Die dunklen Seiten der Zivilisation

Henning Ritter skizziert in seinem Buch „Die Schreie der Verwundeten. Versuch über die Grausamkeit“ eine Geschichte des Mitleids im 19. Jahrhundert – und Kevin Vennemann wirft einen Blick auf das, was Hollywood später daraus machte

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sklavenhalter und Folterkönige: Von Abu Ghraib zu Quentin Tarantinos „Django Unchained“

Henning Ritters Studie „Die Schreie der Verwundeten“ scheint als „Versuch über die Grausamkeit“ aus verschiedenen Gründen gut in unsere Zeit zu passen. Nicht nur die Wahrnehmungen und Darstellungen des Krieges werden seit Jahren in kultur-, literatur- und medienwissenschaftlichen Untersuchungen mit besonderer Intensität erforscht, sondern auch die Emotionen haben Konjunktur, und zwar last but not least auch in der Geschichtswissenschaft. Was lösten die „Schreie der Verwundeten“ bei den historischen Zeugen ihrer Leiden aus? Wurden diese Qualen überhaupt wahrgenommen? Unter welchen Bedingungen wurde damals ein Gefühl wie Mitleid möglich? Kann man daraus etwas darüber lernen, wie eine derartige Emotion heute entsteht, da uns die Welt offensichtlich kaum weniger grausam erscheint als früher, viele Menschen aber nur noch mit den Achseln zucken, wenn die Nachrichten ihnen alltäglich mitteilen, wieviele Opfer die Bürgerkriege in Syrien oder Afghanistan soeben wieder gefordert haben?

Dies sind Fragen, die sich dem Leser aufdrängen, der Ritters Buch zur Hand nimmt. Hinzu kommen Nachrichten von Gräueln, die den Titel seiner Studie ins Licht einer geradezu brennenden Aktualität zu rücken scheinen: Die Folter-Enthüllungen von Abu Ghraib im Jahr 2004 sind noch lange nicht vergessen, da werden auch schon neue Details über so genannte „Black Sites“ bekannt. Gemeint sind damit brutalste Folterzentren im Irak, die offenbar bis in die höchten Kreise des US-Militärs im Pentagon bekannt waren, ja von dort aus sogar geplant und organisiert worden sein sollen.

Abu Ghraib war also, wie uns dieser Tage erneut vor Augen geführt wird, wohl nur die Spitze des Eisberges eines weitverzweigten, klandestinen Netzwerkes von Tortur-Zentren, das der US-Geheimdienst auch in anderen Ländern unterhielt – nicht nur im Irak. Damit soll nicht gesagt sein, dass die USA einsame Rekordhalter im Foltern seien: In diktatorischen Staaten wie Libyen, Syrien oder Ägypten beispielsweise sind willkürliche, körperzerstörende Formen der Strafe ohnehin an der Tagesordnung. Je nach weltpolitischer Wetterlage machten sich auch westliche Staaten die ‚Verhörmethoden‘ und die gefürchteten Geheimverliese solcher Länder zu Nutze, indem sie Verdächtige einfach dorthin abschieben ließen, um ihnen ‚Behandlungen‘ zuteil werden zu lassen, die mit dem eigenen Recht nicht im Entferntesten vereinbar gewesen wären.

Inwiefern und wie weit etwa auch deutsche Geheimdienste mit dem CIA oder vergleichbaren Organisationen kooperierten, denen solche Ermittlungsmethoden nachgesagt werden, mit denen sie im „War on Terror“ generalstabsmäßig Menschenrechte verletzten beziehungsweise möglicherweise nach wie vor mit Füßen treten, sei dahingestellt: Die Enthüllungen über die Rolle des Verfassungsschutzes, des BND und des MAD in der Geschichte der Mordserie des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) deutet jedenfalls nicht unbedingt darauf hin, dass Deutschlands Nachrichtendienste nach den Grundsätzen der Bergpredigt handeln.

