Digitales Schreiben

Das Handbuch „Reading Moving Letters“ könnte in Sachen „Netzliteratur“ so manches bewegen

Von Renate GiacomuzziRSS-Newsfeed neuer Artikel von Renate Giacomuzzi

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Wintersemester 2004 startete eine von Roberto Simanowski initiierte Kooperation zwischen der Abteilung für „German Studies“ an der Brown University in Providence mit Peter Gendolla und Jörgen Schäfer von der Forschungsgruppe „Literature on the Net / Net Literature“ an der Universität Siegen. Im Herbst 2004 und im Frühjahr 2005 fand eine Lehrveranstaltungsreihe zu „Digital Literatur in Research and Teaching“ an der Brown University statt. Im Wintersemester 20006/2007 folgte eine Blockveranstaltung in Siegen zu „Digital Literature and Art. Close readings“ und im Herbst 2008 schlossen sich die Kooperationspartner schlussendlich online zusammen: Die Teilnehmer des Seminars „Digitale Literatur und Kunst II“, das parallel an beiden Universitäten gehalten wurde, kommunizierten in einem Diskussionsforum und tauschten auch ihre Ergebnisse via Internet aus.

Dass dieser Zusammenschluss zweier Institutionen, die – was die Erforschung Digitaler Literatur angeht – von Beginn an richtungsweisend waren, nicht nur für die Studierenden sondern auch für Forschung und Bildung fruchtbar verlief, zeigt das nun vorliegende, von Roberto Simanowski, Jörgen Schäfer und Peter Gendolla herausgegebene „Handbook“ mit dem Titel „Reading Moving Letters. Digital Literature in Research and Teaching“ (transcript Verlag 2010). Umso bedauerlicher ist es, dass die in den letzten Jahren durchgeführten Hochschulreformen der Erforschung und Vermittlung von dieser abseits des Kanons liegenden beziehungsweise (noch) nicht kanonfähigen literarischen und künstlerischen Ausdrucksform kaum mehr Platz einzuräumen scheinen: „We will not be able to discuss the – to our minds disastrous – results of these reforms here, but we would like to abide by the opinion that these reforms do already have a deep impact on the everyday teaching practice in general and on the teaching of literature in particular“ , heißt es im Band. Das Fazit, das Roberto Simanowski zu dieser Frage aus seinen Erfahrungen an der Brown-University zieht, verweist auf ähnliche Entwicklungen: „If the department realizes all the administrative difficulties and professional consequences of designing interdisciplinary and interdepartmental courses, it will rethink its aspirations to shake up the order of disciplines and refocus on classical, canonized content.“

Der Verzicht auf die Beschäftigung mit dem unter verschiedenen Termini laufenden Genre „Digitale Literatur“ oder „Netz Literatur“ mag dem Großteil von Literaturwissenschaftlern, ‚Bildungsplanern‘ und Studierenden kaum schwer fallen, hat doch die Mehrheit kaum eine Vorstellung davon, was sich konkret hinter diesen Begriffen verbirgt. Doch auch mancher Insider oder wohlwollender Betrachter jener Forscher-Community, die sich Mitte der 1990er-Jahre mit Überzeugung auf die zarten Keime stürzte, welche Literatur und Kunst im digitalen und vernetzen Medium trieben, mag sich heute fragen, warum und wozu man ausgerechnet ein Genre in die vollgestopften Curricula aufnehmen soll, dessen Höhepunkt bereits in den ersten Jahren dieses Jahrtausends überwunden schien und das wenig Hoffnung auf eine prosperierende Zukunft zu geben scheint. (Dass der beispielsweise 2002 von Peterson/Saltzwedel propagierte ‚Tod der Netzliteratur‘ ein Problem der öffentlichen Wahrnehmung und nicht der aktuellen Produktivität und Qualität des Genres ist, hat bereits Florian Hartling nachgewiesen. Wissenschaftliche Literatur mit Definitionsvorschlägen und Theorieangeboten, die das Herangehen an die in unterschiedlichen Formen und Formaten auftretenden Werke erleichtern, begleitet das Genre seit seiner Entstehung. Erst im Herbst 2009 erschien die umfassende Zusammenschau von Florian Hartling unter dem Titel „Der digitale Autor“. Der englischsprachige Bereich wird über die „Electronic Literature Organization“ (ELO) an der University of Maryland (Maryland Institute for Technology in the Humanities) sorgsam gepflegt und aufbewahrt. Vergleichbares fehlt zwar bislang für den deutschsprachigen Raum, doch Roberto Simanowski verweist auf die vorherrschende Rolle der englischen Sprache in diesem Bereich: „Works of digital literature very often use English as the lingua franca in accordance to the increasing importance of globally accessible cultural expressions and to the decreasing role of language in digital literature. […] „many examples of digital literature by Germans, for instance, are not in German“.

