Unerfüllte Hoffnung auf Rache

Von der Geschichte des Gettos Lodz zum Getto der Geschichte

Von Fabian KettnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fabian Kettner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine der Motivationen von Juden, Dokumentationsmaterial über ihre Verfolgung unter dem Nationalsozialismus zu sammeln, war die, diese Unterlagen eines Tages gegen die Deutschen verwenden zu können. „Dies wird der gewaltige Stoff für den Rächer sein“, so ein Mitarbeiter des geheimen Archivs Oneg Schabbat im Warschauer Getto. Inzwischen weiß man, dass es zur Rache so gut wie nicht kam. Darüber hinaus kam es häufig auch nichtmals dazu, dass der Stoff für die Rache verfügbar ist. Die Materialien des Oneg Schabbat wurden vor der Zerstörung des Gettos in großen Metallbehältern eingelagert und vergraben, die zwischen 1946 und 1950 unter den Trümmern des ehemaligen Gettos gefunden wurden. Eine deutsche Ausgabe nicht nur hiervon sucht man vergebens.

Auch das Tagebuch des Gründers und Verwalters von Oneg Schabbat, Emanuel Ringelblum, wurde mit den Archiv-Unterlagen versteckt. 1967 erschien eine deutsche Ausgabe des ersten Teil des Manuskripts – aber ausgerechnet im rechtslastigen Stuttgarter Seewald Verlag. Die Verleger nutzten es dafür, im Klappentext den polnischen Antisemitismus zu betonen und so von den Verbrechen der Deutschen abzulenken. Zwei andere relativ berühmte Tagebücher aus dem Warschauer Getto, das von Adam Czerniakow, dem Vorsitzenden des Judenrats, und das von Chaim Kaplan, erschienen 1968 respektive 1967 in deutscher Übersetzung. Doch während man sie in englischer Sprache entweder immer noch regulär oder zumindest antiquarisch ohne Probleme bekommen kann, sucht man sie auf dem deutschen Markt vergeblich. Dasselbe gilt für bedeutende Warschauer Überlebenden-Zeugnisse wie das von Adina Blady Szwajger.

Neben dem von Warschau gab es noch zwei weitere Gettos, in denen umfangreiche und bedeutende Archive angelegt wurden und die Deutschen überstanden: Bialystok und Lodz. Das Untergrundarchiv, das der Widerstandskämpfer Mordechai Tenenbaum im Getto von Bialystok anlegte, harrt bis heute irgendeiner Edition und wird zum größten Teil in Yad Vashem und im Beit Lohamei HaGetaot, dem „Haus der Getto-Kämpfer“, einem Museum in der Nähe von Akon (Israel), aufbewahrt.

Wendet man sich dem Getto von Lodz zu, dann sah es vor kurzem nicht viel besser aus als im Falle Warschaus. Das äußerst aufschlussreiche Tagebuch von Dawid Sierakowiak von Juni 1939 bis April 1943 gibt es zwar auch in englischer Sprache, nicht aber auf Deutsch, und ebenso verhält es sich mit dem beeindruckenden Sammelband von Zeugnissen aus dem Getto Lodz, den Alan Adelson et alii vor 20 Jahren herausgaben. Doch gibt es nun endlich eine komplette deutsche Ausgabe der berühmten „Chronik des Gettos von Lodz“. Bislang war nur eine gekürzte (aber immer noch sehr umfangreiche) englische Übersetzung verfügbar, doch der Wallstein Verlag hat nun eine umfangreiche, fünf Bände umfassende, deutschsprachige Ausgabe vorgelegt. Angesichts der oben angedeuteten Editionslage von jüdischen Quellen aus der „Endlösung“ dürfte deutlich werden, was für einen Ausnahmecharakter diese Ausgabe hat.

Lodz

Vor Beginn des Zweiten Weltkriegs waren rund 223.000 der 665.000 Einwohner von Lodz jüdisch. Als die Stadt am 8. September 1939 von den Deutschen besetzt wurde, wurde sie dem neu gegründeten Distrikt Warthegau eingegliedert. Die Diskriminierung und die Einziehung der Juden zu Zwangsarbeitsdiensten setzten sofort ein. Im April 1940 wurde Lodz in „Litzmannstadt“ umbenannt. Bereits am 10. Dezember 1939 hatte Friedrich Übelhör, der Regierungspräsident von Kalisz, einen Geheimbefehl zur Errichtung eines jüdischen Gettos erlassen, das zunächst nur als Übergangsmaßnahme gedacht war. Zum 8. Februar 1940 wurde das Getto offiziell eingerichtet und am 30. April abgesperrt. Nun lebten rund 164.000 Juden auf knapp vier Quadratkilometern, von denen nur wenig mehr als die Hälfte bebaut war. Hinzu kamen circa 38.500 Juden, die 1941/42 nach Lodz deportiert wurden.

Unter Hans Biebow wurde eine Gettoverwaltung eingerichtet. Am 25. Mai 1940 entstanden so genannte „Arbeitsressorts“, über die die Juden in Produktionsstätten ökonomisch vernutzt werden sollten. Zusätzlich wurden die eingepferchten Juden durch Konfiskation schlicht beraubt. Am 13. und 14. Oktober 1940 wurde der Judenrat, den man hier „Ältestenrat“ nannte, eingerichtet, zu dessen Vorsitzendem der berühmte und umstrittene Mordechai Chaim Rumkowski ernannt wurde. Ihm wird Größenwahn, Machtbesessenheit und Selbstüberschätzung vorgeworfen, der die Realität der Shoah so sehr verkannte, dass er meinte, einen Teil ,seiner‘ Juden retten zu können, sei es indem er einen Teil von ihnen den Deutschen ,opferte‘, sei es indem er sie zu produktiven Arbeitern machte. Er gilt als Paradebeispiel für den Menschen, der in einer Extremsituation rücksichtslos wird, und sein eigenes Überleben über das aller anderen stellt.