Kirchenkritiker würden an der Stelle allerdings zu Recht darauf hinweisen, dass es gerade das Christentum war, dass jahrtausendelang die allergrößten Verbrechen begangen hat, ohne sich um den biblischen Grundsatz, den Nächsten zu lieben wie sich selbst, auch nur im Geringsten zu scheren. Oft sind es gerade Weltanschauungen mit den rigidesten ethischen Grundsätzen, welche die schlimmsten Gräuel begehen, als handele es sich dabei um die größte Selbstverständlichkeit: Offenbar hat sich daran seit dem Mittelalter mit seiner barbarischen Kultur des Strafens bis zum heutigen Tag kaum etwas geändert. Immer wieder schlug in der Moderne die „Dialektik der Aufklärung“ erbarmungslos zu, wie Theodor W. Adorno und Max Horkheimer die Möglichkeit und Realität von Auschwitz in ihrer gleichnamigen Studie umschrieben.

Verändert haben sich also seither nur die Orte und die Kommunikationsformen der Gewalt und der Grausamkeit, nicht aber ihre Qualität, die im Alltag der ‚zivilisierten‘ Welt zwar als geächtet gilt, dort aber andererseits zumindest durch die Medien alltäglich präsent geblieben ist: Zwar wird nicht mehr auf den Marktplätzen westlicher Städte öffentlich gefoltert – aber Fotos, Digitalkamerafilme und social networks stellen mittlerweile eine weit größere und leichter verfügbare Publizität von Gräueln aus aller Welt her, als es sie jemals zuvor gegeben hat. Die schwer einschätzbare ‚Virtualität‘ dieser Zeugnisse legt für die Betrachter, die sich weit entfernt vom tatsächlichen Geschehen wähnen, jedoch einen Schleier der Unwirklichkeit über das, was sie sehen. Wenn sie es denn überhaupt wahrnehmen möchten.

Auch das Kino reagiert auf solche Entwicklungen. Mit dem Film „Zero Dark Thirty“ von Kathryn Bigelow etwa hat die US-Folterdebatte erneut für internationale Aufmerksamkeit gesorgt und wurde kritisch wiederaufgenommen. Wer Quentin Tarantinos blutrünstigen Revenge-Film „Django Unchained“ gesehen hat, könnte zudem meinen, selbst hier, in diesem komödiantisch daherkommenden Kasperletheater, werde Abu Ghraib mittlerweile ganz selbstverständlich ‚zitiert‘: Die auf Fotos aus dem berüchtigten irakischen US-Gefängnis dokumentierte Foltermethode, Gefangene nackt an den Füßen aufzuhängen und so, in dieser totalen Ausgeliefertheit, nach allen nur erdenklichen Regeln der Kunst zu misshandeln, wird bei Tarantino dem Helden Django (Jamie Foxx) zuteil, wobei ihm beinahe mit einem glühenden Messer die Geschlechtsteile abgeschnitten werden. Tarantino schwelgt danach, wie so oft in seinen Filmen, in der Inszenierung wildester Rache-Affekthandlungen, die den Zuschauer dadurch emotionalisieren, dass der Protagonist den ‚Bösen‘ all das, was sie ihm und seiner Ehefrau antaten, am Ende ordentlich heimzahlt: So bekommt der Folterer mit dem Messer zuletzt eine Kugel zwischen die Beine, ehe er sterben muss. „Geschieht ihm recht!“, denkt dabei auch der Zuschauer, während der sterbende Bösewicht wie am Spieß schreit und der Rezipient im Kinosessel begeistert die Faust ballt. Ende gut, alles gut?

