Im Dickicht des Dschungels

In ihrem Roman „Vorstadthimmel“ folgt Gabriele Kögl den Spuren eines Lamborghini fahrenden Parvenüs

Von Andreas TiefenbacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Tiefenbacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Ergebnis einer weniger als „eine Stunde“ langen Beziehung wächst Heinrich in ärmlichen Verhältnissen und „ohne einen Vater auf“. Der will nämlich mit dem „eigenen Sohn“ nichts zu tun haben. Trotzdem bettelt Heinrich „wie ein Hund um ein paar Streicheleinheiten“. Und je mehr er das tut, umso heftiger tritt der Vater nach ihm.

Nicht viel liebevoller geht auch seine „als Pflegerin in einem Altersheim“ arbeitende Mutter mit ihm um. Ein Schlag „mit der flachen Hand […] auf die Wange“ ist üblich. Und der Stiefvater hat nichts dagegen, sieht er doch in Heinrich nur einen Konkurrenten, den er besser in der „acht Quadratmeterzelle“, die als Kinderzimmer dient, aufgehoben weiß oder gleich auf einem „Ferienlager“, wo sadistische Erzieher bei Sauberkeitskontrollen dem Jungen nicht nur in den Anus schauen, sondern „bis unter die Vorhaut“.

All der erlittenen Demütigungen und fehlenden Zuwendung zum Trotz wird aus Heinrich aber kein Alkohol- oder Drogenabhängiger. Nein. Er entwickelt Eigeninitiative und kämpft sich Zug um Zug nach oben: absolviert „eine Lehre“; finanziert sich mit kleinem „Verkäufergehalt“ die Maturaschule; studiert Medizin und macht, weil er aussieht „wie der junge Alain Delon […] Karriere als Dressman“, an welche die des geschäftstüchtigen Zahnarztes nahtlos anschließt.

Seine Methoden, mit denen er um Kundschaft wirbt, die aufwändige Gebisssanierungen an sich durchführen lässt, sind zwar moralisch nicht einwandfrei, doch so lange er, der „immer schon […] schwanzgesteuert“ gewesen ist, die Aussicht hat, „seinen kleinen Panther in der Höhle einer Frau“ unterzubringen und außerdem „etwas nach seinem Willen gestalten“ kann, hat er (auch wenn er es eigentlich hasst, „mit Lügen abgefertigt“ zu werden) damit kein Problem.

Und der auf dem „absolute[n] Gefühl für den schmerzlosen Punkt“ beruhende Erfolg gibt ihm recht, hat Heinrich, der „gerade fünfzig geworden“, außerdem groß, aber „mit achtundneunzig Kilo Lebendgewicht“ auch ziemlich korpulent ist, doch inzwischen „alles erreicht […], was sich jemand wünschen kann, um glücklich zu sein“: Es gehört ihm eine „Villa aus Glas, Beton und Holz […] in einer der schönsten Gegenden“ von Wien. Er fährt einen Lamborghini Diablo. Er ist mit einer „anständigen Frau aus gutem Haus“ verheiratet. Und er ist Vater einer Tochter, die er „abgöttisch“ liebt.

Und wenn er einmal zufällig nicht dieses ihm allzu bekannte „Gefühl der Ohnmacht“ von seiner Tochter fernhalten muss, hält ihn wenigstens „seine Verschönerungsmanie“ auf Trab. Oder aber er taucht in „die Welt der Rotarier, die Welt der Tennisclubs, die Welt der Herrenabende“ ein – wenn nicht „der Drang nach einer Entladung“ die Suche nach einer geeigneten Sexpartnerin virulenter macht, die meist per Auto erfolgt, das heißt in seinem „geflügelte[n] Panther“, der ihm das Gefühl vermittelt, „im Dickicht des Dschungels“ jagen zu gehen.

Es ist daher kaum verwunderlich, dass ein schnelles „Abenteuer ohne jeden Hintergedanken […] zu den besten Momenten in Heinrichs Leben“ zählt. Ihm ist überhaupt das leibliche Wohl ziemlich wichtig, während seine Frau gar keinen Wert darauf legt und „in ihrer fehlenden Begierde, […] in ihrer zur Schau gestellten Bedürfnislosigkeit […] die Verkörperung der Bescheidenheit schlechthin“ zu sein scheint.

Ihr Ehemann zeigt sich davon wenig beeindruckt, ist er doch ganz und gar unbescheiden. Einerseits hat er über die Jahre Stil und „auch Geschmack entwickelt“. Andererseits legt er großen Wert darauf, nicht nur in seiner Arbeit als Zahnarzt „auf dem neuesten Stand“ zu sein. Er liebt es, wenn sich etwas – „perfekt in seiner Gestaltung und Gestalt – als „Wunderwerk der Technik“ erweist. Luxuriöse Dinge wie eine Wurstschneidemaschine von „Berkel“, ein Kaffeevollautomat von „Gaggia“ oder ein „Royal Globus“ kann er sein Eigen nennen. Zuallererst können ihn diese Gegenstände wohl kaum so enttäuschen wie die Tochter, die ein Tennismatch nach dem anderen verliert; und zweitens lassen diese ihn auch nicht ständig seine Herkunft spüren.

Es ist daher nur die logische Konsequenz, dass Heinrich in seinem Lamborghini einen „Gefährten“ sieht. Denn Freunde hat er sowieso keine. Und dazu gekommen, das „zu genießen, was er geschaffen“ hat, ist er auch noch nicht wirklich; weil er es selbst mit dem größten Luxus nicht schafft, „das Milieu“, dem er entstammt, „aus seinem Kopf“ heraus zu bekommen. Genauso wenig vermag er sich vor der „abschätzigen Begutachtung“ durch seinen Schwiegervater zu schützen, die Heinrich „noch immer in sich brennen“ spürt, egal was er macht. Den Makel, bloß „ein Meister des zweiten Bildungsweges“ zu sein, kann er einfach nicht abschütteln.

Viel leichter tut er sich da schon mit Margot, seiner so genannten Geliebten. Kaum ist sie schwanger, stellt er die täglichen Kurzbesuche ein. Trotzdem bekommt die 36-jährige Mitarbeiterin in der „Radioredaktion von Ö1“ ihr Kind, obwohl eigentlich außer dem „bisschen Sex […] alles andere [mit Heinrich] langweilig“ ist und sie zudem genau weiß, dass er nur seiner „Unterhaltspflicht“ nachkommen wird und ihre beruflichen Chancen in den Keller purzeln werden.

Genau so ist es dann auch. Den einzigen Job, den sie bekommt, ist der einer Kellnerin. Das macht ihr endlich deutlich, dass sie „aus der Vorstadtgegend“ wohl kaum je „wieder herauskommen“ wird.

Gute Aussichten sehen anders aus. Aber von einem „Vorstadthimmel“ sollte man ohnehin nicht all zu viel erwarten. Von der sich unter ihm abspielenden Geschichte tut man das aber schon – und wird gar nicht enttäuscht – was daran liegt, dass die Geschichte – die abwechselnd aus Heinrichs und Margots Perspektive berichtet – einen wunderbaren Blick auf zwei ganz unterschiedliche Alltagsszenerien freigibt: die mit dem wohlhabenden Parvenü, den ständig die „Sehnsucht nach einer Affäre“ plagt, oder die mit der „alleinerziehende[n] Mutter“, die „sich das Leben anders vorstellt“, aber gezwungen ist, sich dauerhaft in einer „Übergangslösung“ einzurichten.

Die 1960 in Graz geborene Gabriele Kögl schildert die Ereignisse bis ins Detail genau, wie man dies im Übrigen von einer großen „Satzbauerin“ (als die sie sich selbst bezeichnet) gar nicht anders erwartet. Die Authentizität ist in jedem Wort spürbar. Und man lernt beim aufmerksamen Lesen auch einiges: Wie man zum Beispiel Rotwein dekantiert oder mit Spaghettinudeln umgeht.

Der Roman beleuchtet aber nicht nur unterschiedliche Milieus, sondern er zeigt auch auf, dass Menschen, obwohl sie ihre Rollen pflichtbewusst und voller Ehrgeiz erfüllen, das Gefühl haben, „unendlich allein zu sein“, weil sie den Fehler begehen, Glück zu sehr mit Personen zu assoziieren. Kögl verweist darauf in sehr feinsinniger Weise.

Und auch wenn sich am Ende des Tages der „Vorstadthimmel“ doch noch zu lichten scheint, im Grunde beneidet man keinen der Protagonisten. Vor Heinrich graut es einem dann und wann sogar, weil er ein viel zu wenig reflektierender, bornierter Materialist ist. Das macht ihn manchmal richtig lächerlich. Und mindestens einmal muss man über diesen Heinrich auch herzhaft lachen: wenn er nämlich, obwohl er Romane für „konstruierten Kinderkram“ hält und lesen generell als „vergeudete Lebenszeit“ abstempelt, seine Frau ein Buch mit dem Titel „Feuchtgebiete“ lesen sieht und glaubt, sie interessiere sich „heimlich doch für seinen Gartenteich“.

Ein schöner, feiner, guter Witz in einem guten, feinen, schönen, gelungenen Roman.

Titelbild

Gabriele Kögl: Vorstadthimmel. Roman.
Wallstein Verlag, Göttingen 2011.
276 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783835308442

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