Zum Ältestenrat gehörten im Februar 1941 rund 5.500 Mitarbeiter, deren Zahl bis August 1942 auf 13.000 gesteigert wurde. Er sorgte für ein funktionierendes Sozialsystem, vor allem für verschiedene Schulen und ein – unter den gegebenen Umständen – relativ gut funktionierendes Gesundheitssystem. Aber er konnte nicht verhindern, dass insgesamt 43.500 Juden durch Hunger, Krankheit und Kälte umkamen. Ab Dezember 1942 wurden Juden immer wieder in andere Lager zur Zwangsarbeit deportiert. Später wurden über 150.000 Juden in den Jahren und 1942 und 1944 in insgesamt vier Phasen zur Vernichtungsstätte Chelmno und nach Auschwitz transportiert.

Die Getto-Chronik

„Die Chronik des Gettos Lodz/Litzmannstadt“ ist eine chronologische Dokumentation des Lebens im Getto, die von den Archivaren des Ältestenrats initiiert und auf der Basis von Datenmaterial der verschiedenen Abteilungen der Gettoverwaltung zusammengestellt wurde. Die vorliegende Ausgabe des Wallstein Verlags beinhaltet in den ersten vier Bänden die Chronik selber, mit einem umfangreichen Anmerkungsapparat, und einen Band mit Supplementen und Anhang. In diesem finden sich Einzeltexte der Chronisten, die nicht in die Chronik gehören und instruktive Aufsätze der Herausgeber, die über die Historie des Gettos sowie die Getto-Chronik informieren und die Probleme sowie die Umsetzung der Edition darstellen.

Die Chronik verzeichnet vom 12. Januar 1941 bis zum 30. Juni 1944 täglich diverse Vorkommnisse und statistische Daten wie Wetterlage, Festnahmen, Sterbefälle und Geburten, Selbstmorde, Neuzugänge, „Aussiedlungen“ (also Deportationen), amtliche Bekanntmachungen, Besuche von Seiten deutscher Dienststellen, Anordnungen, Lebensmittelimporte, Gerüchte und vieles mehr. Später wurde die Rubrifizierung vereinheitlicht. Dem Historiker ist diese Chronik eine wertvolle Quelle, um Aufschluss über das Leben repektive Sterben des Gettos Lodz in allen möglichen Facetten zu erlangen. Jedem Leser führt diese Chronik eindrucksvoll vor, wie man eine Zwangsgemeinschaft eben nicht nur sich selbst überlässt und sterben lässt, sondern beim verrecken Machen durch planmäßiges Aushungern, Krankheiten und Erfrieren demütigt, quält und ausplündert. Aber hierfür bedarf es eben auch einiger Vorstellungskraft. So wenig wie bei anderen Zeugnissen ist auch hier die Quelle an sich noch nicht aussagekräftig. Es genügt eben nicht, ,an die Verbrechen der Vergangenheit zu erinnern‘, wie es in den Besprechungen von Tagebüchern und ähnlichem stets heißt. Der Leser muss viele verschiedene Informationen zu einem Gesamtbild synthetisieren. Dafür bedarf es der Empathie, aber eben auch eines umfangreichen Faktenwissens.

Eine der Rubriken der Getto-Chronik, die mehr als Daten vermittelt, und die als literarisch bezeichnet werden kann, ist die des „Kleinen Getto-Spiegels“. Von September 1943 bis Juli 1944 haben verschiedene Autoren in über 80 Eintragungen versucht, „das Gesicht des Tages nachzuzeichnen“ (24. Februar 1944). Teilweise sind glossenhafte Miniaturen gelungen, die an die von Robert Walser erinnern. Einer der Autoren ist ein relativ bekannter Literat, nämlich Oskar Rosenfeld, dessen Lodzer Tagebuch vor 15 Jahren von Hanno Loewy herausgegeben wurde.

Die Aufgabe von gelungener Holocaust-Literatur, so Lawrence L. Langer in seinem Vorwort zum Tagebuch von Sierakowiak, bestehe darin, dem Leser dabei zu helfen, sich die Qualen derer vorzustellen, die in Gettos und Lagern darum kämpften, am Leben zu bleiben. Sie hilft uns, uns vorzustellen, was wir nie wissen können. Und dies gelingt den mal kürzeren, mal längeren Lesestücken des „Kleinen Getto-Spiegels“, denn hier findet man etwas anderes als statistische Daten. Aber veranschaulicht wird nicht, wie gerne gefordert, durch Konkretisierung oder Personalisierung. Auch wenn es in dem Vierteiler „Aepfelchen, wohin rollst Du …?“ um den Untergang einer bestimmten Familie geht, so bleiben die Beteiligten abstrakt. Sie sind nur Material, an dem die Gesetze des Gettos sich vollziehen: Weil der Sohn krank wird, verzichten die anderen Familienmitglieder zu seinen Gunsten auf ihre Rationen, und verkaufen verschiedene Gegenstände. Die Hilfe, die sie sich selbst absparen, schwächt sie selbst und bringt den Sohn schließlich um, weil er die reichhaltige Nahrung im Krankenhaus nicht verträgt.

