Was alle übersehen haben: Der Mord war real

Die anthropologische Theorie René Girards geht über die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Gewalt weit hinaus

Von Laslo ScholtzeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laslo Scholtze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ist es möglich, die Ursprünge und die Entstehung menschlicher Kultur zu erklären? Der Geisteswissenschaftler und Kulturanthropologe René Girard gibt darauf eine klare Antwort: ja. Seine Theorie kennt weder postmoderne Relativierung noch einzelwissenschaftliche Bescheidenheit. Sie geht aufs Ganze und erklärt die Hominisation, das Erscheinen des Menschen als kulturelles Wesen aus zwei grundlegenden Prinzipien – dem mimetischen Begehren und dem Sündenbockmechanismus.

Eine ihrer zentralen Fragen lautet: Wie kann eine Gruppe ihr eigenes Gewaltpotential kontrollieren, das stets zur selbstzerstörerischen Eskalation neigt. Vor dem Erscheinen des Menschen in der Tierwelt regelten sich die Verhältnisse innerhalb einer Spezies nach dem Prinzip der Dominanz. Dabei ließ der Sieger im Rivalenkampf in aller Regel den Unterlegenen am Leben. Erst die menschliche Spezies hat Waffen wie Steine und Knüppel zur Hand, deren Zerstörungskraft nicht mehr durch eine biologische Hemmung kontrolliert werden kann: Wir tragen das Kainsmal gewissermaßen als Gattungszeichen auf der Stirn.

Ursache für die spezifische Gewalt zwischen Menschen ist, so Girard, das „mimetische Begehren“. Schon Aristoteles stellte in seiner „Poetik“ fest: „Der Mensch unterscheidet sich von anderen Lebewesen darin, dass er am nachahmungsfähigsten ist“. Girards „mimetischer Theorie“ zufolge hat unser Begehren seinen Ursprung weder in uns noch im begehrten Objekt, sondern in der Nachahmung des Begehrens unserer Vorbilder. Zwangsläufig müssen diese „Vermittler“ zu Rivalen werden. Die anthropologische Konstante lautet sinngemäß: Du musst begehren, was Deines Nächsten ist! Konkurrenz als erste conditio humana, die eine prinzipiell grenzenlose, sich wechselseitig verstärkende Rivalität hervorbringt.

Da diese Affekte laut Girard höchst „ansteckend“ sind, kommt es unweigerlich zum Ausbruch, zur „mimetischen Krise“; die gesamte Gruppe droht im gewalttätigen Chaos unterzugehen. Doch zuvor setzt ein rettender, grausamer Mechanismus ein: Die kollektive Gewalt bündelt sich und richtet sich auf ein einziges Mitglied der Gruppe, dem die Schuld für das Chaos gegeben wird. „Dieselben menschlichen Wesen, die gerade nicht aufhören konnten zu kämpfen, da sie dasselbe Begehren teilten, teilen nun denselben Widersacher und denselben Hass.“ In Einmütigkeit entlädt sich ihre Gewalt am Opfer. Die Gewalt verschwindet, die Einmütigkeit bleibt.

Die mimetische Krise hat die Gruppenangehörigen also letztlich zu Verbündeten gemacht. Nach der Gewaltorgie sieht sich der Lynchmob in Wahl und Tat bestätigt: Die Tötung des Opfers hat die Gewalt aus der Gruppe verbannt. Das scheint die Schuld des Opfers zu bestätigen, die nun als gerächt und getilgt angesehen wird. Genau darin zeigt das Opfer aber auch eine wundersame, quasi göttliche Macht: Es vermag die Gewalt zu beenden und die Gruppe vom mimetischen Wahn zu reinigen.. Daher ist das Opfer sacer, das heißt schändlich, unrein und heilig zugleich.