Die dunkle Seite der Moral

Man muss Tarantino zugute halten, dass „Django Unchained“ eine der beeindruckendsten Inszenierungen alltagskultureller Aspekte der jahrhundertelang währenden Sklavenhaltergesellschaft in den Südstaaten der USA darstellt, die man in den letzten Jahren gesehen hat – auch wenn es sich bei dem Plot um eine rein fiktive Geschichte handelt, die in ihren vielen Pointierungen, Übertreibungen und Figurenkarikaturen vor allem auf die gezielte Emotionalisierung des Zuschauers setzt, der gemeinsam mit dem ,schwarzen’ Protagonisten und dessen ,weißem’ Mentor Dr. King Schultz (Christoph Waltz) helle Freude über die Racheszenarien empfinden soll, auf welche die Handlung mehrfach zuläuft. In früheren Filmen, die in den historischen Südstaaten spielten, wurden diejenigen, die primär unter den Bedingungen ihrer bizarren Unterdrückungsrealität zu leiden hatten, dagegen kaum je mit ernstzunehmenden – sprich: zur emotionalen Anteilnahme des Zuschauers geeigneten – Rollen repräsentiert. ‚Schwarze‘ kamen im Hollywood-Kino in den ersten Jahrzehnten ohnehin so gut wie nie vor, und wenn, dann meist nur als stereotype Nebenfiguren oder als Bösewichte, wie Kevin Vennemann in seinem hybriden Buch „Sunset Boulevard. Vom Filmen, Bauen und Sterben in Los Angeles“ erinnert, in dem er die Geschichte dieses kulturellen Rassismus-Codes im Kino skizziert. ‚Rezensiert‘ werden kann der Band an dieser Stelle nicht, da der Verfasser den Autor mittlerweile persönlich kennt – es sei lediglich für einen einführenden Seitenblick auf das herangezogen, was aus der von Henning Ritter betrachteten Geschichte des 19. im darauf folgenden 20. Jahrhundert wurde beziehungsweise was für Inszenierungen daraus in der ‚Weltwahrnehmungs-’ und ,Gefühlsmaschine‘ des Kinos resultierten.

Vennemann entdeckt in seiner Betrachtung der Behandlung von Grausamkeiten und der Konstruktion von ethnischen Differenzen im Hollywood-Kino nämlich einen Widerspruch, der auffälligerweise auch in Ritters Buch zum Thema wird. Gemeint ist die Verbindung demokratischer Fortschrittlichkeit mit gleichzeitigen Diskriminierungen, welche akute Blindheiten gegenüber dem Leid ausgegrenzter Menschen erzeugen: Joseph Ignatius Breen (1888-1965), der seit den 1930er-Jahren zwanzig Jahre lang der Production Code Administration vorstand und so etwas wie der Oberzensor Hollywoods war, hatte demnach mehr Einfluss auf die „Standardisierung allen Denkens der Welt als: Mussolini, Hitler oder Stalin, mehr Einfluss sogar als der Papst“. Neben Breens Vorgaben zum Umgang mit konkreten Todesszenarien, die in US-Filmen weitgehend ausgeblendet werden mussten, betraf die von ihm angeregte Selbstzensur Hollywoods nicht zuletzt den Umgang mit ‚schwarzen‘ Darsteller/innen. Im Unterschied zum demografischen Alltagsbild der US-Gesellschaft beschloss man deren weitgehende Abwesenheit, jedoch im gleichzeitigen größtmöglichen Respekt vor „sämtlichen nationalen Gefühlen und vor den Befindlichkeiten sämtlicher Ethnien und Hautfarben“. Ein seltsamer, geradezu „schizoider“ Kurzschluss zwischen postulierter Gleichheit und tatsächlicher Diskriminierung also: Genau genommen habe Breens „Code sein Hollywood instruiert, engstirnig vorzugehen und zugleich vorurteilsfrei zu sein, rassistisch und zugleich tolerant“, wie Vennemann referiert.

Noch der Ausnahme-Auftritt ‚schwarzer‘ Darsteller/innen in Hollywood-Produktionen unterstrich, zumindest bis in die 1950er- und 1960er-Jahre hinein, eine unhintergehbare Kluft zwischen ihnen und den ‚weißen‘ Protagonist/innen: „Die Differenz ist natürlich offenkundig in zahllosen anderen Hollywood-Filmen jener Zeit und heute, egal wo sie spielen, wovon sie handeln. Eine Ausnahmeanwesenheit mag auf nichts anderes verweisen als auf absolute und nie hinterfragte Code-Zugehörigkeit, die nur die Gelegenheit nutzt, völlig gedankenlos und rein affirmativ ihren einsamen schwarzen Protagonisten die inferiorsten und demütigendsten Rollen zuzuweisen. Weil man es so macht. Weil es so ist.“