Im „Kleinen Getto-Spiegel“ werden Details aufgegriffen, in denen die Verhältnisse im Getto sich verdichten. „Das Zündholz lässt die tiefsten Schlüsse zu“ (05. November 1943), heißt es an einer Stelle. Denn Zündhölzer sind so teuer, dass sie einzeln verkauft werden, weil sie Wärme spenden und somit Leben verlängern in einem Getto, das über fast kein Brennmaterial mehr verfügt. Die ungeschickte Handhabung abgenutzter Reibeflächen kann nicht nur bedeuten, dass ein Mal weniger wenigstens ein wenig Wärme sich ausbreitet, sondern auch den Verlust von umgerechnet einer Tagesration Nahrung.

Hunger ist das eine, aber wie nennt man das Hungergefühl einer Stadt, die seit Jahren hungert? Wie veranschaulicht man „die Tatsache, dass eine ganze Stadt Jahre hindurch, ohne Pause, sich in einem dauernden Hungerzustand“ befindet, was zurecht „allein schon als Unikum in der Kulturgeschichte der Völker gewertet werden“ kann (23. Mai 1944)? Und was bedeutet „Nahrung“ im Getto? Einer sieht, wie Menschen an einer Stelle im Boden wühlen, von der sie wissen, dass dort früher Abfallgruben waren. Der Beobachter hat bis zum April 1944 bestimmt schon vieles gesehen, aber seine Hartgesottenheit bedeutet in seinem Falle nicht, dass ihm die menschlichen Maßstäbe oder das Entsetzen abhanden gekommen wären: „Das ist nicht mehr Hunger, das ist tierisch entartet, […]. Das ist Wahnsinn, Zügellosigkeit, Schmach und Schande. Das muss nicht sein, das darf nicht sein!“ (22. April 1944).

Dass die bislang genutzte Sprache nicht mehr genügt, weil ihre Worte nicht mehr zu dem neuen Zustand passen, das wird verschiedentlich bemerkt. „Frage und Antwort [in einem Kurzgespräch auf der Straße] charakterisieren die Lage im Getto“ (21. März 1944): das Mittagessen wird getrunken und der Kaffee gegessen, weil die übliche Suppe als Mittagessen dünner ist als das heiße Getränk. Dies ist noch vergleichsweise pittoresk, wenn auch vor einem ernsten Hintergund. Wie aber beschreibt man den Zustand im Getto, der schon kein Leben mehr ist, aber eben auch noch kein Tod? Das Getto „wartet – wenn man das stumpfe fatalistische Hindämmern noch ,warten‘ nennen darf, auf ein Wunder“ (19. Juni 1944). Es ist hier der Punkt erreicht, so Lawrence L. Langer, an dem ,Schicksal‘ langsam durch ,Verhängnis‘ ersetzt worden war. ,Zukunft‘ bezeichnete nicht mehr, was man sein oder tun könnte, sondern nur noch, wie bald man sterben würde.

Dass ein Menschenleben keinen Wert mehr hat, das ist zu dem Zeitpunkt längst bekannt. Wenn man seinen Namen auf der Liste der zu Deportierenden entdeckt, dann bemüht man sich, einen Ersatzmann zu finden (der davon nichts weiß) und verhandelt mit den Getto-Beamten, die Liste umzuschreiben: „Zwei Laib Brot und 1 Kilo Zucker wiegen, wenn Schreck, Hunger und Jammer keine Grenze mehr haben, ein Menschenleben auf. Die Psychologie des Gettomenschen stellt die Wissenschaft vor bisher unbekannte Probleme“ (07. März 1944). Sie tut es deswegen, weil diese Situation präzedenzlos war. „Das Getto hat eben seine spezifischen Gesetze, seine spezifische Moral“ (11. Mai 1944), und diese sind die gerade Umkehrung der bekannten Moral und Gesetze. Die Lebenden werden zu Dienern der Toten und werden für diese am Leben erhalten. Weil die Totengräber zu schwach sind, um ihre Arbeit weiterhin tun zu können, fordern sie eine dritte Suppe am Tag (07. Mai 1944).

Auch wenn das Getto „mit der Genauigkeit eines Barometers auf die ,atmosphärischen‘ Auswirkungen aller Ereignisse [reagiert], soweit sie die Existenzbedingungen der Gettobewohner betreffen“ (14. Juni 1944), und auch wenn „die Erwartung von etwas Gutem im Getto [längst] gestorben“ ist (18. Mai 1944), so reichte die Vorstellungskraft doch nicht hin, um sich auszumalen, zu welchem Zweck Menschen immer wieder deportiert werden. Aber hier wie anderswo wunderte man sich, wie die Deportationen zu den offiziellen Verkündungen passten. „Im Arbeitsgewand, schmutzig, müde, mit leerem Magen schleppt man sie irgendwohin. So verfährt man nicht mit Menschen, von denen man eine normale Arbeitsleistung fordert und erwartet“ (18. Mai 1944). Am 30./31. Mai 1942 meldet die „Chronik“, dass die „Gettobevölkerung durch die ankommenden enormen Transporte von allerlei Kleidung“ von insgesamt über 100.000 Kilogramm „ungeheuer neugierig“ geworden sei. Denn aus den Kleiderbündeln fielen unter anderem immer wieder Dokumente, „die von den Behörden des hiesigen Gettos ausgestellt wurden“. Die Deutschen, die sich angeblich solche Mühe machten, ihre Verbrechen zu kaschieren, hatten dem Lodzer Getto die Kleidung und das Gepäck der zuvor Deportieren von der Vernichtungsstätte Chelmno zurückgeschickt.

