Gruselgeschichten aus der Familienzone

Der mexikanische Meistererzähler Carlos Fuentes erzählt von zwischenmenschlichen Höllenkreisen

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor kurzem ist Carlos Fuentes 80 Jahre alt geworden. Pünktlich zu diesem Festtag erschien die deutsche Übersetzung seiner im spanischsprachigen Original 2006 erschienenen Sammlung von Erzählungen und Langgedichten unter dem bitter ironischen Titel: "Alle glücklichen Familien". Der mexikanische Kosmopolit, der schon als Sohn eines Diplomaten eine internationale Erziehung genoß, kann als Ex-Diplomat (unter anderem als Botschafter Mexikos im Paris der 1970er-Jahre), als Harvard Professor und seit den 1990ern als ein überwiegend in Spanien lebender Schriftsteller zurückschauen auf ein buntes Leben und auf ein reiches, vielfach preisgekröntes Œuvre aus Essays, Romanen und Erzählungen.

Trotz seiner großbürgerlichen Herkunft verstand der Autor sich zeitlebens als ein links engagierter Intellektueller. Und dieses soziale Vorstellungs- oder Einfühlungsvermögen kennzeichnet auch seinen neuen, dicht komponierten Erzählkreis. Besonders die 15 als "Chöre" überschriebenen, freirhythmischen Langgedichte, die die 16 Erzählungen interpunktieren, lesen sich als bittere Klage-Gesänge aus den Mündern der Unterdrückten und Unglücklichen: etwa als "Chor der jungen Straßenmütter"; "Chor der ermordeten Familie"; "Chor der unglücklichen Kinder" oder als "Chor der Selbstmördertochter."

Der Titel dieser gleichermaßen psychologisch, soziologisch und sprachkünstlerisch überzeugenden Textsammlung ist eine Anspielung auf Lew N. Tolstojs berühmten Eröffnungssatz aus "Anna Karenina": "Alle glücklichen Familien ähneln einander; jede unglückliche Familie aber ist unglücklich auf ihre Weise." Fuentes' dichterische Beobachtungsgabe und Phantasie haben das Potential, diesem Leitsatz ein so pointiertes wie abgründiges Panorama familiärer Spannungen, Verfehlungen und Folterungen folgen zu lassen. In der Vorstellungs- und Darstellungskraft menschlicher und zwischenmenschlicher Abgründe fühlt man sich bei der Lektüre dieses so gar nicht altersmilden Werkes an Thomas Kapielskis köstlichen Kalauer erinnert: "Je Tolstoi destojewski". Denn Fuentes' Ausschreiten der familiären und amourösen Höllenkreise erinnert tatsächlich mehr an Fjodor M. Dostojewski oder an Dante, als an den versöhnlicheren Sozialreformer und Jesusjünger Tolstoj.

Glücklich nennen darf man in diesem fulminanten Familien- und Beziehungsreigen wohl allenfalls einige wenige - und dies bei durchaus herabgesetzten, bescheidenen Ansprüchen: etwa die Geschichten, in denen es nicht um Mord und offene Gewalt geht. Dazu zählt die Erzählung "Gay Divorce". Hier zeigt Fuentes ein Paar alternder, seit 30 Jahren harmonisch liierter Schwuler, deren einer aus Eitelkeit einer Affäre mit einem jüngeren Mann nicht widerstehen kann und das überaus erfolgreiche Vorzeigepaar so in eine sehr ernsthafte Krise stürzt. Die in Fesselungen und Folterungen umschlagenden Logiken des Begehrens nach Intimität und (possessiver) Zweisamkeit werden in den Erzählungen "Eheliche Bande I+II" analysiert; oder in der Geschichte "Eine Cousine ohne Anmut", in der es ebenso um das abgründige Verhältnis von Anziehung und Abstoßung geht.