Warum also hat man sich angesichts der Fülle von Forschungsarbeiten und –projekten nun nochmals mit einer Publikation an die Öffentlichkeit gewandt, deren erklärtes Ziel es ist, Grundlagen und Anregungen für den Unterricht mit Netzliteratur und -kunst zu bieten? Die Antwort auf diese Frage wird von allen im Band vertretenen AutorInnen sehr ernst genommen und es wird auch deutlich, dass es hierbei nicht um die Pflege eines elitären Forschungsgebiets geht, sondern um die Überzeugung, dass die Erforschung und Vermittlung digitaler Literatur und Kunst integraler Bestandteil gegenwärtiger und zukünftiger Bildungsarbeit sein muss, denn „Teaching digital literature is not just the continuation of teaching conventional literature with other means; it aims at making the student fit for the 21th century multi-media society and it starts with making the teacher fit for meeting her students.“

Auf die von Noah Wardrip-Fruin gestellte Ausgangsfrage“ What do we need to read, to interpret, when we read digital literature“ ? bietet der Band eine Fülle von Material, das auch für jene, die bis dato die nicht ganz einfache Beschäftigung mit den ein gewisses Vorwissen und Erfahrung voraussetzenden Formen des Genres gescheut oder gemieden haben, nützlich/brauchbar/interessant erscheint.

Der Band gliedert sich in zwei Teile. Der erste („Reading Digital Literature“) enthält zehn Beiträge, die sich allgemein mit dem Genre „Digitale Literatur“ auseinandersetzen und von verschiedenen Perspektiven ausgehend Definitionsvorschläge anbieten. Dies mag angesichts der Fülle der dieser Publikation vorausgegangenen Forschungsliteratur als Neuaufguss bereits bekannter Ergebnisse wirken, sei es der Vorschlag von Roberto Simanowski zur Unterscheidung von „digitalisierter“ und „digitaler Literatur“ oder die dieser Definition gegenübergestellte Begründung für die Wahl des Terminus „Netzliteratur“ von Gendolla/Schäfer („Speaking of ‚digital literature‘ is a tautological argument that ignores the peculiarities of human perception and cognition.“) als auch das von Wardrip-Fruin vorgeschlagene „five-part model“, das die wesentlichen Aspekte zusammenfasst, die für das Verständnis der Werke maßgeblich sind.

Doch die Leistung dieses ersten Teils liegt gerade in der nochmaligen Zuwendung auf Fragestellungen, die zwar in ähnlicher Form schon früher gestellt worden waren, aber dank der heutigen Distanz und dem damit einhergehenden Überblick eine fundierte Zusammenschau der bislang erreichten Erkenntnisse bieten. Damit ist die Basis geschaffen, um im zweiten Teil („Teaching Digital Literature“) das eigentliche Anliegen dieses Buchprojekts verwirklichen zu können, nämlich konkret auf die Frage einzugehen, warum und wie dieses Genre unterrichtet werden kann. Die hier aufgezeigten Erfahrungen aus Unterrichtsprojekten und die Interpretationsbeispiele von einzelnen Werken werden nicht nur von denselben Autoren wie im ersten Teil, sondern auch in derselben Reihenfolge geboten, was zu einem nicht-linearen Lektüreverfahren verleiten kann, wenn man nach dem anfänglich konventionellen Start in das Werk jeweils einen/eine AutorIn oder ein Autorenteam wählt und den jeweils praktischen Teil als Ergänzung zum theoretischen liest.

Ein weniger von unmittelbarer Befriedigung des Bedürfnisses nach praktischer Anschauung ausgehendes Leseverhalten mag mit Sicherheit ebenso nachhaltige Befriedung bieten, doch bleibt bei beiden Varianten ein Bedürfnis ungestillt, das uns die Papierform verweigert: der schnelle Klick auf die Internetadressen, die doch manches Geheimnis der vorgestellten Werke lüften könnten, deren Form und Inhalt auch über die Beschreibungen meist nur dürftig zu erahnen sind. Solche digitalen Verweise, wie sie beispielsweise Katherine Hayles in ihrem Buch „Electronic Literature. New Horizons for the Literary“ (2008) angeboten hat, wären willkommen gewesen. Hilfreich wäre auch ein gemeinsames Werkverzeichnis zu der zitierten Netzliteratur/-kunst inklusive Seitenverweise gewesen, da gewisse Standardwerke wie „Text Rain“ (1999) von Camille Utterbeck und Romy Achituv in mehreren Beiträgen besprochen werden und der Band ja durchaus auch als Interpretationshilfe zu einzelnen Werken dient und dienen will: „There are hardly any thorough interpretations or commentaries by critics available yet so that students are left completely on their own, unable to confirm the validity and persuasiveness of their readings.“