Lodz Ghetto. A History

Nicht nur viele Quellen, sondern auch viele wichtige Werke von Historikern aus den USA und Israel sind nicht ins Deutsche übersetzt. „Lodzer geto“ von Isaiah Trunk wurde erstmalig 1962 vom Yad Vashem Martyrs’ and Heroes’ Memorial Authority in Jerusalem und vom YIVO Institute for Jewish Research in New York veröffentlicht. Seit 2006 gibt es immerhin eine englische Ausgabe, unter dem Titel „Lodz Ghetto. A History“, seit 2008 auch etwas preisgünstiger als großformatiges Paperback. Dem damaligen Vorwort von Jacob Robinson – der leider auch fast vollständig in Vergessenheit geraten ist (so er denn jemals bekannt war) und dessen hervorragende Kritiken von Hannah Arendts Eichmann-Buch und von Bruno Bettelheims sozialpsychologischen Studien zum Verhalten von KZ-Häftlingen auch nie ins Deutsche übersetzt wurden – seinem alten Vorwort wurden für die Neuausgabe drei neue vorangestellt, allesamt von gewichtigen und hierzulande nahezu unbekannten Historikern. Robert Moses Shapiro informiert über die von Trunk genutzte Quellenlage, den gegenwärtigen Stand der Forschung und Kritiken an Trunk. Joseph Kermish stellt Leben und Werk von Trunk und Israel Gutman die Besonderheiten des Lodzer Gettos vor.

Isaiah Trunk war ein Zeitgenosse des schon erwähnten Emanuel Ringelblum. Er nahm an dem „Seminar für jüdische Geschichte“ in Warschau teil, das dieser gegründet hatte, und das nach der Gründung des YIVO („Jüdisches Wissenschaftliches Institut“) der „Historische Kreis der YIVO-Gesellschaft in Warschau“ wurde. Seine ersten Forschungsergebnisse publizierte er in der Zeitschrift „Yunger Historiker“ („Junge Historiker“), die später in „Bleter far geshikhte“ („Blätter für Geschichte“) umbenannt wurde. 1939 konnte er noch eine große Arbeit über die Juden in der Stadt Plock von 1237 bis 1657 veröffentlichen, wodurch er sich den Ruf als einer der außerordentlichen jungen Historiker der Juden in Polen erwarb. Am 7. November 1939 floh er von Warschau in die Sowjetunion, aus der er erst 1946 zurückkehrte. Gleich nach seiner Rückkehr wandte er sich der Zeitgeschichte zu und wirkte daran mit, die jüdische Historiografie des Holocaust zu initiieren. Von den Archiven der NS-Herrschaft in Osteuropa waren diejenigen aus Lodz am wichtigsten, weil sie am umfangreichsten waren, da sie von den Deutschen vor ihrer Flucht vor der sowjetischen Armee nicht mehr vernichtet werden konnten. In den nächsten Jahren veröffentlichte er bald erste Studien zur Vernichtung der Juden in Polen in den neu begründeten „Blättern für Geschichte“. Wenige Jahr später ging er nach Israel, wo er zu den Gründern des israelischen Archivs im bereits erwähnten Beit Lohamei HaGetaot gehörte. Später ging er nach Kanada und dann in die USA, nach New York, wo sich ab 1954 der neue Hauptsitz des YIVO befand. 1972 erschien seine fundamentale und nach wie vor unübertroffene und singuläre Studie „Judenrat. The Jewish Councils in Eastern Europe under Nazi Occupation“, – die es natürlich auch nicht auf Deutsch gibt.

Dieses Buch ist nach wie vor die einzige umfangreiche Studie, die ebenso differenziert wie gewissenhaft die Entstehung und die Funktion der Judenräte in Osteuropa darstellt und das Verhalten der Juden unter deutscher Herrschaft quantitativ auswertet. Es korrigiert nicht zuletzt das Bild von den Judenräten, die mit den Nazis angeblich „zusammengearbeitet“ hätten, das vor allem von Hannah Arendt und Raul Hilberg initiiert worden war. In Deutschland liest man lieber Jahrzehnte lang die erhabenen Reflexionen über das Verhalten von ,Menschen in Extremsituationen‘, den Menschen und seine Würde im Allgemeinen und das angebliche Versagen der Juden während ihrer Verfolgung im Besonderen von Bruno Bettelheim und Viktor Frankl, die in der Kulturkritik der 1920er Jahre aus dem Umfeld der Fundamentalontologie wurzeln, anstatt beispielsweise Trunks „Jewish Responses to Nazi Persecution“ (1979) zur Kenntnis zu nehmen.

Seine Forschungen zum Getto Lodz sind also Teil eines wesentlich größer angelegten Projekts. Die Dokumente in dem ebenso großformatigen wie umfangreichen Band „Lodz Ghetto“ sind in die Themengebiete „Einrichtung des Gettos“, „Organisation des Gettos“, „Versorgung mit Lebensmitteln“, „Zwangsarbeit“, „Krankheiten und Sterblichkeit“, „Erschießungen, Mord und Deportationen“, „innere Bedingungen“ sowie „Das Problem des Widerstands“ eingeteilt. Jedem Kapitel hat Trunk einen ausführlichen Kommentar vorangestellt, der in das jeweilige Thema einführt. Die Dokumente hat er zusammengestellt zum einen aus dem Archiv der deutschen Getto-Verwaltung, zum zweiten aus dem Getto-Archiv des Ältestenrats mit all seinen Institutionen und zum dritten aus Tagebüchern, die im Getto geschrieben wurden, aus Erinnerungen und Zeugenaussagen.

Aber „Lodz Ghetto“ ist nicht nur Quellensammlung. Trunks Einführungen zu den einzelnen Kapiteln machen fast die Hälfte des Buchs aus, und das, was er zusammengestellt hat, das nutzt er auch für eine analytische Auswertung. Das Getto Lodz ist für Trunk durch fünf Aspekte einzigartig unter den von Deutschen errichteten Gettos in Osteuropa.