Tarantino hat diese rigiden Vorgaben in „Django Unchained“ – wie auch schon in seinem Film „Jackie Brown“ (1997) – erneut missachtet, und er macht in seiner burlesk überzeichneten mise en scène der historischen Südstaatengesellschaft auf verblüffende Weise den gesellschaftlichen Rahmen erfahrbar, der es einst ermöglichte, dass ‚Schwarze‘ als nicht betrauerbare, nicht menschlich wahrgenommene, beliebig quäl- und tötbare Wesen unter ‚Weißen‘ gehalten werden konnten wie planmäßig zu Tode geschundene Nutztiere der alleruntersten Stufe. Es verwundert an der Stelle übrigens nicht, dass listige deutsche Journalisten den Regisseur in der Pressekonferenz nach der deutschen Premiere seines Filmes fragten, ob er meine, dass man die US-Sklaverei mit dem Holocaust vergleichen könne. Fatalerweise antwortete Tarantino darauf mit einem Ja.

Selbstverständlich ist dieser unhistorische Vergleich aus verschiedensten Gründen unhaltbar. Gleichwohl sind Assoziationen der Shoah nach 1945 kaum zu vermeiden, wenn man Filme wie die Tarantinos ansieht, der sich zuletzt in „Inglourious Basterds“ (2009) sogar explizit mit dem Holocaust-Thema beschäftigte. Und auch Vennemanns Buch verstörte die Literaturkritik bereits mit seinen Holocaust-Assoziationen, welche der Autor mit seiner Betrachtung der Mord- und Sterbeszenarien in Filmen verknüpft, die in Los Angeles spielen.

Alexis de Tocquevilles Blick auf die US-Demokratie

Anhand der Schriften Alexis de Tocquevilles, der im 19. Jahrhundert die amerikanische Demokratie besichtigte und restlos bewunderte, nähert sich auch Henning Ritter dem Thema des extremen Rassismus in den Südstaaten der USA. Die dortige Sklavenhaltergesellschaft wirkte wie eine dunkle Seite jener an sich fortschrittlichen Zivilisation, die Tocqueville, der aus der französischen Restauration nach 1789 nach Amerika kam, so sehr faszinierte. Für ihn waren die USA zunächst einmal der Versuch einer Demokratie, wie sie in Europa trotz der Französischen Revolution noch gar nicht verwirklicht worden war.

Wie war es aber nun möglich, dass inmitten dieser gelebten Aufklärung ein derart widersprüchliches System der Barbarei wie das des Sklavenhandels so lange aufrecht erhalten werden konnte? Laut Tocqueville vermochten es die Amerikaner, ihrer Vernichtung der ‚Indianer‘ und ihrem Umgang mit den Sklaven den Anstrich gesetzmäßiger Regelhaftigkeit zu verleihen: „Sie bedienten sich der Legalität als Mittel der Eroberung. Krieg und Kultur gingen dabei eine neue Art von Verbindung ein. Im Schutz – oft manipulierten und erschlichenen – Legalität glaubten sie, sich auf sicherem Boden zu bewegen, und demütigten die Besiegten ein weiteres Mal“, paraphrasiert Ritter den frühen Politikwissenschaftler Tocqueville. Diese Beobachtungen gipfeln schließlich in dessen Satz: „Man könnte die Menschen nicht mit mehr Ehrfurcht vor den Gesetzen der Menschlichkeit vernichten.“

Tocqueville erkennt also den Grund für die spielende Leichtigkeit der US-Landnahme im 18. und 19. Jahrhundert darin, dass die Akteure sich als Demokraten selbstverständlich im Recht sahen, sich als Bringer von Kultur und Zivilisation wahrnahmen. Wer sich ihnen in ihrer Mission entgegenstellte und nicht assimilieren wollte, musste die Folgen tragen. So konnte die Vernichtung der indigenen Bevölkerung im Zeichen der Moral geschehen – und man mag erwägen, ob auch nicht der „War on Terror“, den George W. Bush begann, mit seinen überaus fragwürdigen Ergebnissen aus einem ganz ähnlichen ‚Sendungsbewusstsein‘ heraus geführt wurde. Der ,schizoide’ Glaube daran, selbst auf der Seite der fraglos ,Guten’ zu stehen, macht die Wahrnehmung bösen, barbarischen Handelns auf der eigenen Seite unmöglich.

