Unermüdlich spinnt die Weberei weiter
Ein weiterer Band der Max Weber-Gesamtausgabe und zwei Sammelbände zu Themen von Max Weber erschienen
Von Dirk Kaesler
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAus Abteilung III („Vorlesungen und Vorlesungsnachschriften“) der Max Weber-Gesamtausgabe ist ein weiterer Band anzukündigen: die Edition von zwei studentischen Mitschriften seiner Münchner Vorlesung zur Staatssoziologie. Weiterhin werden hier rezensiert zwei Sammelbände: zum einen ein Band, in dem der emeritierte Heidelberger Soziologe Wolfgang Schluchter sechs Studien publiziert, die aus Vorträgen in den letzten Jahren entstanden sind, zum anderen die Sammlung von Essays des Oxforder Historikers Peter Ghosh, der seit Jahrzehnten an einer weiteren neuen englischen Übersetzung der Texte Max Webers über die Kulturbedeutung des Protestantismus arbeitet.
Professor Weber liest über „Allgemeine Staatslehre und Politik (Staatssoziologie)“ und zwei Studenten schreiben mit
Mit dem Band zur Vorlesung Max Webers über „Allgemeine Staatslehre und Politik (Staatssoziologie)“ werden zwei studentische Nachschriften in makelloser Bearbeitung gedruckt, die im „Deponat Max Weber“ der Handschriften-Abteilung der Bayerischen Staatsbibliothek in München liegen. Sie stammen, wie so vieles in diesem Deponat, aus den Beständen des ehemaligen „Max Weber-Archivs“, das der Privatgelehrte Johannes Winckelmann (1900-1985) mit erheblichem persönlichen Einsatz aufgebaut hatte und den er jahrzehntelang aus Privatmitteln finanzierte. Im November 1960 war es Winckelmann gelungen, mit der Unterstützung interessierter Gelehrter an der Münchner Universität, dieses Archiv am Soziologischen Institut der Universität München zu gründen. Diese Einrichtung, mit einer Assistentenstelle, einer Sekretariatsstelle und einem kleinen eigenen Haushaltstitel ausgestattet, wurde 1966 in „Max Weber Institut“ umbenannt und entwickelte sich zu einer Dokumentensammlung und Max Weber-Spezialbibliothek. Nach der Vorstellung Winckelmanns sollte es als Sammelstelle, Forschungs- und Begegnungsstätte der Max Weber-Forscher aus der ganzen Welt dienen. Im Jahr 1974 wurden die Bestände des „Max Weber Instituts“ in die Bayerische Akademie der Wissenschaften überführt, die sie als Deponat an die Bayerische Staatsbibliothek übergab.
In diesem Deponat befindet sich zwar kein Originalmanuskript der letzten Münchner Vorlesung Max Webers, jedoch Nachschriften von zwei seiner Hörer: dem späteren Leitenden Regierungsdirektor Erwin Stölzl (1893-1947), dessen Witwe die Aufzeichnungen Winckelmann im Jahr 1961 schenkte, und von dem späteren Professor für Bürgerliches Recht an der Universität Mainz Hans Gerhard Ficker (1897-1968), dessen Familie die Aufzeichnungen – wenn auch nur in Form einer Abschrift – dem „Max Weber-Archiv“ schenkte.
