Duckula" oder "Die Schule der Vampire", letztere nicht zu verwechseln mit Ann Rices gleichnamigem Buch) lässt allerdings auch er unerwähnt. Dies mag mit dem diesen Medien anhaftenden Image des Trivialen zusammenhängen. Jedenfalls vermittelt der Band insgesamt den Eindruck, dass seine AutorInnen sich lieber mit Erzeugnissen der 'Hochkultur' oder doch zumindest mit den cineastischen und literarischen Klassikern des Genres befassen.

Müller selbst konzentriert sich ganz auf die Figur des Grafen Dracula in den Filmen "Nosferatu - Eine Symphonie des Grauens" (Friedrich Wilhelm Murnau 1921/2), Roman Polanskis "Tanz der Vampire" (1967), Francis Ford Coppolas "Bram Stoker's Dracula" (1992) und Patrick Lussiers "Dracula 2000" (2000), wobei er die Auswahl der Filme nachvollziehbar mit der "dort gegebenen möglichst überzeugenden paradigmatischen Veranschaulichung unseres Phänomens" und dem Wunsch einer "möglichst großen gattungsspezifischen und historischen Bandbreite" begründet.

Auch Claudia Liebrands Interesse gilt dem Kino. Anhand der Filme "The Reflecting Skin" (1990) von Philip Idley und George A. Romeros "Martin" (1977) stellt sie eine Beziehung zwischen dem Medium und dem Untoten her. Beide Filme schließen der Autorin zufolge "an das Genre Vampirfilm an und transponieren es durch ihre metareflexiven Genre-Verhandlungen." Zudem werde "der Vampir, die Vampirin in 'The Reflecting Skin' dezidiert deutlicher als in vielen Genrefilmen als Screen exponiert" und zwar in doppeltem Sinne, "einerseits als Projektionsfläche, auf welche die Phantasien des Protagonisten geworfen werden, andererseits als Schirm, der dasjenige verstellt, was weit unheimlicher und bedrohlicher ist als der Vampir selbst".

Ähnlich wie Liebrand stellt auch Silke Arnold-de Simine eine Verbindung zwischen Medium und Vampir her, jedoch ganz anderer Art und noch etwas elaborierter. Ihre auf Ken Gelder bezugnehmende These, dass der Vampir im Medium Film seine "wahre Heimat" gefunden habe, plausibilisiert sie anhand von Murnaus "Nosferatu - Eine Symphonie des Grauens" und Carl Theodor Dreyers "Vampyr - Der Traum des Allan Gray" (1931/31). Nachdem sie überzeugend dargelegt hat, dass beide Werke den Vampir als "genuin filmische Figur" deuten, geht sie abschließend auf Elisa Merhiges Spielfilm "Shadow of the Vampire" (2000) ein, den die Autorin augenzwinkernd als ein "ungewöhnliches 'Making of Nosferatu'" bezeichnet. Die Figur des damaligen Schauspielers Max Schreck spielt Graf Orlo nicht nur, sondern ist tatsächlich "ein von Murnau engagierter Vampir", der seinen Blutdurst an Murnaus Team löscht. Das "größere Monster" sei in Merhiges Film jedoch Murnau selbst, da er dem Vampir als Lohn für seine Spiel die Schauspielerin Greta Schröder verspricht.

Die meisten der genannten Filme zählen zwar zu den Klassikern des Genres, sind darum aber noch nicht ausnahmslos der Hochkultur zuzurechnen. Dieser wenden sich etwa Britta Herrmann, Marion Linhardt und Frederik Burwick zu. Während Herrmann der "Poetik des Untoten" bei Johann Gottfried Herder, E. T. A. Hoffmann und Joseph von Eichendorff beleuchtet und Linhardt den Vampiren in "Mélodrame, Melodrama und romantischer Oper" nachspürt, nimmt Burwick die "Vampire auf der Bühne der 1820er Jahre" in den Blick. Einem nichtfiktionalen Diskurs wendet sich Heinz Schott zu, der dem "Vampirismus in der Medizingeschichte" nachspürt. Jürgen Barkhoff vergleicht "Vampirismus und Mesmerismus". "Draculas Zigeuner und die Anthropologie des Zigeuners im 19. Jahrhundert" beleuchtet Nicholas Saul und Christan Begemann erhellt die "Metaphysik der Vampire".

Annette Keck wendet sich in einem instruktiven Beitrag "Wir verspotten die Schöpfung" neben den "Anmerkungen zum Verschwinden des Autors und zum Erscheinen der Autorin" von Genia Schulz und Margriet de Moors Erzählung "Bevorzugte Landschaft" auch Elfriede Jelineks "Krankheit der Frauen" zu. Etwas unwürdig ist nur ihr Wortspiel mit dem Vornamen von Schulz: "Genia-Logik".

Hans Richard Brittnacher macht als "gemeinsames Merkmal" aller Vampire ein zwar nicht ihr bereits verlorenes Leben, wohl aber ihren Leib gefährdendes Außenseitertum aus. Kaum treffen "Normale" auf eines dieser Geschöpfe der Nacht, so wollen sie es auch schon "eliminieren". Zu recht weist Brittnacher darauf hin, dass die "Außenseiterdimension noch markanter" wird, wenn sich in der Gestalt des Vampirs Tod und Weiblichkeit "amalgamieren". "Statt sich hinzugeben, wie es die abendländische Kultur der Frau abverlangt, wählt die Vampirin selbst ihre Liebhaber. Und sie, nicht er, entscheidet über Art und Dauer der Beziehung. Statt, wie es der Frau zukommt, Leben zu gebären, schenkt sie den Tod. Ungeniert usurpiert sie männliche Rollen und überbietet diese zuletzt noch im größten Skandal, der Wahl gleichgeschlechtlicher Partnerinnen". Das alles ist zutreffend. Anzumerken ist allerdings, dass andere Kulturen Frauen sehr viel stärker auf die Rolle des in Liebesdingen passiven Parts festlegen, zumal im 21. Jahrhundert.

Insgesamt bestätigt der Band die Feststellung der HerausgeberInnen, dass Vampirismus ein für die Kulturwissenschaften "höchst lohnendes" Untersuchungsfeld darstellt. Als Grund hierfür führen sie an, dass es sich beim Vampir - ungeachtet "sagenartige[r] antike[r] Überlieferungen" und des "mittelalterlichen Volksglauben[s]" - um einen der "wenigen genuinen Mythen" der Moderne handelt.

Die Ansicht der Herausgeberinnen, Vampire seien "untote Körper, die allenfalls Geist haben, aber keine Seele", hätte ein Blick in die bereits erwähnte Fernsehserie "Buffy" und ihren Ableger "Angel" korrigieren können. Wie sie zeigen, gibt es durchaus Ausnahmen. Die beiden Vampire Angel und Spike besitzen zumindest zeitweise Seelen. Der eine, nachdem er von ,Zigeunern' verflucht wurde, der andere aus freien Stücken.


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Christian Begemann / Britta Herrmann / Harald Neumeyer (Hg.): Dracula Unbound. Kulturwissenschaftliche Lektüren des Vampirs.
Rombach Verlag, Freiburg 2008.
434 Seiten, 68,00 EUR.
ISBN-13: 9783793095378

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