Ritter zitiert Hannah Arendt: „Während das Mitleid für die Französische Revolution ‚eine Art Selbstverständlichkeit‘ gewesen sei, habe es in der amerikanischen Revolution keine Rolle gespielt. Man habe die Sklaven nicht weiter beachtet, obwohl es schon in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts bei einer Gesamtbevölkerung von zwei Millionen Weißen etwa vierhunderttausend schwarze Sklaven gab.“ Man habe, so referiert Ritter John Adams, die ‚Schwarzen‘ einfach nicht ‚gesehen‘: „Das Elend der Sklaven wurde nicht wahrgenommen, so daß, wie Hannah Arendt meint, ‚die stärkste und vielleicht gefährlichste aller revolutionären Leidenschaften, die Leidenschaft des Mitleidens‘, in Amerika keine Rolle gespielt habe. Denn die Leiden anderer Menschen müssen, um empfunden zu werden, zuerst wahrgenommen werden.“ Tocqueville habe dieses Ausbleiben des Mitleids gegenüber den ‚Schwarzen‘ als bloßen Sklaven damit erklärt, dass „zwischen ihnen und den Weißen keine Gleichheit herrschte“.

Was wie eine Banalität klingen mag, ist auch heute nicht aus der Welt, wie die neuesten Nachrichten über die „Black Sites“ – oder auch die NSU-Morde und den bezeichnenden Umgang deutscher ‚Ermittler‘ mit diesen Fällen – auf ernüchternde Weise zeigen: Grausamkeiten und Menschenrechtsverletzungen entstehen immer in solchen Zonen, in denen bestimmte Gruppen ausgegrenzt, isoliert und missachtet werden, um sie gar nicht erst wahrnehmen zu müssen. Gesellschaften, die solche Blindheiten kultivieren, kennen kein Mitleid mehr gegenüber solchen Minderheiten, die in ihnen ganz einfach nicht zählen.

Beobachten kann man dies nicht nur in den US-Kriegen seit dem 11. September 2001, in denen anscheinend jeder, der in den besetzten Ländern auch nur entfernt verdächtig erschien, umgehend in Folterverliesen ‚verschwinden‘ konnte: Es gilt offensichtlich auch für nicht unerhebliche, weil teils mit beachtlicher administrativer Macht ausgestattete Kreise der Berliner Republik.

Fokus auf das 19. Jahrhundert

Ritters Buch verharrt allerdings in einer eher kursorischen Darstellung gesellschaftlicher und philosophischer Wahrnehmungen der Grausamkeit im 19. Jahrhhundert, und zwar seit der Französischen Revolution. Das wäre kein Kritikpunkt. Angesichts der Kürze seines wohl bewusst nur bescheiden als „Versuch“ gekennzeichneten Buchs erstaunt es allerdings mitunter, wie weit Ritter in seinen eher lose aneinander gereihten Kapiteln abschweift: Im ersten Drittel behandelt der Autor das Scheitern der Französischen Revolution weniger im gezielten Blick auf den ausufernden Guillotinen-Terror, der Arendts Behauptung einer spezifischen Kultivierung des Mitleids in der Französischen Revolution in Frage stellt, als dass er sich mit der persönlichen Geschichte Robespierres beschäftigt, mit den Utopien der Freiheit und der Friedlichkeit sowie mit der Entstehung der Demokratie in Europa und den USA.

In einem Kapitel über Schopenhauers Mitleidsphilosophie geht es schließlich sogar ausführlich um Tierquälerei: „In den Zeitungen, aus denen Schopenhauer sein Bild von der moralischen Beschaffenheit der Welt gewann, hatte sie einen festen Platz. Das menschliche Verhalten zu den Tieren war für ihn der genaueste Indikator der wahren Verfassung der Moral, und er pflegte Weltanschauungen und Religionen danach zu beurteilen, wie sie sich zu Tieren verhielten. Für ihn war es der gewichtigste Einwand gegen Christen- und Judentum, daß sie dem außermenschlichen Leben, im Gegensatz zu den Religionen Asiens, die Schopenhauer in dieser Hinsicht als vorbildlich rühmte, so wenig Achtung entgegenbrachten.“