Doch die hier angeführten Mängel schmälern die Leistung dieses Bandes nicht wesentlich, der nicht zuletzt auch Einblicke über die englisch- und deutschen Sprachgrenzen hinaus gibt in die hierzulande weitestgehend unbekannte digitale Literatur- und Forschungsszene in Spanien und Slowenien. So zeigt Janez Strehovec die aus der spezifischen Situation Sloweniens erwachsende politische Dimension von Netzkunst und -literatur auf, die nicht den im bildungspolitischen Vordergrund stehenden nationalen Bezug aufweise und damit nicht förderungswürdig sei. Dass die Beschäftigung mit digitalen Kunstformen förderungsbedürftig ist, man also ohne entsprechende institutionelle und ökonomische Rahmenbedingungen besser die Finger davon lässt, zeigen die Beiträge von Wardrip-Fruin, Gendolla/Schäfer, John Zürn und Raine Koskimaa deutlich, wobei die ersten beiden auf die nötige interdisziplinäre Vorgehensweise, nämlich eine Zusammenarbeit mit technischen Studiengängen wie Informatik und Medientechnologie pochen, da allein damit das Verständnis der von Wardrip-Fruin als „process-intensive“ bezeichneten Formen ermöglicht werden kann, also jener Werke, die vorwiegend über „algorithms, equations, and branches“ konstruiert sind – im Gegensatz zu „data-intensive maps“, in denen vor allem Text-, Bild- und Tondateien bewegt werden.

Technisches Fachwissen versetzt Studierende nicht nur in die Lage, mit Programmierern einen konstruktiven Austausch über Fragen zu pflegen, die das jeweilig zu interpretierende Werk betreffen, sondern ist auch für das Werkverständnis unverzichtbar, da allein damit intendierte (also programmierte) Abläufe von ungewollten Fehlern unterschieden werden können („If we take into account the instability of the digital device discussed above and its influence on the updating of a poetic work, we can go even further and assume that a critic may sometimes mistakenly consider a phenomenon acutally due to a bug as a figure! “ schrieb Alesandra Saemmer. John Zürn zeigt in seinem Beitrag auf, wie die Komparatistik sich an das Thema von einem genuin komparatistischen Ansatz her nähern könnte, indem er der ‚digitalen Sprache‘ denselben Status einräumt, den die ‚Nationalsprachen‘ innerhalb der Komparatistik einnehmen: „Clearly we must endeavor to learn as much as we can about codes and processes that comprise digital textuality; such knowledge is analogous to the language mastery required fort he traditional literary critic.“ Und auch Raine Kooskima verweist auf die Notwendigkeit eines technischen Basiswissens für Literaturwissenschaftler, denn „Without this sort of understanding, it is impossible to establish an accurate description of the given work (for example, if the work is dynamic only in combinatorial sense, or if new content may be generated during the reading process, or if the work is trapped in a loop or just imitates loop-effects through certain circular structures.“

Ob die Hoffnung, dass sich interdisziplinär aufgebaute Studiengänge wie das Masterstudium „Degree Program in Digital Culture“ an der University of Jyväskylä auch in dem engen Korsett der Bologna-Reform an europäischen Hochschulen entwickeln könnten, bleibt dahingestellt. Wem es bisher an Argumenten für die Sinnhaftigkeit einer solchen Entwicklung mangelte, findet in dem besprochenen Band einen reichen Fundus. Parallel zu dem hier besprochenen Buch erschien übrigens der ebenfalls von Jörgen Schäfer und Peter Gendolla herausgegebene umfangreiche Tagungsband „Beyond the Screen“ (2010), der die vom 21. bis 22. November 2008 an der Universität Siegen stattgefundene Tagung „Beyond the Screen: Transformations of Literary Structures, Interfaces and Genres“ dokumentiert. Hier geht es vor allem um die Konfrontation bestehender Theoriemodelle und Herangehensweisen mit komplexeren computerbasierten Formen, die etwa als 3D-Installationen auftreten und / oder sich interaktiv via Körper-Immersion realisieren oder gar als „Local Narratives“ über das Globale Navigationssatellitensystem (GPS) in den ‚realen‘ Raum eintreten. Neben der Frage nach der spezifischen literarischen Dimension dieser Formen geht es nicht zuletzt auch um die Frage, welche Möglichkeiten der Archivierung und Edition von performativen Kunst-, Literatur-, Spiel- oder Netzwerkformen denkbar und praktikabel sind.

Titelbild

Jörgen Schäfer / Peter Gendolla (Hg.): Beyond the screen. Transformations of literary structures, interfaces and genres.
Transcript Verlag, Bielefeld 2010.
567 Seiten, 44,80 EUR.
ISBN-13: 9783837612585

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Roberto Simanowski / Jörgen Schäfer / Peter Gendolla (Hg.): Reading moving letters. Digital literature in research and teaching ; a handbook.
Transcript Verlag, Bielefeld 2010.
380 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-13: 9783837611304

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