Doch der Frieden währt nur kurz, denn die mimetische Rivalität schwelt weiterhin. Früher oder später kommt sie wieder zum Ausbruch. Und abermals erweist sich die Tötung eines Opfers als wirksam. „Dies ist die Geburtsstunde der wichtigsten religiösen Institution der Menschheit – die Geburtsstunde des Ritualopfers“. Um das Ritualopfer herum bildet sich ein organisierendes und stabilisierendes System von Regeln und Verboten, das die mimetischen Konflikte vermeiden und unterdrücken soll. Damit kommt Girards Enthüllung dessen, was „seit Beginn der Welt verborgen“ ist, zu ihrem vorläufigen Ende: Die archaischen Religionen, in deren Zentrum der Opfermechanismus der Ermordung und anschließenden Vergöttlichung des Sündenbocks steht, sind der Anfang der menschlichen Kulturentwicklung. Die archaischen Götter sind also nicht die fantasievolle Erfindung eines angstvoll-ohnmächtigen Schauderns angesichts der Naturgewalten, sondern die in den Stand sakraler Gesetzgeber erhobenen Opfer der kollektiven „Gründungsgewalt“.

In den Mythen hat der Mob die Deutungshoheit

Girard entdeckt dieses Opfer- beziehungsweise Sündenbock-Schema in den Mythen aller archaischen Religionen, antike Mythologien eingeschlossen. Allerdings geben die mythischen Geschichten das Opfergeschehen systematisch verzerrt wieder. Warum? Weil es sich um die Perspektive des Mobs handelt und der berichtet so, „wie man es von einem Haufen reueloser Mörder erwarten darf“. Das bedeutet keinesfalls, dass sich das Täterkollektiv seiner Rolle bewusst wäre, im Gegenteil, es glaubt wirklich daran, dass das Opfer schuldig ist, die Gemeinschaft existentiell bedroht hat und deshalb zu Recht bestraft wurde.

Häufig sind die Anschuldigungen des Mobs einerseits stereotyp (Inzest, Vatermord, Sodomie, Kindesmord oder allgemein die Bedrohung der Gemeinschaft), andererseits unlogisch und fantastisch: Dem Opfer werden Tötungen durch den „Bösen Blick“ angelastet oder die Schuld für Katastrophen oder Seuchen. Beispiel „Ödipus“: Er tötet den Vater, freit die Mutter und verursacht durch diese Schandtaten die Pest in Theben, die erst durch seine Verstoßung wieder verschwindet. Zwar schildert ihn Sophokles als tragischen Helden, aber dennoch als denjenigen, der durch Blutschande die Katastrophe unbewusst verschuldet. Für Girard ist Ödipus ein klassischer Sündenbock.

„Die Quintessenz der Bibel“

Die Parallelen zum Alten und Neuen Testament sind augenfällig. Gerade die Jesus-Geschichte scheint den Sündenbock-Mythen bis ins Detail zu entsprechen. Der große Unterschied aber, der nach Girard einen historischen Einschnitt in der Menschheitsgeschichte darstellt, ist die Umkehrung der Perspektive, die sich in den biblischen Geschichten vollzogen hat: Die Opfer sind hier unschuldig. Es sind nicht die Geschehnisse, es ist deren Interpretation, die entscheidet. Die Bibel (Hiob, Jakob, Psalme) und vor allem die Evangelien heben die Verzerrung auf, die aus der Täterperspektive entstanden war, und stellen sich konsequent auf die Seite der verfolgten, verleumdeten Opfer.

„Die ‚Dekonstruktion‘ des Sündenbock-Mechanismus ist die Quintessenz der Bibel vom Buch Genesis bis zu den Evangelien.“ Die christliche Lehre, so Girard, habe sich jedoch immer gegen diese grundlegenden Übereinstimmungen mit den archaischen Mythen gewehrt. Dabei bestehe ihre epochale Leistung gerade darin, dass sie die „Wahrheit“ über die kollektive Gewalt verkünde und somit letztlich jeder weiteren Opferung die Legitimation entziehe. Der Bibel sei gewissermaßen die Integration der Religionskritik in die Religion gelungen.

Emile Durkheims Intuition: Das Gesellschaftliche und das Religiöse sind identisch

Die fundamental-anthropologische Theorie des Sündenbock-Mechanismus, der die aus dem mimetischen Begehren entspringende Gewalt bändigt, hat Girard vor allem in seinen Hauptwerken „La violence et le sacré“ (1972) sowie „Des choses cachées depuis la fondation du monde“ (1978) ausgeführt.