Die Einbettung der familiären Zwangs- und Gewaltstrukturen in eine Gesellschaft, die von wirtschaftlicher Korruption, politischer Gewalt und einem rigiden Katholizismus dominiert wird, bilden das thematische Substrat für eine Reihe von Erzählungen und für die Mehrzahl der lyrischen Synkopen. In der das Höllenpanorama eröffnenden Familie mit dem generalisierenden Titel "Eine Familie von vielen" werden in immer neuen, dem Vater, der Mutter, dem Sohn und der Tochter gewidmeten Zooms die Wünsche und Grenzen der einzelnen Figuren aufgezeigt. Im Kern des Elends dürfte hier die zum Überleben notwendige Korrumpierbarkeit des Vaters stehen, dessen moralisches Rückgrat von seinem Chef gebrochen wurde, als der ihn vor die Wahl stellte, Korruptionen mitzumachen oder durch perfide Tricks in seiner bürgerlichen Existenz vernichtet zu werden und im Gefängnis zu landen.

Während die eine Hälfte der Geschichten sich den Spannungen zwischen Liebespartnern widmet, adressiert die andere Hälfte die Macht- und Unterdrückungsmechanismen zwischen Vätern und ihren Kindern. Der zur Tyrannei sich auswachsende lateinamerikanische Patriarchismus kennzeichnet etwa einen Vater, der noch über seinen Tod hinaus durch bösartige Testamentsverfügungen seine drei Töchter im Banne peinlicher Trauervorschriften und Erb-Aufschiebung hält. Eine andere dieser pointensicher gearbeiteten Kurzgeschichten inszeniert einen tyrannisch herrschsüchtigen Vater, der durchaus einst selbst ein rebellischer Sohn war und sich letztlich freut über die Rebellion und den Ungehorsam seiner Söhne, die nicht seinen konservativ christlichen Wünschen folgen. In einer weiteren, politisch gerahmten Familienhölle hat ein Vater als General die Aufgabe, seinen in der Guerilla kämpfenden Sohn zu verfolgen und umzubringen. Sein zweiter Sohn verrät den Bruder und wird von dem ob dieser Ehrlosigkeit entsetzten Vater an Stelle des heldenhaft kämpfenden Rebellen bestraft.

In einer wiederum anderen Variante dieser so einfallsreichen narrativen Familienaufstellungen erklärt ein aus kleinen Verhältnissen stammender mexikanischer Präsident seinem vergnügungssüchtig rücksichtslosen Sohn, nachdem er ihn wütend ohrfeigte, die opferreiche Geschichte seines Aufstiegs und verletzt damit die Mutter des Sohnes einmal mehr. Doch zeigt der Schluss dieser Geschichte, wie Härte gegen sich selbst und die eigene Familie zur Machtgrundlage des Selfmade-Mannes wurden - gerade auch angesichts politischer Widerstände. Am grausamsten wütet ein maul-moralischer Vater in "Die Dienstmagd des Vaters": hier hält ein katholischer Priester seine illegitime Tochter als Mündel quasi versklavt. Diese Geschichte erzählt die schwierige Befreiung des Mädchens aus dieser pseudomoralischen Katholiken-Hölle.

Den kolonialen und postkolonialen Spannungen zwischen den ethnisch verschiedenen Bevölkerungsgruppen widmet sich der Text "Mater Dolorosa". In Form eines Briefwechsels zwischen einem gebildeten, inhaftierten Indio und einer Mutter, deren Tochter er umgebracht hat, weil sich ihre Blicke beim Betrachten eines Sonnenuntergangs trafen und die Angst der Weißen vor dem Indio eine Kette gewaltsamer Verkennungsprozesse auslöste, wird die unselige Geschichte der ethnischen Beziehungen mit einer Geschichte von Verstehen und Missverstehen, von Schuld und Vergebung in einer gespalteten Gesellschaft dramatisch verdichtet.

In "Die Mutter des Mariachi" verheimlicht eine Mutter ihrem Sohn seinen Vater. Das lässt den Sohn davonlaufen, führt zu seinem Straßenleben, seiner Karriere als Polizeispitzel und schließlich zu einer schlimmen Verwundung, durch die er seiner Mutter wieder anheimfällt: als Pflegefall. Hier zeigt sich Fuentes als Virtuose einer melodramatischen Kunst der großen, schmerzlichen Gefühle und der vertrackt quälenden Elternliebe. Im Modus ernüchtert ausgekühlter Sentimentalität moduliert der mexikanische Emotionskünstler den Rückblick auf eine große Jugendliebe in "Die Liebenden": Zwei alte Menschen begegnen sich zufällig auf einem Schiff und schwelgen in den Erinnerungen an ihre große Jugendliebe, die an gesellschaftlichen Konventionen scheiterte. Doch kulminiert dieser sentimentale Rückblick aufs Leben und Lieben in einem raffinierten Umschlag der Erzählung. Denn die zufällig mitgehörten Dialoge der alten Dame mit Ihrem Enkelkind lösen beim Protagonisten und beim Leser, angesichts der Zuverlässigkeit von Erinnerungen, erhebliche Zweifel aus. Denn diese Erinnerungen konstruiere man sich durchaus selbst in der jeweiligen Gegenwart - schön oder hässlich, bedeutsam oder irrelevant - jedenfalls allemal um sich und seine Lebensführung darin zu bestätigen.

Ein weiterer Höhepunkt dieser durchgängig packend konzipierten und mit meisterhafter Dramaturgie und Perspektivik dargebotenen Geschichten berichtet von einem abgehalfterten, eitlen Filmstar. "Der Sohn des Filmstars" variiert das oft erprobte Vanitas-Narrativ eines alternden Stars, der bei Fuentes in die moralisch und psychologisch abgründigen Anziehungs- und Abstoßungsprozesse zu seinem (durch Contergan) körperlich behinderten Sohn involviert wird. Diese schuld- und verantwortungsbeladene Vatergeschichte fabuliert der mexikanische Autor im selten verwendeten, mithin frischen und raffinierten Modus der Du-Anreden an den Protagonisten. Erzählt wird so mittels innerer Monologe oder Ansprachen einer Stimme des Gewissens. Doch hat der Leser bei allen Anklagen und schonungslosen Ausstellungen zwischenmenschlicher Verfehlungen und Wunden bei Fuentes kaum je das peinigende Gefühl, hier schreibe jemand mit erhobenem Zeigefinger. Darstellen, statt Dozieren - auf diese Maxime ließe sich die dichterische Kunst des Altmeisters bringen. Der Leser liest diese irritierenden Einblicke in die düsteren Keimzellen der Gesellschaft mit einer Gänsehaut des Gruselns. Dabei findet Carlos Fuentes in diesem nie geschwätzigen, ökonomisch komponierten Bilderbogen aus der Familienzone immer neue, fesselnde Blickwinkel und Erzähltöne, die von Lisa Grüneisen kongenial in ein sehr gut lesbares, gelenkiges Deutsch übertragen wurden.

Vielleicht scheinen die eingeschobenen Klagechöre der Prosagedichte für einen deutschen Leser in ihrer hoch pathetischen (und gegen Ende des Buches auch etwas repetitiven) Geste der Anklage etwas zu rabiat oder zu plakativ. Doch bietet Fuentes' mexikanisches Fegefeuer der Familienbande einen in seiner schwarzen Generalnote wie in seiner Sprachkunst kaum überbietbaren Beitrag zur großen Welle der Familien-Epik, die den Erzählmarkt der letzten Dekade (spätestens seit Jonathan Franzens "Korrekturen") dominierte. Die Dekadenz der gerade wieder filmisch als vermeintlich aktuelles Gesellschafts- und Familienpanorama ausgerufenen "Buddenbrooks" erscheint einem als harmlos sentimentale Butterfahrt, verglichen mit den schmerzlichen und gewaltigen Bindungen, die Fuentes in das Zentrum seines Erzählzyklus' stellt. Doch bewahrt der alte mexikanische Diplomat zugleich eine ästhetische Distanz zu den allzu offensichtlich auf Schockwirkungen zielenden jüngeren Erzählern oder Dramatikern (etwa Sarah Kane). So gelingt ihm ein weiteres Mal ein literarisches Meisterwerk, dem man viele tapfere Leser wünscht.


Titelbild

Carlos Fuentes: Alle glücklichen Familien.
Übersetzt aus dem Spanischen von Lisa Grüneisen.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
410 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783100207531

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