Mit der Publikation dieses Bandes tritt erstmals die eigenständige Herausgeberschaft des 2007 neu kooptierten Hauptherausgebers der MWG in Erscheinung, des Inhabers der Professur für „Vergleichende Kulturgeschichte der Neuzeit mit besonderer Berücksichtigung der philosophischen Bezüge der Kulturwissenschaften“ an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder: Gangolf Hübinger (Jahrgang 1950). Hübinger ist prädestiniert für diese anspruchsvolle Aufgabe, als ehemaliger Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der Universität Düsseldorf bei Wolfgang J. Mommsen, als ehemaliger Redakteur der MWG (1982-1984) und als ausgewiesener Spezialist für die Themen Kulturprotestantismus und Liberalismus im Wilhelminischen Deutschland. Seine Editionsarbeit am hier anzuzeigenden Band erledigte er im Rahmen eines Forschungsaufenthalts am „Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien“ in Erfurt in den Jahren 2006/2007; derzeit forscht Hübinger als Stipendiat des „Historischen Kollegs“ in München an einem Projekt über „Die kulturelle Doppelrevolution um 1900. Zum Wechselspiel von wissenschaftlicher Selbstbeobachtung und Demokratisierung der europäischen Gesellschaften im frühen 20. Jahrhundert.“
Was bietet nun der vierte Band aus der Abteilung „Vorlesungen und Vorlesungsnachschriften“, von denen zwei bereits von Hübingers Frau, Rita Aldenhoff-Hübinger (ebenfalls Viadrina), in mustergültiger Fassung ediert worden sind? (siehe literaturkritik.de 08/2008 und 04/2010) Gangolf Hübinger präsentiert eine sehr überzeugende Dokumentation der Gliederung und der Argumentation jener Vorlesung über Staatssoziologie, die Max Weber am 11. Mai 1920 begann und die er zuletzt am 1. Juni 1920 abhalten konnte. Nach diesen (vermutlich) elf Vorlesungsstunden erkrankte der schon jahrzehntelang leidende Ordinarius für Gesellschaftswissenschaft, Wirtschaftsgeschichte und Nationalökonomie der Ludwig Maximilians-Universität München und starb am 14. Juni 1920. Es waren also gerade mal drei Wochen, in denen Weber las, jeweils montags, dienstags, donnerstags und freitags 16:15 Uhr bis 17 Uhr. Die Studenten Stölzl und Ficker saßen unter insgesamt 546 regulären studentischen Hörern und den registrierten 22 Gasthörern und schrieben eifrig mit, – in der sogenannten „Gabelsberger Kurzschrift“. Es sind 52 Druckseiten geworden, auf denen dieser Band die Ergebnisse des Mitschreibens dokumentiert, wobei jeweils auf der linken Seite die Nachschrift Erwin Stölzls, auf der rechten Seite die von Hans Ficker zu lesen ist. Diese Synopsis zeigt, dass sich die Aufzeichnungen weitgehend decken: Stölzls Notizen scheinen unmittelbarer nach der Vorlesung geschrieben worden zu sein, die von Ficker zeitlich ferner. Nur manchmal notieren beide Hörer unterschiedliches: Da wo Stölzl verstand, dass der US-amerikanische Präsident sich bei seiner „ungeheuren Machtfülle“ auf „das Vertrauen der Millionäre stützt“, notierte Ficker, dass er sich auf „das Vertrauen der Millionen“ stützt. Wir werden es nie erfahren, was Weber wirklich sagte, da wir über kein Manuskript aus Webers Hand verfügen.
Lernt der Laie etwas aus diesem Band? Wohl kaum, außer so manchen historischen Details aus der „Einleitung“, in der sich der Herausgeber zu den allgemeinen historischen Umständen und den biografischen Zusammenhängen dieser Vorlesung äußert. Dennoch kann man sich an diesem Dokument von Webers (vermutlich) gesprochenem Wort erfreuen, es vermittelt eine anschauliche Vorstellung davon, was und wie Weber in dieser Vorlesung vortrug. Es demonstriert, wie didaktisch geschickt der Herr Professor vorging, indem er beispielsweise seinen Zuhörern eingangs die rhetorische Frage stellte: „Woran denkt der Mensch bei ‚Staat‘?“, und sein studentischer Mitschreiber Stölzl sich in seine Kladde notierte: „1) Schule: Prügelchancen, 2) Schutzmann: Die wollten, daß der Schutzmann kommt, 3) Militärdienst, 4) Steuer, 5) Gericht; Gesetze.“
Wer jedoch zuverlässig wissen will, was Weber zu „Staat“, „Herrschaft“ und „Parteien“ zuletzt dachte und schrieb, wird die einschlägigen Passagen aus „Wirtschaft und Gesellschaft“ lesen müssen, insbesondere seine „Soziologischen Grundbegriffe“ (Kapitel I) und seine „Typen der Herrschaft“ (Kapitel III), die in der MWG als Band I/23 angekündigt sind und als Band I/22-4 „Herrschaft“ erschienen sind (siehe literaturkritik.de 4/2006). Wer diese Texte kennt, sieht, dass Weber in seiner Vorlesung nichts anderes machte, als seine eigenen Notizen zu seinen gleichzeitig laufenden Arbeiten für die geplanten Beiträge aus dem „Grundriß der Sozialökonomik“ mit ausschmückenden Bemerkungen zu aktuellen Beispielen vorzutragen. In genau dieser Zeit schrieb Max Weber die ersten drei Kapitel seiner neuen Fassung für „Wirtschaft und Gesellschaft“ und stimmte ganz offensichtlich seine Vorlesungen darauf ab. Auf der Basis der fertigen Revision der Druckfahnen zum ersten Kapitel seiner „Soziologischen Grundbegriffe“ las er seine Vorlesung zur Staatssoziologie. Im Vortrag setzt Weber zudem zahlreiche tagesaktuelle Akzente, so seine Bemerkungen zu Kurt Eisner, Matthias Erzberger, Paul von Hindenburg, Lenin, Robert Walpole, David Lloyd George, und insbesondere zu William Ewart Gladstone, der für Weber in dieser Vorlesung zum Prototyp eines Staatsmannes wird, der in der Lage sei, sich im Zeitalter demokratischer Massenstaaten charismatisch zu bewähren, und zu dem sich der Student Ficker notierte: „Der letzte Parteiführer“.
Der Weber-Forscher wird sich nicht nur über die dem Band beigelegte CD-ROM freuen, sondern auch über so manchen Fund, der in diesem Band dokumentiert ist, so etwa die Ergebnisse der Auswertung der Quästur-Akten der Münchner Universität, das Auffinden zweier bislang nicht bekannter „Aufrufe“ in den „Münchner Neuesten Nachrichten“ und der „München-Augsburger Zeitung“, die Max Weber unterzeichnet hat, Hinweise auf die Lebensläufe einiger seiner Münchner Hörer, insbesondere von George W. F. Hallgarten, Max Rheinstein, Julie Meyer-Frank, Percy Ernst Schramm, Ernst Correll, Arnold Bergstraesser, Carlo Mierendorff und Hans Frank (!), dem späteren Generalgouverneur im besetzten Polen während des Zweiten Weltkriegs, und das Faksimile der handschriftlichen Ankündigung der Lehrveranstaltungen Max Webers im Sommersemester 1920. Und dann: Wer von uns Heutigen kann schon die Gabelsberger Kurzschrift entziffern? Schon dafür gebührt dem Herausgeber und seinem Zuarbeiter Andreas Terwey, vor allem aber dem Herrn Ministerialrat i.R. Horst Grimm, großer Dank. Wer sich testen will, möge das Faksimile der ersten Seite der Stölzl-Mitschrift auf Seite 64 studieren.
Moniert werden müssen allenfalls kleine, betrübliche Nachlässigkeiten: So hieß der Münchner Student, der bei der Trauerfeier für Max Weber auf dem Münchner Ostfriedhof am 17. Juni 1920 eine Rede hielt, nicht Georg von Kapherr, sondern Jörg Freiherr von Kap-herr, – ein Schreibfehler, den schon Marianne Weber machte und der seitdem ständig in der Literatur weitergeschleppt wird, wie so viele der Irrtümer der Witwe und Nachlassverwalterin. Bei den Sitzungen der Kommission im Berliner Reichsamt des Inneren zur Beratung der Grundzüge einer künftigen Reichsverfassung, bei der Max Weber als einziger nicht-amtlicher Teilnehmer dabei war, beteiligten sich insgesamt dreizehn Experten (MWG I/16: 52) und nicht elf, wie Hübinger schreibt. Den Ruf nach München nahm Weber nicht „um den 15. März“ 1919 an, sondern exakt am 26. März 1919 (einen Tag nach seiner Absage des Rufs nach Bonn), mit vereinbartem Dienstantritt zum 1. April 1919.
Umkreisende Vorträge über „Die Entzauberung der Welt“
Bereits in meiner letzten Sammelbesprechung von Weber-Publikationen wurde ein Sammelband genau gleichen Titels rezensiert: das Bändchen mit zehn Studien des Göttinger Neuzeithistorikers Hartmut Lehmann zu Themen von Max Weber, basierend auf Vorträgen, die Lehmann im Zeitraum 2004-2007 an unterschiedlichen Orten gehalten hatte. (siehe literaturkritik.de 4/2010) Die gesammelten Texte Lehmanns kreisen mäandernd um das Thema der „Entzauberung der Welt“, wie es Max Weber am prägnantesten sowohl in der Druckfassung seiner legendären Rede über „Wissenschaft als Beruf“ von 1919 als auch in der Endfassung seines berühmten Textes über „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ von 1920 formuliert hat. Die klassische, immer wieder zitierte Passage aus der Rede lautet: „Es ist das Schicksal unserer Zeit, mit der ihr eigenen Rationalisierung und Intellektualisierung, vor allem: Entzauberung der Welt, daß gerade die letzten und sublimsten Werte zurückgetreten sind aus der Öffentlichkeit […]“. Der Historiker Hartmut Lehmann hatte in seinen Texten mehrfach den Soziologen Wolfgang Schluchter kritisiert, so beispielsweise für dessen Behauptung, dass Weber der Begriff der „Entzauberung der Welt“ bereits vor 1913 vertraut gewesen sei, für die Schluchter nach Lehmanns kritischer Ansicht keine empirischen Belege präsentiere.
In meiner Rezension des Lehmann-Bändchens war es mir ein Anliegen gewesen, der nicht so informierten Wissenschaftsöffentlichkeit wenigstens anzudeuten, welche Zufälligkeiten und Machtkämpfe hinter den Kulissen der MWG ihre zuweilen entscheidenden Rollen spielen. Es geht dabei unter anderem um die nicht ganz unbedeutende Frage, wer die seit Jahrzehnten angekündigten Bände zu seinen diversen Studien zur „Protestantischen Ethik“ (PE) herausgeben wird, die auf zwei Teilbände verteilt werden sollen: Band I/9 („Asketischer Protestantismus und Kapitalismus. Schriften und Reden 1904-1911“) und Band I/18 („Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus / Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus. Schriften 1904-1920“). Für viele Jahre war Hartmut Lehmann, ehemaliger Direktor des (ehemaligen) Max Planck-Instituts für Geschichte, mit dieser Aufgabe betraut gewesen. In der aktuellen Internet-Ausgabe der Ankündigung des Verlags Mohr-Siebeck findet sich nun der Name von Wolfgang Schluchter als Herausgeber dieser beiden Bände, mit dem Zusatz „In Planung“.
Mit diesem Wissen im Hinterkopf durfte man zu Recht gespannt darauf sein, was einer der Hauptherausgeber der MWG und der designierte Herausgeber der PE, in einem Buch mit dem gleichen Titel wie dem des ausgebooteten ehemaligen Herausgebers publizieren würde. Es sind insgesamt sechs Studien, die aus Vorträgen entstanden sind, die der seit 2006 emeritierte Heidelberger Soziologe Schluchter in den Jahren 2007-2009 gehalten hat; unter ihnen beispielsweise sein Vortrag „Was heißt politische Führung? Max Weber über Politik als Beruf“, den er am 21. Juni 2007 in der Stadtbücherei Stuttgart hielt. Der Herausgeber charakterisiert das Vorhaben seines Sammelbändchens so, dass sie das Weber’sche Werk, insbesondere dessen Religions-, Wirtschafts- und Herrschaftssoziologie „umkreisen“, und dass es ihm um die Fortsetzung seiner Versuche gehe, „Aspekte des Weberschen Werkes zu interpretieren und zu explizieren“.
Insgesamt bleibt als Fazit, dass es in der Tat um weitgehend einführende, umkreisende Referate Weber’scher Texte und Themen geht, verbunden mit „gewagten Konjekturen“ und einer Mehrzahl schematischer Darstellungen. Dass es dabei vor allem um die Protestantismus-Studien geht, versteht sich schon durch den Titel von selbst, die aktuelle Leserschaft wird allerdings Probleme beim eigenständigen Nachforschen haben, zitiert Schluchter doch durchgehend nach der Textausgabe von 1920 und die „Kritiken und Antikritiken“ nach der schon seit Jahrzehnten vergriffenen Ausgabe beim Siebenstern Taschenbuch Verlag (EA 1968, 4. Aufl. 1982), – ungeachtet der Tatsache, dass es bereits seit 2004 eine aktuelle und vollständige Ausgabe aller dieser Texte gibt, derzeit in der dritten Auflage.
Es kann hier nicht darum gehen, die sechs Vorträge Schluchters im Einzelnen durchzugehen, darum seien nur wenige Lesefrüchte präsentiert. Auch ohne Nennung der früheren Kritik von Lehmann – der nur einmal als Mitherausgeber eines Sammelbandes in den Fußnoten genannt wird – gewinnt der Leser den Eindruck, dass Schluchter diese beherzigt hat, indem er einleitend feststellt: „Im Jahre 1913 spricht auch Max Weber öffentlich von Entzauberung, und dies zum ersten Male.“ Dies ungeachtet der Tatsache, dass Schluchter noch 1989 behauptet hatte, dass Weber mit diesem Begriff bereits vor 1913 vertraut gewesen sei. Hatte Lehmann nachzuweisen gesucht, dass Weber diesen Begriff möglicherweise vom niederländischen Theologen Balthasar Bekker (1634-1698) übernommen habe, so offeriert Schluchter in einem Vortrag an der Heidelberger Universität über „Die Entzauberung der Welt: Max Webers Sicht auf die Moderne“ eine alternative Spekulation. Er verweist auf das Buch von Emil Cohn, der „unter dem Pseudonym Emil Ludwig“ im Jahr 1913 über „Wagner oder die Entzauberten“ publizierte – diese Angabe ist irreführend: Der Vater von Emil Ludwig, der jüdische Augenarzt Hermann Cohn (1838-1906), hatte bereits 1883 den Namen Ludwig angenommen, so dass Emil Ludwig schon als solcher geboren wurde – und suggeriert, dass es „nicht ausgeschlossen“ sei, dass Weber sich für dieses Buch interessierte, spätestens seit seiner „Freundschaft“ mit der Pianistin Mina Tobler, mit der er, in Begleitung seiner Frau Marianne Weber, 1912 nach Bayreuth zu den dortigen Festspielen gefahren sei.
Neben mancherlei derartigen reiz- und geistvollen Spekulationen – „vermutlich Adolf von Harnack folgend…“; „Ich halte dies [die Aussage Max Webers vom Juni 1915, dass ihm das Leben noch „etwas schuldig sei“;] für einen Schlüssel zu Webers Lebensgefühl“; „Möglicherweise wäre Weber, wenn er noch lebte, heute für mehr ‚plebiszitäre Demokratie‘ eingetreten.“ –, braven seminarartigen Referaten der einschlägigen Weber-Texte, endlosen Verweisen auf Schluchters bisherige Publikationen (19 Positionen im Literaturverzeichnis, in dem Webers Publikationen mit 24 Titeln genannt werden) und einer nicht kleinen Anzahl wörtlicher Wiederholungen, findet der Weber-Kenner in keinem der Vortragstexte von Schluchter etwas Neues. Die Leserschaft, die die einschlägigen Weber-Texte (immer noch) nicht kennt, ist mit den Originalen sehr viel besser bedient.
Die leicht penetrante Einordnung der Weber’schen Arbeiten in Schluchters Korsett eines soziologischen „Makro-Mikro-Makro-Modells“, eines „zweiseitigen Mehr-Ebenen-Ansatzes“, „einer strukturalistisch-individualistischen verstehenden Soziologie, die nach dem Dreiklang von Interessen, Ideen und Institutionen in historischen Konstellationen sucht“, ist nicht nur anmaßend und anachronistisch, sie ist auch nicht sonderlich hilfreich für ein weiterführendes Verständnis der Schriften Webers selbst. Sie ist allenfalls notwendig für ein Verständnis der jahrzehntelangen Bemühungen Schluchters um seine eigenen „Grundlegungen der Soziologie“ auf der Basis einer kantianisierend interpretierten Soziologie Max Webers.
Zahlreiche Druckfehler findet der aufmerksame Leser in dieser Sammlung, darunter auch recht erheiternde, so etwa der gegen die englischen Übersetzungen der PE gerichtete, (sprach-)kritische Hinweis darauf, dass die Aufsatzfolge der einschlägigen Texte Webers aus den Jahren 1904/05 – „mangels Sprachkenntnissen“ – in den englischen Übersetzungen „in splended [sic!] isolation“ erschienen seien, oder wenn über die „utilitarische“ [sic!] Wendung der Berufsidee bei Weber geschrieben wird, mit dem belehrenden Hinweis: „man denke an die Verstellung [sic!] des homo oeconomicus“.
Sehr viel weniger amüsant ist jedoch die Tatsache, dass mit dieser hier anzuzeigenden Sammlung nicht wirklich erkennbar ist, in welche Richtung die von Schluchter übernommene Edition der PE im Rahmen der MWG gehen wird. Geradezu beunruhigend sind beispielsweise die Hinweise darauf, dass auch Schluchter immer noch vollkommen naiv der Meinung zu sein scheint, dass die Interpretation des amerikanischen Aufklärers und Revolutionärs Benjamin Franklin in den famosen Schriften Max Webers nicht auf dessen vollkommener Fehleinschätzung der Franklinschen Schriften beruht. Erst kürzlich hat Heinz Steinert überzeugend gezeigt, dass Weber nicht nur unfähig – oder nur unwillig? – gewesen war, die spöttische Ironie Benjamin Franklins zu erkennen, sondern zudem auch das Opfer der Franklin-Verhunzung durch den Trivialautor Ferdinand Kürnberger in seinem Roman „Der Amerikamüde“ von 1855 geworden war (siehe die Arbeit von Steinert).
Wenn Schluchter die „andauernde Aktualität“ der Aufsatzfolge Webers zur Kulturbedeutung des Protestantismus beschwört, so wird er als Herausgeber einer Historisch-Kritischen Edition eben dieser Texte zeigen müssen, wie sehr ihm deren politische und kontextuelle Einordnung bewusst ist. Der hier rezensierte Band jedenfalls stimmt den begleitenden Weber-Forscher eher sorgenvoll, vor allem angesichts der Tatsache, dass gerade dieser Herausgeber seit Beginn seiner Mitarbeit an der MWG betont hat, dass man den Wert einer Edition danach bemessen werde, „wie weit sie nach objektiven Regeln nachprüfbare Ergebnisse zeitigt, den editorischen Schatten sichtbar macht“. Es wird spannend werden, welchen „Schatten“ gerade diese Editorenhand über die zweifellos berühmtesten Arbeiten Webers werfen wird, vor allem dann, wenn in einer aktuellen Selbstdarstellung der Entstehung der MWG seitens ihrer Münchner Arbeitsstelle postuliert wird, dass es zur philologischen Meisterschaft gehöre, „den letztgültigen Willen eines Autors besser zu kennen als er selbst“.
Ein englischer Historiker kritisiert Weber und seine deutschen Editoren und Interpreten zugleich
Als der englische Historiker Peter Ghosh über den deutschen Gelehrten Max Weber in seinem Beitrag für die „Encyclopedia of Historians and Historical Writing“ (Routledge 1999) schrieb, dass es bei diesem Unterfangen das fundamentale Problem sei, inwiefern man über Weber überhaupt als Historiker reden könne, verwies er auf die Tatsache, dass dieser als Student, Promovend und Habilitand der Rechtswissenschaft angehörte und dass seine professorale Tätigkeit durchgehend auf dem Gebiet der Nationalökonomie gelegen habe. Nähme man jedoch zur Kenntnis, dass Weber daran geglaubt habe, dass aktuelle Phänomene nur im Licht ihrer historischen Entwicklung verstanden werden können, schlussfolgerte Ghosh, dass Weber sehr wohl als Historiker betrachtet werden könne, wenn auch eher „im weiteren Sinne“. Mit dem hier anzuzeigenden Buch mit dem programmatischen Titel „A Historian Reads Max Weber“ dokumentiert Ghosh seine Ergebnisse solcher Lesart: Markig kündigt er an, Weber „uncompromisingly historical“ lesen und interpretieren zu wollen.
Peter Ghosh (Jahrgang 1954) lehrt seit 1982 als Tutor am renommierten Oxforder St. Anne’s College, bekleidet dort die Position des „Jean Duffield Fellow in Modern History“ und unterrichtet vor allem Lehramtsstudierende auf den Gebieten Modern Social and Political Theory. Aufgefallen ist Ghosh bislang mit Studien über Edward Gibbons und Benjamin Disraeli und vor allem durch leidenschaftliche Verrisse der Arbeiten von Richard Evans und Peter Clarke im „London Review of Books“. Seinen eigenen, unfreiwilligen Zugang zu Weber fand der Engländer Ghosh seinen eigenen Ausführungen nach durch die zwangsweise Nötigung im Examination Decree der University of Oxford, also eine Art von obligatorischem Lehrplan für Dozenten, in dem Webers Schriften – gewiss in englischen Übersetzungen – auf der obligatorischen Leseliste stehen.
Mit einem Aufsatz von 1994 über die bei Weber-Forschern sattsam bekannten Probleme der ersten englischen Übersetzung der PE aus dem Jahr 1930 durch den amerikanischen Soziologen Talcott Parsons – bis 2001 die einzige englische Fassung dieser gerade im anglo-amerikanisch-englischsprachigen Raum so überaus populären Schrift – trat Ghosh in das Feld der internationalen Weber-Forschung. Ganz offensichtlich als Zwischenergebnisse der Arbeiten an seiner eigenen Übersetzung der PE ins Englische, die seit Jahren bei Oxford University Press angekündigt ist, verfasste Ghosh eine Serie von neun Aufsätzen, die im hier anzuzeigenden Sammelband versammelt wurden. Sie ist zugleich der erste von inzwischen sechs Bänden einer neuen und anspruchsvollen Serie für „Kultur- und sozialwissenschaftliche Studien“, die von den drei deutschen Weber-Forschern Stefan Breuer, Eckart Otto und Hubert Treiber herausgegeben wird.