Erstens war mit dem Judenältesten Mordechai Chaim Rumkowski eine einzige Person als Herrscher über das Getto eingesetzt worden. Dies war für die Deutschen sehr bequem, weil ein einzelner Mann viel leichter zu einem gehorsamen Instrument gemacht werden kann als eine Vielzahl von Vertretern. Zweitens zeichnete sich das Getto Lodz durch eine Hyper-Organisation in der Administration aus. Da ein Getto von der Gemeindeorganisation seiner Stadt abgeschnitten war, musste es eine komplette eigene soziale Organisation schaffen, und insofern findet man in jedem eine ausgedehnte Verwaltung vor. Aber in keinem anderen Getto nahm es solche Dimensionen an wie in Lodz. Drittens folgt hieraus, dass in keinem anderen Getto das Schicksal des einzelnen Getto-Insassen so sehr von den Aktivitäten und der Sozialpolitik des Judenrats abhing wie hier. Viertens folgt wiederum hieraus, dass in keinem anderen Getto der Unwille der Insassen sich so sehr gegen die eigene Führung richtete wie in Lodz. Im Gegensatz zu anderen Gettos gab es auch kein kommunales politisches Leben von Parteien oder Verbänden, in denen unterschiedliche Meinungen sich hätten artikulieren können. Fünftens war Lodz das klassische Beispiel für ein Arbeits-Getto, dessen industrielle Produkton und Potential einen Platz in den Plänen der deutschen Kriegsökonomie okkupierte. Mit seinem hohen Anteil ausgebildeter Arbeiter und Handwerker verschiedener Branchen war es sehr gut geeignet, Rumkowskis Ideologie von der Rettung durch Arbeit Auftrieb zu geben.

Rumkowski

Zu Trunks Analysen sollte man noch ergänzen, dass die exponierte Stellung Rumkowskis auch insoweit für die Deutschen bequem war, als sie den Unmut der Getto-Insassen auf sich zog. Die deutschen Täter verschwanden hinter Rumkowski. Dawid Sierakowiak und Chaim Kaplan beispielsweise schimpfen in ihren Tagebüchern mehr über ihren jeweiligen Judenrat als auf die Deutschen und sehen die Juden als ihre eigenen Henker.

Kaplans Befund, dass der Judenrat „nicht dasselbe wie unser traditioneller Jüdischer Gemeinderat [ist], der so glänzende Kapitel in unserer Geschichte geschrieben hat“, ist noch freundlich. Für ihn sind die Mitglieder des Judenrats nicht nur „Fremde in unserer Mitte“ und „geistige Nullen, die in normalen Zeiten niemand kannte“, sondern auch „Gewaltmenschen“, bei denen er an dieser Stelle immerhin noch berücksichtigt, dass sie „von Fremden über uns gesetzt wurden“. An anderer Stelle unterstellt er dem Judenrat nicht nur, dass dieser mit der Zwangsarbeit „ein schönes Geschäft“ macht, sondern er setzt ihn auch mit den Deutschen gleich. Beide seien „Entartete“, beide stünden „auf demselben sittlichen Niveau“. „Nach dem Nazi-Blutegel kommt der Judenrat-Blutegel. Es besteht kein Unterschied zwischen den beiden, außer dem der Rasse.“ Ein von ihm festgehaltener populärer Witz des Gettos macht den Judenrat und die jüdische Selbsthilfe für den Untergang der Juden verantwortlich.

Zu Beginn hält Kaplan noch fest, dass der Judenrat „auf Geheiß des Eroberers Regierungsfunktionen einer Art übernehmen [muss], auf die er nie gefaßt war.“ Er scheint auch Mitleid mit dem „müde[n] und geplagte[n] Judenrat“ zu empfinden, moniert aber sogleich, dass Czerniakow sich „als Führer“ aufspiele, sich keinem beuge und „auch in Parteisachen nicht zartfühlend“ sei. Der Fokus schwenkt sogleich auf die Manifestationen deutscher Macht um. Die Einführung einer Kopfsteuer wird Czerniakow angelastet.

Erste Gerüchte über Czerniakows Selbstmord, fast zwei Jahre vor seinem tatsächlichen Suizid, sind ihm Anlass zu Spekulationen darüber, was Czerniakow in den Tod getrieben haben könnte: „Es ist sehr zweifelhaft, ob Czerniakows Sorge und Schmerz über das allgemeine Unglück so groß ist, daß ihm das Herz bricht, ganz zu schweigen davon, daß er deswegen in eine so tiefe Depression verfallen sollte, sich das Leben zu nehmen.“ Als Czerniakow sich dann tatsächlich umbringt, wird Kaplan versöhnlich. Sein Ende beweise, „daß er für das Wohl seines Volkes wirkte und arbeitete“, und mit dem Suizid habe er „den einzigen seiner selbst würdigen Weg“ gefunden.

Sierakowiak geht mit Rumkowski ungleich härter ins Gericht. Verschiedentlich beschimpft er ihn hasserfüllt als ,perversen Verrückten‘ und vergleicht ihn, nachdem er eine Rede gehalten hat, mit Adolf Hitler. Er geht davon aus, dass Rumkowski über die Instrumente der öffentlichen Wohlfahrt sowie über die Erhöhung der Produktivität die Juden des Gettos auspressen will. Also gerade das, was Rumkowskis besondere Leistung ist, wird diesem zum Vorwurf gemacht. Nur an einer Stelle kommen Zweifel auf. Angesichts einer erneuten Verschiebung der Ausgabe der nächsten Essensration kommt Sierakowiak auf den Gedanken, dass Rumkowski entweder „tatsächlich komplett verrückt“ geworden ist – oder „dass die Deutschen wirklich kein Essen ins Getto schicken“. Letztere verantwortlich zu machen scheint ihm ferner zu liegen als davon auszugehen, dass Rumkowski auf Kosten der übrigen Juden ausreichende Nahrungslieferungen lieber für sich und seinesgleichen zurückhält. Wenn er sagt, dass „Verrückte, Perverse und Kriminelle wie Rumkowski über uns herrschen“, dann geht Sierakowiak davon aus, dass der Ältestenrat tatsächlich die Geschicke des Gettos bestimmt. Dies verbindet er an einer Stelle mit seinem wiederholt geäußerten Entsetzen darüber, dass Juden einander nicht nur indirekt umbringen, sondern einander auch unmittelbar quälen und hinrichten. „Kein Wunder, dass die Deutschen sich nicht in die Getto-Angelegenheiten einmischen wollen: Die Juden werden einander ganz hervorragend töten, und in der Zwischenzeit werden sie auch noch ein Maximum an Produktion auseinander rausquetschen.“ Wenn zwei Männer erhängt werden, dann vollziehen „natürlich Juden die Hinrichtung“. Nur an einer Stelle eröffnet sich ihm die Wahrheit, die er dann aber gleich kongenial auf den Punkt bringt: „… die teuflische deutsche Idee: Die Getto-Juden werden andere Juden verurteilen und erhängen! Deutsche sind Deutsche!“

Diese Verkehrung wurde von den Deutschen vielleicht nicht mit Absicht implementiert, aber ihr Nutzen dürfte ihnen aufgegangen sein. Sie nützte ihnen aber nicht nur bei der unmittelbaren Vernichtung der Juden. Des Weiteren depravierte sie ihre Opfer nochmalig. Die Lebens-/Sterbensumstände, die die Deutschen den Juden aufzwangen, sollten nicht nur tödlich, sondern gleichzeitig auch demütigend bis zur vollständigen Auslöschung des Humanen sein. Der Vorgang der Vernichtung der Juden bestand nicht nur darin, Menschen einfach von der Erde zu tilgen. Der Weg zur Vernichtung hatte seine Dauer, die nicht immer nur aus technischen Umständen heraus zu erklären ist. Der Weg war häufig zu lang für die von Kulturkritikern viel gerühmte reine ,Rationalität und Effizienz‘ der Vernichtung, und er war voller symbolischer Handlungen. Zum dritten korrespondiert diese Verkehrung der Art und Weise, wie die Deutschen sich selbst sehen wollten: nämlich trotz aller Härten sauber und anständig geblieben zu sein in der Vernichtung der europäischen Juden. Dies gelang ihnen bei den Gettos noch besser als bei den Massenerschießungen der Einsatzgruppen, für die Himmler seine berühmten Reden hielt, und als bei den Vergasungen. „Unsere Aufgabe war es ja, das Getto zu erhalten“, wiederholte gut 30 Jahre später stereotyp Franz Grassler, Assessor bei Heinz Auerswald, dem „Kommissar für den jüdischen Wohnbezirk“, sprich des Warschauer Gettos, in dem Film „Shoah“ auf Claude Lanzmanns fassungslose Fragen hin. Die Sicht der Opfer deckt sich hier erschreckenderweise mit der Wunschselbstsicht der Täter.

Und sie wirkt auch nach dem Holocaust noch fort. Dass die Opfer es vielleicht nicht anders sehen konnten, dies mag man angesichts der objektiven Verkehrung nachvollziehen können, aber die Historiker des Holocaust sollten Ruhe und Distanz genug haben und selbstkritisch genug gegenüber dem eigenen Vorgehen sein, um dies zu verhindern. Statt dessen rief sie immer wieder die Täter-Perspektive als die einzig richtige und mögliche aus, um den Holocaust zu beschreiben und kaprizierte sich im Besonderen (und in unserem Fall) immer wieder auf Rumkowskis angeblich verwerfliches Verhalten. Dabei kann eine Täter-zentrierte Historiografie nicht die Bereiche in den Blick bekommen, aus denen die Täter sich herausstrichen. Dies wirkt seit Kriegsende auch in den kulturkritischen Debatten von Hannah Arendt, Bruno Bettelheim und Viktor Frankl bis Zygmunt Bauman und Giorgio Agamben über die moralische Bewertung des Verhaltens der Judenräte und der Juden in den Lagern in der so genannten „Grauzone“ fort, wo die Täter sich den Opfern angeblich angeglichen hätten.

Der Beitrag der israelischen Historikerin Michal Unger positioniert sich quer zu einer solchen Perspektive. Sie bemüht sich um eine Neueinschätzung der Person Rumkowskis. In den letzten 15 Jahren hat sie verschiedene Aufsätze zu Gettos im allgemeinen und zum Getto Lodz im Besonderen publiziert. Ihre Doktorarbeit über das Getto Lodz gibt es nichtmals auf Englisch, sondern nur auf Hebräisch. Als weitere Binnenperspektive aus dem Getto Lodz sind die von ihr herausgegebenen Notizen von Josef Zelkowicz zu empfehlen.

Ungers Kurzbiografie von Rumkowski kann man entnehmen, dass dieser bereits vor seiner Zwangsernennung zum „Ältesten“ zionistisch engagiert war und sich insbesondere für Waisenkinder einsetzte. Aber es gibt auch andere Eigenschaften, aus seinem Leben vor dem Getto, die später prägnant hervortraten: Einerseits wird er als aggressiv dominant beschrieben, als gierig nach Ehre und Macht, als vulgär, ignorant und impulsiv. Andererseits trat sein außergewöhnliches organisatorisches Talent schon früh hervor, wurde an ihm gelobt, dass er sich schnell und energetisch seinen Aufgaben widmete.

