Kaleidoskop eines Landes

Hugo Claus’ opus magnum „Der Kummer von Belgien“ in einer neuen Übersetzung

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Der Kummer von Belgien“, 1983 unter dem Titel „Het verdriet van Belgie“ erstmals erschienen, – eine deutsche Übersetzung lag drei Jahre später bei Klett-Cotta unter dem Titel „Der Kummer von Flandern“ vor, 1999 folgte die Taschenbuchausgabe bei dtv – zählt zu den großen Werken der flämischen Literatur des letzten Jahrhunderts. Claude Goretta führte 1995 bei der Verfilmung des Romans Regie. Sein mit mehreren Preisen im In- und Ausland gewürdigter Autor, der Schriftsteller Hugo Claus, 1929 in Brügge geboren und hin und wieder auch als der belgische Günter Grass bezeichnet, zählte zu den wichtigsten Autoren Belgiens. Kurz vor seinem Tod im März 2008 erschien bei Klett Cotta eine neue Übersetzung seines Meisterwerks, vorgelegt von Waltraud Hüsmert.

„Der Kummer von Belgien“, dieses mehr als 800 Seiten starke opus magnum, das zu Recht mit Grass’ „Blechtrommel“ und Gabriel García Márquez „Hundert Jahre Einsamkeit“ verglichen wurde, erzählt in zwei unterschiedlich langen Teilen – meist aus der Sicht des kleinen flämischen Jungen Louis Seynaeve – die Lage in Belgien, das weniger als Land denn als ein „Zustand“ erscheint, wie es im Roman heißt, während der Jahre 1939 bis 1947.

In den insgesamt 27 Kapiteln des ersten Romanteils, mit knapp 300 Seiten nur wenig mehr als ein Drittel des Textes umfassend und mit „Der Kummer“ überschrieben, liegt der Fokus auf der Zeit des kleinen Louis in einem katholischen Internat, geleitet von strengen Ordensschwestern. Bis zum Beginn des Krieges verbringt der vorpubertäre Louis die meiste Zeit in diesem Internat mit seinen Freunden Byttebier, Dondeyne und Vlieghe, mit denen er den Geheimbund „Die vier Apostel“ gegründet hat, zu dem später noch Albert Goosens hinzustößt. Ab und zu erhält er Besuch von seinem Vater Staf und dessen Vater, meist nur „der Pate“ genannt.

Der Geheimbund sorgt sich um „verbotene Bücher“, wie „Liebe im Nebel“ oder „eine Biographie des Ketzers und Freimaurers G.B. Shaw“ sowie „Erzählungen aus der Südsee und ein Foto von Deanna Durbin im Unterrock, unanständig genug, um als Buch durchzugehen.“

Doch auch hinter den Klostermauern mit all ihren Beengungen und Bedrückungen, mit ihren teils merkwürdig bigotten oder verschrobenen Gestalten wie der umnachteten Schwester Sankt Gerolf oder dem stets schimpfenden Gärtner Baekelandt macht sich zunehmend die Bedrohung durch die Nazis bemerkbar. So droht der von den „Aposteln“ wiederholt geneckte Gärtner Baekelandt: „Ihr könnt froh sein, dass ihr nich in Deutschland geboren seid, ihr Hosenschisser. Dort müssen die Kinder morgens büffeln und nachmittags beim Bauern schaffen. Dann hättet ihr beim Kartoffelsetzen helfen können, bei der Roggenernte und beim Ställeausmisten. So läuft das in Deutschland, und deshalb siegen sie. Mir macht keiner was vor über die Deutschen, es sind Lumpenhunde, aber sie wissen, was sie wollen, ihr Land is in Ordnung, die Leute haben Arbeit. Die Belgier dagegen, die folgen dem schlechten Beispiel der Franzosen, nie zufrieden, streiken und stempeln gehen. Denen geht’s zu gut, das is meine Meinung.“ Oder, wenn Schwester Imelda betont: „Man kann von den Deutschen sagen, was man will, und unsere Kirche hat es nicht leicht in Deutschland, aber die Kommunisten, die halten sie immerhin in Schach.“

Nach Kriegsbeginn wird Louis, mit einer großen Zahl von Verwandten mit einem weitverzweigten Freundes- und Bekanntenkreis gesegnet, von seinen Eltern nach Hause in die flämische Kleinstadt Walle geholt.

Im zweiten, über 500 Seiten umfassenden und schlicht mit „Von Belgien“ überschriebenen Teil, sind es eine Vielzahl von Episoden und Szenen, in denen Claus ein schillerndes Kaleidoskop eines Landes und seiner Menschen zwischen Angst, Angepasstheit und verhaltenem Renegatentum zeichnet.

Nach den homoerotisch geprägten ersten sexuellen Erfahrungen im Klosterinternat kommt Louis, der kurzzeitig aus Protest gegen seinen schwachen Vater Staf der Nationaal-Socialistischen Jeugd in Vlaanderen beitritt, im zweiten Teil schließlich auch mehrfach mit dem weiblichen Geschlecht in Berührung. Auch die Ernüchterung über die Nazis setzt alsbald ein: „Als Trupps deutscher Soldaten durch die Leiestraat und über den Grote Markt marschierten, fand Louis nur mühsam zu dem aufregenden Gefühl der Anfangszeit zurück, einem Gemisch aus Angst und Begeisterung, als sie, alle im gleichen Alter, alle mit dem gleichen bronzefarbenen Gesicht (Jungen eigentlich, etwas älter als er), in die Stadt Walle eingerückt waren.“

Am Ende – basierend auf der Lüge, die bei einem Schreibwettbewerb „um die beste Erzählung über den Krieg“ eingereichte Novelle stamme von seinem im KZ umgekommenen Bruder – wird Louis zum Schriftsteller: „Der Kummer, das ist ein guter Titel. Andererseits… irgendwas fehlt. Es ist… es ist… so kahl. Jeder Mensch hat Kummer. Warum nennen Sie es nicht Kummer ums Vaterland“, empfiehlt ihm der Sekretär eines Schreibwettbewerbs. „,Ich mach oft die Titel für unsere Hauszeitschrift und …‘ ‚ich weiß nicht, ob mein Bruder damit einverstanden wäre.‘ ‚Oder schlicht und einfach Der Kummer von Belgien. Auf Englisch: The sorrow of Belgium. Wenn Sie mit diesem Titel den Preis gewinnen, können Sie sich ja erkenntlich zeigen.‘“

Hugo Claus’ „Der Kummer von Belgien“ ist ein vielschichtiges, lakonisch pointenreiches Buch, das eindrücklich zeigt, warum sein Autor, der auch als Dramatiker, Drehbuchschreiber und als Maler der surrealistischen Künstlergruppe Cobra erfolgreich war, einst auch als Nobelpreiskandidat gehandelt wurde. Seine Lektüre bereitet gewiss alles andere als Kummer.

Titelbild

Hugo Claus: Der Kummer von Belgien. Roman.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Waltraut Hüsmert.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2008.
824 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-13: 9783608936001

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