Einen wichtigen Nachweis, der seine Entschlüsselung der Mythen als verzerrte Sündenbock-Dramen plausibel macht, gewinnt Girard aus dem Vergleich der Mythen mit „Texten mystifizierter Verfolgung“; damit sind beispielsweise Berichte von mittelalterlichen Hexen- oder Judenverfolgungen gemeint. Bei diesen Texten ist uns unmittelbar einsichtig, dass die entstellte Beschreibung des Geschehens und die fadenscheinigen Anklagen gegen die Opfer die Sicht und Absicht der Täter preisgeben. Die Mythen dagegen erscheinen uns zunächst mehrdeutig, verrätselt, bunt und phantastisch-irreal. Dennoch, so zeigt Girard, ähneln sie den Texten mystifizierter Verfolgung thematisch und strukturell so sehr, dass auch die Mythen als Berichte realer Gewalt gegen Sündenböcke lesbar werden.

Girard reklamiert für seine Theorie den epochalen Anspruch, das Rätsel der Mythen gelöst zu haben. Er habe – ganz im Gegensatz etwa zum Strukturalismus von Claude Levi-Strauss’ – „die verkannte Stimme des Realen“ („La voix méconnue du réel“, so der Titel einer Aufsatzsammlung) hinter den Mythen entdeckt, was erstmals einen konsistenten Erklärungsansatz ermögliche. In „Des choses cachées depuis la fondation du monde“ schreibt er: „Die Überlegenheit unserer These besteht eben darin, daß sie es ermöglicht, auf diese groben Verfälschungen des Religiösen zu verzichten; sie gibt eine konkrete Realität, sie informiert bis in die geringsten Einzelheiten die größte anthropologische Intuition unserer Zeit, die Intuition Durkheims, wonach das Gesellschaftliche und das Religiöse identisch sind. […] Alles, was im Religiösen etwas Nachträgliches erblickt, eine bloße Reprise von etwas, das zu Grundgegebenheiten unseres Bewusstseins bloß hinzugefügt, auf sie aufgesetzt wäre, alles, was das Religiöse zu einer Sublimierung und Idealisierung macht, was es logisch und chronologisch modernen Auffassungen unterordnet, ist aufzugeben.“

In der Tat ist nicht zuletzt diese These Girards von großem Interesse. Bietet er damit doch eine dem säkularen, „wissenschaftlichen“ Denken angemessene Auffassung des Religiösen, das nicht in erster Linie als wahre oder falsche Welterklärung, sondern als lebensweltlicher Urgrund zu begreifen ist, als rituelle Praxis, aus der wir hervorgegangen sind und die uns zu kulturellen Wesen, zu Menschen gemacht hat. „Die Menschen erfinden nicht ihre Götter, sondern divinisieren ihre Opfer.“

Die rituelle Opferung substituiert die ausufernde Gewalt aller gegen alle durch die kathartische Gewalt aller gegen einen. Religion ist in dieser Sicht nicht Produkt einer menschlichen Neugier oder Sinnsuche, sondern zuallererst die Eindämmung und Transformation einer potentiell tödlichen Gewalt, die aus Rivalität entspringt.

Das schmale Bändchen „Gewalt und Religion. Ursache oder Wirkung?“, das im Matthes & Seitz Verlag in der Reihe „Fröhliche Wissenschaft“ erschienen ist, enthält den gleichnamigen Aufsatz Girards von 2004, in dem er selbst die Grundlinien seiner Theorie komprimiert darstellt. Es folgen zwei Gespräche, die der Herausgeber Wolfgang Palaver 2000 beziehungsweise 2006 mit Girard geführt hat; ein Nachwort von Palaver beschließt den Band. Das erste Gespräch wird von Fragen zur europäischen und russischen Literatur bestimmt, deren Untersuchung ein wichtiger Bestandteil von Girards mimetischer Theorie ist. Das zweite Gespräch rückt die Sündenbock-Theorie und Fragen der Religion ins Zentrum.

Während Girards kurzer Essay eine sehr klare und prägnante Einführung in seine Theorie bietet, können die Gespräche höchstens andeuten, mit welchen Fragen die mimetische Theorie zu konfrontieren ist. Insgesamt ist das Bändchen somit eine unter mehreren Möglichkeiten, einen Einstieg in Girards Denken zu finden.

Titelbild

René Girard: Gewalt und Religion. Gespräche mit Wolfgang Palaver.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Heide Lipecky.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2010.
128 Seiten, 12,80 EUR.
ISBN-13: 9783882216325

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch