Alptraumkomik
Kleine Prosa von Urs Widmer
Von Klaus Hübner
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Alle kennen jenes Spiel, bei dem man, um den Tisch herum sitzend, dem Nachbarn einen Satz ins Ohr flüstert, den dieser, so wie er ihn eben verstanden hat, dem Nächsten zuflüstert, und so weiter“, schreibt der mittlerweile 73-jährige Urs Widmer in der Einleitung zu seinem Prosa-Experiment „Stille Post“. 1994 schickte er einen schönen Text mit dem Titel „Erste Liebe. Ein Brauch“ nach Spanien, China, England, Russland und Frankreich, wo sich namhafte Übersetzer seiner annahmen.
Und siehe da, als die Geschichte zurück in die Schweiz gelangte, da hatte das liebe Kind seine Unschuld verloren. Wie es kam, „dass sich meine unschuldige Geschichte in etwas verwandelt hat, was sich wie eine Mischung aus einer Fingerübung des jungen Gustav Schwab und einem Beitrag für ein Lexikon der Volksbräuche liest“, kann man im letzten Teil des Buchs in allen Einzelheiten verfolgen. Sogar ein paar Buchseiten in chinesischer und kyrillischer Schrift sind dabei: die Übertragung aus dem Spanischen ins Chinesische von Liu Xiaopei und die aus dem Englischen ins Russische von Dimitri Ukow. „Nette Idee das“, könnte man mit Widmers Landsmann Robert Walser sagen, der in seiner Novelle „Kleist in Thun“ (1907) den Versuch Heinrich von Kleists, Bauer zu werden, so kommentiert hat. Ein ebenso wohlwollender wie süffisanter Kommentar, mit dem man auch das neue Widmer-Buch bedenken könnte – vor allem wenn man auf die Zusammenstellung der Texte schaut, die auf den ersten Blick nichts Zwingendes hat. „Stille Post“ versammelt, vor dem titelgebenden Übersetzungsspaß, zehn weitere Prosatexte, darunter nur zwei zuvor noch nicht veröffentlichte. Die anderen sind bereits in Zeitungen und Zeitschriften erschienen. „Helden“, der älteste, in dem die Schweiz nicht gut wegkommt und der Leser ein wenig zu oft direkt angesprochen wird, stammt aus dem Jahr 1969.
Brillante Gelegenheitsarbeiten sind dabei, eine Hommage an Johann Peter Hebel etwa oder eine urkomische Erzählung über das Ende Richards III., auch eine fast dreißig Jahre alte ab- und hintergründige Betrachtung der biblischen Schöpfungsgeschichte und manches aus dem im Jahr 2000 bei Sanssouci erschienenen „Buch der Albträume“. Vermischte Schriften eben, Erzähl- und Sprachspiele, wie immer bei Widmer nicht ohne Eleganz und schon gar nicht ohne Witz. Aber auch nicht ohne Ernst: „Macht und Ohnmacht“ etwa ist eine hochpolitische und tiefschwarze Persiflage auf alle despotischen Regimes dieser Welt – ein sprachmächtiges Sprechstück, das sich gewaschen hat und ganz schön unter die Haut geht. Dass Urs Widmer immer schon ein scharfer Kulturkritiker war, wird auch im neuen Buch deutlich – die fatalen Auswirkungen von Kommerzialisierung und Globalisierung werden von ihm mehrfach aufs Korn genommen. Auch die scheinbar harmlosen: „Heutzutage essen die Menschen in Bülach Litschi oder Sushi mit Stäbchen, und in Kathmandu verschlingen sie Fondue mit Schweizer Offiziersmessern, deren Zahnstocher sie für Fonduegabeln halten“.
Dass der auch international hoch angesehene und vielfach ausgezeichnete Literat noch immer zu Bestform auflaufen kann, beweisen die erstveröffentlichten Texte. In „Grappa und Risotto“, einem wunderbaren Wörterkatarakt aus dem Inneren einer italienischen Familie, gibt es einen einleitenden Satz, und dann kommt neun Seiten lang kein Punkt mehr vor – höchst amüsante, im Duktus der Mündlichkeit rhythmisierte Prosa vom Feinsten. Der beste Text im neuen Buch aber ist der erste. „Reise nach Istanbul“ heißt er und fängt so an: „Ich weiß nicht mehr, wann ich dies erlebte: kürzlich jedenfalls, gestern vielleicht, jeden Tag“. Realität und Traum, Lust und Angst, Leben und Tod, Raum und Zeit verwirren und vermischen sich auf das Herrlichste in diesem kleinen Sprachkunstwerk, mit dem ein souveräner Autor auf grandiose Weise zeigt, was er kann. Alles auf dieser so beklemmend wie höchst komisch anmutenden „Reise nach Istanbul“ ist traumlogisch verrückt, und wer hier an Alfred Kubins großen Roman „Die andere Seite“ denkt, liegt gewiss nicht falsch. Keine Sorge, am Ende kommt der Ich-Erzähler doch noch in Istanbul an. Eine abenteuerliche Bahnreise? Trifft es nicht ganz. „Meine Frau war eine Greisin geworden, und meine Tochter eine Frau. Sogar das Stoffferkel, das meine Tochter mit einer Hand herumschlenkerte, hatte die Haare und auch sein Ringelschwänzchen verloren. – Wir umarmten uns, als sei nichts gewesen, und schon während wir den Bahnhof verließen, war uns klar, dass tatsächlich nichts gewesen war“.
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