Ein „stahlhartes Gehäuse“ ist kein „Iron Cage“
Über Forscher, die kein Deutsch können
Von Dirk Kaesler
Diese Glosse wird mir schon darum nicht zu wesentlich mehr Opponenten verhelfen, weil jene, die sich darüber ärgern könnten, sie ohnehin nicht verstehen. Zum Jahresbeginn ist es mir ein Anliegen, zu schreiben, dass ich es zuweilen leid bin, englische Literatur über Max Weber lesen zu müssen, bei der ganz deutlich wird, dass die Verfasser – und es sind durchweg Männer – Weber nicht im Original lesen können, weil sie kein Deutsch beherrschen.
Ich hätte es nie gewagt, mich darüber öffentlich zu äußern, wäre ich nicht durch einen Beitrag eines Kollegen von der Universität Siegen in der Dezember-Ausgabe der Zeitschrift „Forschung und Lehre“ dazu ermutigt worden: Dieter Schönecker, Professor für Praktische Philosophie, publizierte darin eine leicht überarbeitete Fassung seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des „Initiativpreises Deutsche Sprache“, die er im Oktober 2011 in Kassel gehalten hatte.
Keine Kant-Forschung ohne Deutsch
Unter der Überschrift „Keine Kant-Forschung ohne Deutsch. Deutsch als Wissenschaftssprache in der Philosophie“ weist Schönecker darauf hin, dass der unaufhaltsame Trend zur Wissenschaftssprache Englisch auch an deutschen Universitäten nicht mehr zu leugnen sei. Vor diesem Hintergrund skizziert er die erheblichen Folgen, die diese Entwicklung für manche Disziplinen habe, am Beispiel der Philosophie, und ganz besonders in seinem eigenen Forschungsgebiet, der Kant-Forschung.
Seine zentrale These lautet, „dass es Bereiche in der Philosophiehistorie gibt, für die Deutsch als Wissenschaftssprache absolut unverzichtbar ist. Das Argument für diese These ist ganz alt und einfach: Texte sind nämlich nicht ohne erheblichen Verlust übersetzbar. Die (genaue) Bedeutung eines Textes ist – wenn überhaupt – nur im Original zu erfassen. Ich sage natürlich nicht, dass es sinnlos ist, philosophische Texte in Übersetzung zu lesen; schon aufgrund der Vielzahl der Sprachen geht das überhaupt nicht anders. Ich behaupte nur, dass für ein genaues Verständnis und um so mehr für ein Verständnis auf Forschungsniveau die Fähigkeit, den Text in der Sprache lesen zu können, in der er geschrieben wurde, unabdingbar ist. Also kein Platon-Vortrag ohne Griechischkenntnisse, kein Anselm-Aufsatz ohne Lateinisch, kein Hume-Buch ohne Englisch, und daher auch: Keine Kant-Forschung ohne Deutsch. Wer über Kant publiziert, muss in der Lage sein, fließend Deutsch zu lesen; und da die reale Kant-Forschung auch auf Konferenzen stattfindet, muss auch gelten: Alle Kantforscher müssen Deutsch zumindest passiv beherrschen.“
Nachdem ich diese markigen Sätze gelesen hatte, musste ich erst einmal tief durchatmen. Ich kenne mich nicht aus in der Kant-Forschung, dafür umso mehr mit der internationalen Forschung zu Leben, Werk und Wirkung des deutschen Sozialwissenschaftlers Max Weber. Vorbehaltlos möchte ich die beiden letzten Sätze des Kant-Forschers Schönecker für die Max Weber-Forschung übernehmen: Alle Weber-Forscher, die ernst genommen werden wollen, müssen Deutsch zumindest passiv beherrschen!
Durch zahllose eigene Erfahrungen kann ich jene Erscheinungen, von denen Dieter Schönecker aus der Kant-Forschung berichtet, für die Weber-Forschung bestätigen: „Leider sind die philosophischen Zeiten aber so, dass solche elementaren Wahrheiten erst gar nicht gelernt oder auch verdrängt werden. Das liegt zum einen daran, dass die immer mächtiger werdende US-Philosophie (aber nicht nur sie) in großen Teilen davon ausgeht, man könnte philosophische Argumente ohne sehr genaue, ich würde sagen: kommentarische Textanalysen verstehen. Das liegt aber, damit verbunden, auch daran, dass durch die Dominanz der englischen Sprache diejenigen, die sie als Muttersprache sprechen, wohl meinen, sie müssten keine andere mehr lernen, und die, deren Muttersprache nicht Englisch ist, aus Sorge um akademischen Bedeutungsverlust ihre eigene Muttersprache verleugnen. Wie anders ist es zu erklären, dass man in Deutschland – ich habe es selbst erlebt – eine Kant-Tagung durchführt, an der auch, aber eben nur drei US-amerikanische Kantforscher teilnehmen, von denen zwei Deutsch weder lesen noch sprechen können, und deren Anwesenheit trotzdem dazu führt, dass die Konferenzsprache Englisch ist? Und wie anders soll man sich erklären, dass kürzlich an einer deutschen Universität eine ‚summer school‘ zu Hegels ‚Wissenschaft der Logik‘ durchgeführt wurde, und zwar nicht nur auf Englisch, sondern sogar auf der Grundlage einer englischen Übersetzung des Hegelschen Textes?“
Diese Situation kenne ich sehr gut und aus eigenen Erfahrungen. Den einsamen Höhepunkt an derartigen Erlebnissen bildete eine Konferenz in Buenos Aires im Oktober 2005 aus Anlass der 100-jährigen Wiederkehr der Erstveröffentlichung der famosen Texte über die „Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“. Unter den insgesamt 27 eingeladenen Referenten waren zwei Deutsche – die auf Englisch vortrugen, was simultan ins Spanische übersetzt wurde – und ein US-amerikanischer Kollege – dessen Beitrag ebenfalls simultan ins Spanische übersetzt wurde. Alle weiteren 24 Referate wurden von spanischsprechenden Weber-Forschern gehalten, die sich durchgehend auf die spanischen Übersetzungen von Weber-Texten und die spanische Sekundärliteratur bezogen. Mein deutscher Kollege gefiel sich in der Rolle des zeigefingerschwenkenden Oberlehrers, der nach jedem spanischen Beitrag – der für uns simultan ins Englische übersetzt wurde – seine Stimme erhob um auszuführen, was Max Weber „eigentlich und wirklich“ geschrieben und gemeint hatte. Natürlich trug er das auf Englisch vor.
Diese Rolle werde ich nie öffentlich übernehmen. Jene Kollegen, die selbst nicht erkennen, dass das, was sie da machen, zumindest fragwürdig ist, werden durch solche Schulmeistereien nicht zum Nachdenken kommen, sondern eher auf „ihrem“ (spanischen, englischen, japanischen, et cetera) Weber beharren.
Max Weber ist kein deutsches Eigentum
Natürlich ist es für uns deutsche Forscher grotesk und zuweilen richtig ärgerlich, mündliche und schriftliche Beiträge über deutsche Texte erleben zu müssen, bei denen überaus erkennbar ist, dass deren Autoren kein Deutsch können und sich daher auf anderssprachige Texte beziehen müssen. Mit keinem der Übersetzer meiner eigenen Weber-Arbeiten habe ich mich je auf dieser Grundlage gestritten: Was in den englischen und französischen Fassungen steht, konnte ich noch einigermaßen beurteilen, was in den japanischen, chinesischen, italienischen und polnischen Versionen steht, weiß ich nicht. Und will mich darüber auch nicht grämen.
Der Übersetzer der chinesischen Version meines Weber-Lehrbuchs erstellte seine Übersetzung auf der Grundlage der englischen Fassung: Als er persönlich für einige Wochen auf meine Einladung hin und finanziert durch den DAAD nach Marburg kam, um die endgültige Fassung mit mir zu besprechen, stellte sich heraus, dass er weder Deutsch noch Englisch sprechen konnte. Unvergessen sind jene Momente, als ich ihm pantomimisch zu verdeutlichen suchte, was der Satz: „daß Weber mit dieser Argumentation bedenklich nahe an die ‚Dolchstoßlegende‘ gekommen sei“ bedeutete. Nicht nur, dass der verehrte Kollege weder Deutsch noch Englisch beherrschte, er hatte auch nicht die geringste Ahnung von der Rolle Deutschlands im Ersten Weltkrieg. Was mag wohl darüber in der chinesischen Version – immerhin erschienen in einer Reihe „Repräsentative Deutsche Rechtsliteratur der Gegenwart“ bei der Akademie der Wissenschaften der Volksrepublik China – stehen?
Wahrscheinlich ist es gut, dass ich weder Chinesisch, Japanisch, Italienisch oder Polnisch kann. Mit dem Beharren darauf, dass irgendetwas, was Weber von nicht-deutschen Autoren zugeschrieben wird, bei diesem so nicht steht, kommen wir jedenfalls nicht weiter.
Nachdem ich im Jahr 1984 den schon zu jener Zeit einigermaßen renommierten US-amerikanischen Kollegen Jeffrey Alexander unter anderem darum heftig kritisiert hatte, dass sein umfangreicher Band über die Soziologie Max Webers – der bei der University of California Press erschienen ist – weitestgehend auf der Unkenntnis der Originaltexte basiert, machte mir dieser in einer wütenden Replik klar, dass es ihm keineswegs um den „historical Weber“ zu tun sei, sondern um „Weber as an idea“. Meine scharfe Besprechung in einer der einflussreichsten Rezensionszeitschriften unter dem Titel „Originality By Misrepresentation?“ schadete dem Kollegen keineswegs, sein Weg führte ihn von Berkeley über Los Angeles nach Yale, wo er noch heute lehrt, vermutlich auch über Max Weber. Ein ganzes Buch über einen deutschen Soziologen zu schreiben, von jemandem, der kein Wort Deutsch lesen oder sprechen kann, erscheint nur uns als unmöglich. Niemand von uns würde es wohl wagen, ein Buch zum Beispiel über den amerikanischen Soziologen Talcott Parsons zu schreiben und sich dabei ausschließlich auf die deutschen Übersetzungen seiner Arbeiten und die deutsche Sekundärliteratur darüber zu beziehen, weil man kein Englisch kann.
Max Weber konnte auch kein Chinesisch
Eine solche Unmöglichkeit mag (hoffentlich) für heutige deutsche Wissenschaftler eine Selbstverständlichkeit sein. Zur Relativierung dieser vermeintlichen Selbstverständlichkeit sei jedoch daran erinnert, dass das nicht immer so gewesen war. Ganz im Gegenteil, jene Haltung, die uns deutschen Wissenschaftlern heute so oft begegnet, dass das, was „wirklich zählt“, entweder auf Englisch – vielleicht gerade noch auf Französisch – publiziert sei oder ansonsten eben nicht existiere, galt im Selbstverständnis deutscher Wissenschaftler für sehr lange Zeit für ihre eigene Sprache. Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs konnten gerade deutsche Wissenschaftler mit hoch erhobener Stirn im Universum der Gelehrsamkeit umher stolzieren und davon überzeugt sein, dass Deutsch die Wissenschaftssprache per se sei.
Das führte dann auch dazu, dass jemand wie Max Weber beispielsweise umfangreiche Texte schreiben und publizieren konnte, ohne auch nur über die geringste Kenntnis jener Sprachen und Kontexte zu verfügen, über die er vollmundig und im Gestus des Allwissenden zu schreiben wagte. Wer von uns Heutigen würde es sich trauen, einen ganzen Band über die Wirtschaftsethik Chinas zu schreiben, ohne ein einziges Wort Chinesisch zu können?
Man muss sie lesen, jene weltberühmten drei Bände der „Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie“ um zu vernehmen, mit welcher apodiktischen Gewissheit sich der deutsche Gelehrte Max Weber über die abgelegensten Details über China, Indien und den Vorderen Orient äußert. Hier schreibt der reine Bibliotheksbenutzer über den Konfuzianismus, Taoismus, Hinduismus, Buddhismus, Judentum und Islam in einer Manier, dass man meinen könnte, er habe an deren religiöser Praxis seit Jahrzehnten teilgenommen. Dabei beherrschte Weber keine einzige jener Sprachen, in denen diese Praxis stattfand, er bereiste nicht einmal auch nur eines jener Länder, in denen diese Praxis herrschte: Max Weber war nie in China, Indien oder Palästina.
Und als er am 21. September 1904 im Rahmen des Wissenschaftlichen Kongresses, der für die Weltausstellung in St. Louis organisiert worden war, einen Vortrag hielt – für den er immerhin ein Honorar von 500 US-Dollar kassierte – sprach er selbstverständlich auf Deutsch. Die in der Kongressdokumentation aufgenommene englische Fassung unter dem Titel „The Relations of the Rural Community to Other Branches of Social Science“ ist die nachträgliche Übersetzung ins Englische, an deren Endredaktion Weber keinen Anteil genommen hatte – vermutlich auch deshalb, weil er sich im selbst geschriebenen Englisch nicht sicher genug fühlte. Ein deutscher Gelehrter musste diese Sprache zu seiner Zeit nicht beherrschen!
Stahl ist kein Eisen, ein Gehäuse ist kein Käfig
Trotz dieser notwendigen Relativierungen sei dem Hauptanliegen des Kollegen Schönecker gerade am Beispiel Max Webers nachdrücklich zugestimmt. Mag ja jeder ein Buch über Max Weber schreiben, der dessen Texte nur aus koreanischen Übersetzungen kennt, wenn er sich dazu berufen fühlt. Die Frage dabei ist doch nur, was diese koreanische Weber-Konstruktion mit jenem Gelehrten zu tun hat, dessen Namen dabei ins Spiel gebracht wird. Auch die noch so umfangreichen Übersetzungsvorhaben zu „Makesi Weibo“ werden nichts an der grundsätzlichen Problematik der Unübersetzbarkeit geisteswissenschaftlicher Texte ändern können.
Ohne hier nun zu detailliert am Beispiel Max Weber darauf eingehen zu wollen, sei diese radikale Behauptung an zwei Kostproben illustriert. Fangen wir mit einem einzigen, einigermaßen banalen Wort an: Wie sattsam bekannt sein dürfte, stammt von Max Weber jenes schreckeinflößende Sprachbild, demzufolge sich ein „stahlhartes Gehäuse“ um uns heutige Menschen im Zeichen des Kapitalismus gelegt habe. Im Original heißt es bei Weber 1904 und 1920: „Nur wie ‚ein dünner Mantel, den man jederzeit abwerfen könnte‘, sollte nach Baxters Ansicht die Sorge um die äußeren Güter um die Schultern seiner Heiligen liegen. Aber aus dem Mantel ließ das Verhängnis ein stahlhartes Gehäuse werden. Indem die Askese die Welt umzubauen und in der Welt sich auszuwirken unternahm, gewannen die äußeren Güter dieser Welt zunehmende und schließlich unentrinnbare Macht über den Menschen, wie niemals zuvor in der Geschichte. Heute ist ihr Geist – ob endgültig, wer weiß es? – aus diesem Gehäuse entwichen. Der siegreiche Kapitalismus jedenfalls bedarf, seit er auf mechanischer Grundlage ruht, dieser Stütze nicht mehr.“
So weit, so schrecklich, so bekannt! Von diesem legendären Text liegen bis zum heutigen Tag drei Übersetzungen ins Englische vor: Die erste stammt von Talcott Parsons aus dem Jahr 1930, sie vor allem begründete jenen Ruhm Max Webers, der ihn heute zu dem bedeutendsten Klassiker der Soziologie weltweit gemacht hat. Parsons, der die deutsche Sprache nur sehr rudimentär beherrschte, übersetzte „stahlhartes Gehäuse“ mit „iron cage“. Diese Metapher wird heute weltweit – auch in Deutschland – als Synonym für alle jene schrecklichen Gefahren eingesetzt, die uns durch Kapitalismus und Bürokratie bedrohen. Natürlich kann man nun als Deutscher auftreten und darauf hinweisen, dass Eisen, das rostet, kein Stahl sei, der eben nicht zerstört werden kann, und dass Weber sehr wohl zu seiner Zeit um eben diesen Unterschied wusste, und sein Sprachbild mit Bedacht wählte; und man kann es endlos wiederholen, dass ein „Gehäuse“ kein Käfig sei, und dass Weber auch darüber nachgedacht haben dürfte. Es nutzt alles nichts: Der „Iron Cage“ ist in der Begriffswelt der Menschen und hat es sogar zu Lexikoneinträgen gebracht, zumeist mit dem Hinweis auf Max Weber. Auch die sehr viel besseren neueren Übersetzungen von Stephen Kalberg („steel-hard casing“), Peter Baehr und Gordon C. Wells („shell as hard as steel“) werden daran nichts mehr ändern können. Selbst Peter Ghosh wird das „stahlharte Gehäuse“ mit seiner ganzen Bedeutung im Kopf eines Wilhelminers um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert nicht in heutiges Englisch transportieren können.
Man könnte dieses legendäre Beispiel um zahllose weitere vermehren, so etwa an der tatsächlichen Un-Übersetzbarkeit der spezifisch Weber’schen Begriffe wie „Beruf/Berufung“, „Triebwerk“, „innerweltlich“, „Wahlverwandtschaften“. „die letzten Menschen“.
Die „Ressource“ ist keine Schänke
Doch, und das ist mir noch sehr viel wesentlicher: Es geht gar nicht so sehr um einzelne Worte, so wichtig diese im Einzelfall sind, es geht um ganze Bedeutungszusammenhänge. Auch dafür sei ein einziges Beispiel angeführt, erneut aus der berühmten Schrift Max Webers zur „Protestantischen Ethik und der Geist des Kapitalismus“. In einem längeren Abschnitt bemüht dieser sich darum, den Lebensrhythmus des frühkapitalistischen Unternehmers zu schildern: „Bis gegen die Mitte des vorigen Jahrhunderts war das Leben eines Verlegers wenigstens in manchen Branchen der kontinentalen Textilindustrie ein für unsere heutigen Begriffe ziemlich gemächliches. Man mag sich seinen Verlauf etwa so vorstellen: Die Bauern kamen mit ihren Geweben – oft (bei Leinen) noch vorwiegend oder ganz aus selbstproduziertem Rohstoffe hergestellt – in die Stadt, in der die Verleger wohnten und erhielten nach sorgsamer, oft amtlicher, Prüfung der Qualität die üblichen Preise dafür gezahlt. Die Kunden der Verleger waren für den Absatz auf alle weiteren Entfernungen Zwischenhändler, die ebenfalls hergereist kamen, meist noch nicht nach Mustern, sondern nach herkömmlichen Qualitäten und vom Lager kauften oder, und dann lange vorher, bestellten, woraufhin dann eventuell weiter bei den Bauern bestellt wurde. Eigenes Bereisen der Kundschaft geschah, wenn überhaupt, dann selten einmal in großen Perioden, sonst genügte Korrespondenz und, langsam zunehmend, Musterversendung. Mäßiger Umfang der Kontorstunden – vielleicht 5-6 am Tage, zeitweise erheblich weniger, in der Kampagnezeit, wo es eine solche gab, mehr, – leidlicher, zur anständigen Lebensführung und in guten Zeiten zur Rücklage eines kleinen Vermögens ausreichender Verdienst, im ganzen relativ große Verträglichkeit der Konkurrenten untereinander bei großer Uebereinstimmung der Geschäftsgrundsätze, ausgiebiger täglicher Besuch der ‚Ressource‘, daneben je nachdem noch Dämmerschoppen, Kränzchen und gemächliches Lebenstempo überhaupt.“
Talcott Parsons übersetzte diese Passage folgendermaßen:
„Until about the middle of the past century the life of a putter-out was, at least in many of the branches of the Continental textile industry, what we should today consider very comfortable. We may imagine its routine somewhat as follows: The peasants came with their cloth, often (in the case of linen) principally or entirely made from raw material which the peasant himself had produced, to the town in which the putter-out lived, and after a careful, often official, appraisal of the quality, received the customary price for it. The putter-out’s customers, for markets any appreciable distance away, were middlemen, who also came to him, generally not yet following samples, but seeking traditional qualities, and bought from his warehouse, or, long before delivery, placed orders which were probably in turn passed on to the peasants. Personal canvassing of customers took place, if at all, only at long intervals. Otherwise correspondence sufficed, though the sending of samples slowly gained ground. The number of business hours was very moderate, perhaps five to six a day, sometimes considerably less; in the rush season, where there was one, more. Earnings were moderate; enough to lead a respectable life and in good times to put away a little. On the whole, relations among competitors were relatively good, with a large degree of agreement on the fundamentals of business. A long daily visit to the tavern, with often plenty to drink, and a congenial circle of friends, made life comfortable and leisurely.”
Man mag sich schon fragen, ob „gemächlich“ und „comfortable“ den gleichen Assoziationswert haben, aber spätestens bei der „tavern“ in der „plenty to drink“ konsumiert wird, sträubt sich des Kenners Haar. Max Webers eigener Großvater – denn um die Schilderung von dessen Tagesablauf handelt es sich bei dieser Passage – war alles andere als ein fröhlicher Zecher, der jeden Abend in der Schänke im Kreise seiner Freunde einen hob. Carl August Weber (1796-1872) war ein überaus erfolgreicher Kaufmann und Leinenfabrikant, Mitinhaber des Leinenhandelsgeschäftes „Weber, Laer & Niemann“ in Bielefeld und gehörte noch 1850 zu den Bürgern mit den höchsten Einkommen in Bielefeld. Die „Ressouce“ war eine jener zahlreichen größeren Geselligkeitsvereine, in denen vor allem die etablierte Kaufmannschaft und die höhere Beamtenschaft – aus Adel und Bürgertum gleichermaßen rekrutiert – verkehrte. Wenn man das in heutige Zusammenhänge übersetzen wollte, wäre allenfalls das Kaufmanns Casino oder eine Zusammenkunft von Rotariern passend. Es ging bei diesen abendlichen Treffen sehr viel weniger um ein gemeinsames Besäufnis, sondern um die Pflege und Anbahnung neuer und bereits bestehender Geschäftsbeziehungen eines kleinen elitären Zirkels von wirtschaftlich einflussreichen Männern.
Das alles wird in diesen Übersetzungen, auch nicht den neueren, in keinster Weise vermittelt. Aber, das muss hinzugefügt werden, solche Kontexte und bedeutsamen Bedeutungszusammenhänge müssen auch heutigen deutschen Muttersprachlern, wie etwa Studierenden, vermittelt werden. Auch sie brauchen gewissermaßen eine „Übersetzung“, da ihnen die zeitgenössischen Zusammenhänge, die für Weber und seine Zeitgenossen selbstverständlich waren, weitestgehend unbekannt sind. „Kommentarische Textanalysen“: dieses Konzept des Philosophenkollegen Schönecker gefällt mir sehr gut.
Texte sind mehr als die Aneinanderreihung von Worten
Diese Glosse ist keine besserwisserische Suada eines deutschtümelnden Wissenschaftlers und Max Weber-Forschers. Dankbar bin ich dafür, dass mich die Beschäftigung mit Max Weber schon bisher um den ganzen Globus geführt hat, dass ich viele Vorträge über diesen Wilhelmischen Gelehrten in vielen Universitäten und privaten Zirkeln habe halten dürfen, und oft genug auf Englisch. Unvergesslich die Tage, in denen ich im Dezember 2003 etwa hundert Studierenden der University of Dhaka in Dhaka (Bangladesh) die Grundideen der Weber’schen Soziologie vermittelte, aber ebenso wenig werde ich die intensiven und sehr persönlichen Gespräche über die Weber’sche „Protestantische Ethik“ auf mehreren Sommerakademien der Studienstiftung des deutschen Volkes vergessen: Immerhin hängte ein Seminarist eines Priesterseminars daraufhin die Soutane an den Nagel und wurde Soziologe.
Und so möchte ich diese Nach-Denklichkeiten abschließen mit einem Zitat der US-amerikanischen Soziologin Gisela Hinkle, die sich 1968 kenntnisreich und detailliert mit der „Amerikanisierung“ Max Webers auseinandersetzte und die zu folgendem Schluss kam, dem ich mich vorbehaltlos anschließe: „Translation from one language to another and more specifically from one intellectual and linguistic context to another, entails not merely a substitution of words but a transformation of ideas, styles of thinking, modes of expression, indeed a whole context of mental imagery and assumptions.“
Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag gehört zu Dirk Kaeslers monatlich erscheinenden „Abstimmungen mit der Welt“. https://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=13303