Wer in die Werkstatt dieser geplanten Übersetzung schauen möchte, ist mit diesem Sammelband, soweit er die wiederabgedruckten Aufsätze aus den Jahren 2003-2006 noch nicht kannte, sehr gut bedient. Gleich einleitend ertönt jener Paukenschlag, der durchgängig in den versammelten Texten durchgehalten wird: „the Protestant Ethic, perhaps more than any other item in Weber’s oeuvre, has remained to a large extent terra incognita. In any historical perspective it is neither elementary nor known.“
Gerade der deutsche Weber-Forscher reibt sich bei dieser Behauptung die Augen, lässt den Blick über die 23 Seiten Literaturangaben schweifen, wie sie Heinz Steinert im oben erwähnten Buch über die PE-Literatur zusammengestellt hat, und studiert umso aufmerksamer die Arbeitsergebnisse des englischen Historikers, der sich vorgenommen hat, diese (angeblich) so unbekannte Welt der Weber’schen Studien zur Kulturbedeutung des Protestantismus zu erforschen. Ghoshs Texte weisen ihn als einen der ganz wenigen Historiker aus, die Quentin Skinners Methode der ideengeschichtlichen Erschließung von Texten allein aus ihrem zeitgenössischen Kontext heraus anwenden. Ghosh versteht seine geplante Übersetzung der PE somit als Werkzeug des „Kommentators“; dabei geht es ihm darum, Gedankengänge, die vielleicht nur wegen der Routinen des akademischen Unterrichts und der ritualisierten Klassikerverehrung selbstverständlich scheinen, der heutigen Leserschaft neu zu erschließen.
Insgesamt finden sich dementsprechend Aufsätze über Max Webers (nach Ghosh: irregeleitete) Vorstellung vom englischen Puritanismus, über Webers (nach Ghosh: bislang vernachlässigtes) Verhältnis zu den Niederlanden, das nach Ghoshs Interpretation jedoch von entscheidender Bedeutung für die PE war, über den Vortrag Webers vom 21. September 1904 über „The Relations of the Rural Community to other Branches of Social Science“ anlässlich der Weltausstellung in St. Louis – die britische Unterkühltheit der schneidenden und wohlbegründeten Kritik an der Herausgeberschaft Wolfgang Schluchters eben dieses Textes in Band 8 der MWG ist ein Juwel: „There are editorial reasons for this; but the text remains a casuality nonetheless“ – über die (nach Ghosh: bislang vollkommen verfehlte) Einordnung des Judentums in der PE, über das Verhältnis Max Webers zum deutschen Theologen Matthias Schneckenburger, dem die Interpretation des Protestantismus durch Weber viel verdankte, über die Nachwirkungen der Arbeiten von Jacob Burckhardt über die italienische Renaissance auf die Konstruktion der PE, das komplizierte und eher oppositionelle Verhältnis Webers zum berühmten Buch des amerikanischen Religionspsychologen William James „The Varieties of Religious Experience“ (EA 1902), den Weber in Boston im Oktober 1904 persönlich traf, und abschließend eine Studie über das komplizierte Verwobensein der Anfänge der österreichischen Grenznutzentheorie vor allem bei Carl Menger einerseits, andererseits der Interpretation der Figur des Robinson Crusoe von Daniel Defoe im Werk des von Weber zitierten Edward Dowden, der 1900 eine Studie über Puritaner und Anglikaner publiziert hatte, und dazu noch Webers Interpretation dieser beiden disparaten Texte: eine „ménage à trois“, wie Ghosh das nennt.
An vielen Stellen dieser Aufsätze begegnet dem Leser die Fußnote: „I discuss this subject in my Commentary to the PE“. Dass die „empirische Basis“, also die historischen Fakten, auf die Weber sich in seinen Aufsätzen bezog, schwach, konstruiert und teilweise schlichtweg falsch sind, ist keine sonderlich neue Erkenntnis, wie die oben genannte Studie von Heinz Steinert soeben wieder aktuell gezeigt hat. Wenn nun also ein Historiker wie Ghosh diesen Text sorgfältig liest und alle (?) angegebenen Quellen Webers daraufhin überprüft, ob sie historisch korrekt und haltbar sind, kann eigentlich nur herauskommen, dass Webers Konstruktion eine grandiose Fehlkonstruktion war. Webers Originalität, die Ghosh in seinen Anläufen durch Vergleiche mit Webers Referenzgrößen bestimmt, so mit Jacob Burckhardt, William James oder der österreichischen Grenznutzenlehre, liegt auch nach Ghosh weniger in seiner historischen Korrektheit, sondern in seiner Kühnheit der begrifflichen Montage, die sich um die Herkunftszusammenhänge ihres Materials nicht sonderlich kümmerte. Webers Wissenschaft habe eher im Dienst eines politischen Wirkungswillens gestanden. Ghosh zielt mit seinen quellenkritischen Studien nicht auf die Destruktion der Weber’schen Studien, sondern vor allem auf die teilweise unverantwortlichen, weil heutigen wissenschaftlichen Standards nicht genügenden Arbeiten der Editoren und Interpreten der Weber’schen Arbeiten. Mit Hilfe seiner Herangehensweise einer „Textual microscopy“ liest ein englischer Historiker deutschen Sozialwissenschaftlern, allen voran den Weber-Forschern Wolfgang Schluchter, Wilhelm Hennis, Joachim Radkau, Edith Hanke, mit streckenweise schneidender und ironischer Tonlage die Leviten, was ihre unhistorischen Vorgehensweisen angeht.
Allein sein brillanter Exkurs zur Frage, ob Max Weber den öffentlichen Brief des US-amerikanischen Präsidenten Theodore Roosevelt vom 16. November 1905 über die gelungene und unauflösbare Assimilation der Juden in die US-amerikanische Gesellschaft gekannt hat oder nicht – Ghosh argumentiert, dass er ihn gekannt hat – beweist, wie hilfreich die hier dokumentierte skrupulös historistische Lesart sein kann. Man wird somit auf die Ergebnisse des Vorhabens von Peter Ghosh gespannt sein dürfen, als einem der mehreren Ein-Mann-Betriebe der Weberforschung, seiner „Translation as a conceptual act“ für unser Neuverständnis der PE. Sie können und dürfen nicht ohne Auswirkung auf die beiden angekündigten Bände der MWG sein. Gerade die genaueste historische Erforschung dieses folgenreichen Textes, der heute dominant als fragloser Bestandteil des sozialwissenschaftlichen Kanons gelesen wird, kann auch als Bewährungsprobe deutscher Gelehrsamkeit gewertet werden, vor allem dann, wenn man bedenkt, dass sie im Rahmen eines Forschungsgroßvorhabens geschieht, das vor fast 40 Jahren begann und mit einem heute nicht mehr abzuschätzenden, enormen Aufwand an Geld und Personal betrieben wird.
Erinnert sei daran, dass Max Weber selbst der fachlichen Auseinandersetzung mit seinen zeitgenössischen Kollegen aus der Geschichtswissenschaft absichtsvoll aus dem Weg gegangen war: Als er eingeladen worden war, seine PE-Studien auf dem Stuttgarter Deutschen Historikertag im Februar 1906 zu präsentieren und zu verteidigen, sagte er ab und verwies stattdessen auf den „Fachmann“, seinen Freund, den Theologen Ernst Troeltsch. Nach dem tragischen Tod Wolfgang J. Mommsens (1930-2004), der eben diese kritische Rolle des Historikers im Rahmen der MWG so überaus ertragreich übernommen hatte, erscheint es als Glücksfall, dass durch die Arbeiten von Peter Ghosh, der sich an einigen Stellen auf die Vorarbeiten der Historiker Hartmut Lehmann und Michael Matthiesen beruft, die Latte höher als je zuvor liegt. Eine seiner schneidend scharfen Fußnoten macht deutlich, worum es Ghosh insgesamt zu tun ist: „theory plus a dash of history (the reading of a canonical author from the past according to a present-day theoretical agenda) does not produce history.“
Weitere Literatur
Heinz Steinert: Max Webers unwiderlegbare Fehlkonstruktionen. Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. 332 S. 29,90 EUR. Frankfurt am Main / New York: Campus Verlag 2010. ISBN 978-3-593-39310-0
Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Vollständige Auflage. Herausgegeben und eingeleitet von Dirk Kaesler. 432 S. 17,95 EUR. 3. Aufl. München: C.H. Beck 2010. ISBN 978-3-40660200-9
|
||||||