Unger stellt klar, dass Rumkowski sich als „Ältester“ an einer Stelle befand, um die er sich nicht bemüht hatte. Er stieg auf, weil kein anderer mehr da war. Die ursprünglichen jüdischen Gemeindevertreter Lodz’ waren vor den Deutschen in die Sowjetunion geflohen, und die meisten von denen, die den Deutschen noch zur Verfügung standen, wurden erschossen. Die Gerüchte, Rumkowski habe zum „Ältesten“ ernannt werden wollen, bezeichnet Unger als „Rückprojektion“. Für die Gerüchte, er sei dafür verantwortlich, dass die anderen Mitglieder des ersten Judenrats erschossen wurde, gebe es keinen Beleg. Statt dessen kann man nachweisen, dass er sich um ihre Freilassung bemühte, so lange sie noch in Haft und noch nicht ermordert waren. Rumkowski stand einfach an einer Position, an die kein anderer mehr wollte, und die Deutschen ließen ihm keine Wahl.

Als Signum seiner Megalo- und Egomanie gilt das weitgehend nutzlose Getto-Geld, auf das sein Konterfei gedruckt war. Aber weder die Erfindung noch die Gestaltung dieses Geldes war seine Erfindung, klärt Unger auf. Auch der Vorwurf, im September 1942 rund 40 Rabbiner aus Machtbesessenheit an die Deutschen überstellt zu haben, weist sie als historisch haltlos zurück. Tatsächlich habe er versucht, die Rabbiner zu retten. Für Unger war Rumkowski nur eine „Puppe“ in den Händen der Deutschen, hinter die die eigentlichen Machthaber und Mörder aber zurücktreten konnten. Nach ihrer Ansicht haben die Deutschen Rumkowski bewusst als Blitzableiter genutzt.

Es ist richtig, dass Rumkowski selber die von den Deutschen geforderten Selektionen unter den Getto-Bewohnern vornahm. In diesem Zusammenhang gibt es einige berühmte Sätze Rumkowskis, wie den, dass er einige Körperteile zu opfern habe, um den Rest des Körpers zu retten. Dass er die Selektionen vornahm, begründete er damit, dass er mit Mitleid tue, was die Deutschen mörderisch tun. Und hiermit hatte er Recht. Im Gegensatz zu Hannah Arendt, die – wie üblich ohne Ahnung von der Historie, aber mit dem souveränen Durchblick der an Martin Heidegger geschulten Kulturkritikerin – meint, dass die Führung der Juden „fast ohne Ausnahme auf die eine oder andere Weise, aus dem einen oder anderen Grund mit den Nazis zusammengearbeitet“ hätten. Und die deswegen meint, dass, „wäre das jüdische Volk wirklich führerlos gewesen“, die „Endlösung“ zwar „ein furchtbares Chaos und ein unerhörtes Elend bedeutet“, die Zahl der Opfer aber „schwerlich die Zahl von viereinhalb bis sechs Millionen Menschen erreicht“ hätte. Sie beruft sich auf die Schätzung Fülöp Freudigers, eines Mitglieds des Budapester Judenrats, dass sich „etwa die Hälfte“ der Juden hätte retten können, „wenn sie den Anweisungen des Judenrats nicht gefolgt wäre“, was zwar auch für sie „natürlich eine leere Schätzung“ ist, aber trotzdem einfach mal gesagt werden kann. Denn dass die Juden sich irgendwie auch selbst vernichtet hätten, oder, um es mit Zygmunt Bauman poetischer zu sagen, dass „[a]uf dem gewundenen Weg nach Auschwitz mit kundiger jüdischer Hand mehr als nur eine ,Brücke am Kwai‘ errichtet“ wurde, das kommt gut an. Als die jüdische Getto-Organisation von Lodz sich aber tatsächlich einmal verweigerte, da führten die Deutschen blutgetränkte Selektionen selber durch, bei denen hunderte Juden getötet wurden, zusätzlich zu den 15.682, die abtransportiert wurden.

Rumkowski kalkulierte, dass die Deutschen in den Juden ihr Eigeninteresse sähen, wenn diese nur produktiv und fleißig genug arbeiteten. Die Rechnung, das Getto ökonomisch attraktiv zu machen und somit vor der Vernichtung zu bewahren, ging nicht auf. Er vertraute auf die Anthropologie des bürgerlichen Zeitalters, den homo oeconomicus, wusste aber eben so wenig wie andere (und konnte es auch nicht wissen), dass die Deutschen dem zuwider handeln, was zur zweiten Natur geworden war. Die Realisierung der Deutschen Revolution, die verschleierte Ungleichheit der bürgerlichen Gesellschaft abzuschaffen, um sie durch die Ehrlichkeit blanker Brutalität zu ersetzen, diese sehen viele bis heute nicht. Dass die Deutschen die rationalen Erwägungen ihrer Opfer für deren Vernichtung nutzten, dies spricht nicht gegen rationales Denken und Handeln, wie Bauman unterstellt, sondern gegen die, die diese Rationalität außer Kraft setzen. Unger bringt aber noch einen weiteren Aspekt mit in diese Debatte. Sie weist darauf hin, dass Rumkowski zwar permanent den Anteil der produktiv arbeitenden Menschen an der Getto-Gesamtbevölkerung erhöhte, dass er damit aber insgesamt die Produktivität senkte. Dies bedeutet, dass Rumkowskis blank ökonomische Kalkulation in Nicht-Rentabilität umschlug. Damit stellt sich aber die Frage, ob sein Arbeitsprogramm tatsächlich ausschließlich dazu da war, die Produktivität zu maximieren – oder ob es nicht eher dazu diente, möglichst viele Menschen unter den vermeintlichen Schutz von Produktionsstätten zu scharen. Ob er dies bewusst tat oder nicht, das weiß man nicht. Dieser Frage wäre aber des Weiteren nachzugehen.

Die Gettoverwaltung Litzmannstadt

Dass das Getto Lodz nicht rentabel arbeitete, dies haben vor einiger Zeit Götz Aly und Susanne Heim hervorgehoben. Die neue, umfangreiche Studie von Peter Klein bestätigt dies, sieht aber im Gegensatz zu Aly und Heim darin nicht den Grund für die Auflösung des Gettos durch die Vernichtung seiner Einwohner. Auch sei das Getto nicht wegen der Umsiedlungsmaßnahmen eingerichtet worden, die Aly und Heim zufolge stattfanden, um den osteuropäischen Wirtschaftsraum zu rationalisieren. Er sieht keine Interessensidentität von Reichsfinanzministerium und kommunalen Behörden, die ökonomisch rational aus einem Guss gehandelt hätten. Schon gar nicht habe es eine rationale und von oben aus gesteuerte Entschlussbildung und deren Umsetzung gegeben.

Klein beleuchtet das Handeln auf der Täterseite in einer bislang nicht gekannten Detailliertheit. Minutiös stellt er den Zugriff verschiedener Behörden und ziviler wie militärischer wie parteilicher Verwaltungsstellen auf verschiedensten Ebenen und mit unterschiedlichen Intentionen dar. Vor allem die Rolle von Hans Biebow, einem Bremer Großkaufmann, dem am 1. Mai 1940 die Leitung der Ernährungs- und Wirtschaftsstelle Getto der Stadtverwaltung Lodz übertragen wurde, wird stärker hervorgehoben als bisher. Klein gelingt eine Integration des Handelns von Akteuren auf der einen Seite mit dem Vorgehen von konkurrierenden polykratischen Zentren auf der anderen Seite. Es wird deutlich, dass die verschiedenen beteiligten Stellen ihre eigenen Absichten verfolgt haben mögen, in der Ausgrenzung, Ausbeutung und schließlich Vernichtung der Juden hingegen einig waren. Hierbei stützt er sich auf die Forschungen von Wolfgang Seibel et alii zu den so genannten Verfolgungsnetzwerken.

Hieran angelehnt macht er wie Aly deutlich, dass die Bedeutung der Akteure auf der Täterseite nicht davon abhing, welche Stellung in der Hierarchie sie innehatten, sondern allein vom Grad ihrer Aktivität auf politischer, informeller und Verwaltungsebene. Somit wird klar, dass die Apparate des Nationalsozialismus keine gewöhnlichen Verwaltungen waren, deren bürokratische Eigenlogik sich vollzogen habe, sondern flexible Netzwerke von engagierten Personen, die deswegen so erfolgreich waren, weil sie eigenverantwortlich handelnde Menschen anzogen, indem sie diesen ungeahnte Möglichkeiten eröffneten. Wie die so genannte ,neue Täterforschung‘ seit gut 15 Jahren immer wieder zeigt, gab es nur allgemeine Befehle, die bewusst vage gehalten wurden und von denen, die sich diese Erlasse zueigen machten (von „Befehlsempfängern“ kann hier kaum noch gesprochen werden), umgesetzt wurden, sowohl um unmittelbar eigene Interessen zu verfolgen wie auch längerfristig die eigenen Interessen mit denen des Führers harmonieren zu sehen.

In Kleins herausragender Mikrostudie wird all dies immer wieder deutlich, doch ist ihre Lektüre über weite Strecken eine Qual, weil ein reißender Strom von ständig neuen Erlassen, Anordnungen, Gesetzen, Dienststellen, Akteuren et cetera über den Leser hereinbricht, der deswegen schon mal kapitulieren mag. Dass Klein die Verwirrung, die die verfolgten Juden befallen haben muss, in kleinem und harmlosem Maßstab auch die Leser seines Buches spüren lässt, das wird der Autor wohl kaum beabsichtigt haben. Die Darstellung ist zwar geordnet, rauscht aber merkwürdigerweise an einem vorbei. Dass die Chance, in einen so merkwürdigen, komplizierten und ungewöhnlichen Bereich wie das Spannungsfeld, in dem der „verwaltete Mensch“ (H.G. Adler) stand, einen instruktiven Einblick zu geben, vertan wurde, das ist bedauerlich. Dass man bis heute in vielerlei Hinsicht nicht weiß, was die Deutschen bei der „Endlösung“ wie und warum gemacht haben, ist schwer zu ertragen. Weitere Forschungen sind also dringend nötig.

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Sascha Feuchert / Erwin Leibfried / Jörg Riecke (Hg.): Die Chronik des Gettos Lodz/Litzmannstadt. 5 Bände.
Wallstein Verlag, Göttingen 2007.
2600 Seiten, 128,00 EUR.
ISBN-13: 9783892448341

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Isaiah Trunk: Lodz Ghetto. A History.
Translated and edited by Robert Moses Shapiro, introduction by Israel Gutman.
Indiana University Press, Bloomington 2008.
495 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9780253219930

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Michal Unger: Reassessment of the Image of Mordechai Chaim Rumkowski.
Wallstein Verlag, Göttingen 2008.
55 Seiten, 5,00 EUR.
ISBN-13: 9783835302938

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Peter Klein: Die "Gettoverwaltung Litzmannstadt" 1940-1944. Eine Dienststelle im Spannungsfeld von Kommunalbürokratie und staatlicher Verfolgungspolitik.
Hamburger Edition, Hamburg 2009.
683 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783868542035

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