An der Stelle zitiert Ritter allerdings kommentarlos einen Wutausbruch Schopenhauers, der zeigt, dass auch jemand, der sein Herz für Tiere entdeckt hat, keineswegs davor gefeit ist, gleichzeitig gewisse Gruppen von Menschen zu perhorreszieren, die in deutschen Landen bereits 1819 wieder einmal Opfer von weitreichenden Pogromen geworden waren und die diskriminiert wurden wie kaum eine andere Minderheit. Die Rede ist von ,den Juden‘, die bei Schopenhauer mit einem alten antisemitischen Stereotyp belegt werden und bei ihm die hauptsächliche Schuld an aller Tierquälerei zu tragen scheinen, weil ihr angeblicher Geruch auch den Christen die Sinne für eine Wahrnehmung dieses Mangels an Mitleid vernebele: „Man muß wahrlich an allen Sinnen blind oder vom ‚foetor iudaicus‘ (Knoblauchgeruch) total chloroformiert sein, um nicht zu erkennen, daß das Wesentliche und Hauptsächliche im Tiere und im Menschen dasselbe ist“, geifert Schopenhauer.

An solchen Stellen würde man sich als Leser doch wünschen, dass Ritter genauer reflektieren würde, wo die Vergleichbarkeit oder auch die Widersprüchlichkeit verschiedener Mitleids-Diskurse des 19. Jahrhunderts eigentlich lag. Es ist nicht der naheliegende, hier jedoch fehlende Ausblick auf unsere Zeit, der an Ritters Buch zu monieren ist, sondern es ist die teils doch etwas willkürlich erscheinende Auswahl von Autoren und Themen, die der Autor in seinem Band unvermittelt nebeneinanderstellt.

Umso wichtiger ist deshalb Ritters Kapitel über die ‚Entdeckung‘ der Leiden der Verwundeten in den Schlachten von Solferino und im Krimkrieg. Henri Dunant und Florence Nightingale heißen hier die Protagonisten – zwei Menschen, die sich in ihrer Zeit als erste für die Verwundeten an den genannten Kriegsschauplätzen zu interessieren begannen, als es noch gang und gäbe war, Verletzte einfach auf dem Schlachtfeld liegen und jämmerlich krepieren zu lassen.

Das Rote Kreuz entstand auf Dunants Wirken hin: In seinem Buch „Un Souvenir de Solferino“ beschrieb der Autor seine Beobachtungen während einer der blutigsten Schlachten Napoleons im 19. Jahrhundert, die insgesamt etwa 80.000 Todesopfer forderte: 40.000 während der Kampfhandlungen, und noch einmal ebensoviele danach, die mangels medizinischer Hilfe an ihren Verletzungen starben. Hier begann also die Wahrnehmung eines Elends, für das man zuvor noch genauso blind gewesen war wie für die Verbrechen der Sklavenhaltergesellschaft in den USA. Unter anderem entstand diese neue Sensibilität allerdings auch schlicht deshalb, weil die Zahl der Todesopfer, die die modernisierten Kriege der Zeit forderten, auf monströse Weise angewachsen war. Schon ein Jahr nach der Veröffentlichung von Dunants Buch trat jedenfals in Genf die erste Rotkreuz-Konferenz zusammen, wie Ritter erinnert. So konnte am 22. August 1864 die Genfer Konvention verabschiedet werden.

Ritters Abhandlung endet schließlich mit einigen kurzen Kapiteln über Charles Darwin. An der Stelle fragt man sich erneut, was diese emphatischen Ausführungen über die Evolutionstheorie denn nun genau mit dem Thema des Buches – der Grausamkeit – zu tun haben sollen. Bisweilen stellt sich der Eindruck eher gelegenheitsmäßiger Betrachtungen geistes- und wissenschaftsgeschichtlicher Aspekte ein, die mit dem im Titel des Buches angekündigten Sujet nur noch mittelbar zu tun haben. Gewiss: Bei der „Affenfrage“ nach der Abstammung des Menschen und den hitzigen Folgedebatten ging es nicht zuletzt um Darwins Relativierung der Vorstellung, die Menschheit sei in ‚Rassen‘ aufteilbar. All dies hing im 19. Jahrhundert mit der Ermöglichung oder dem Vergessen von Mitleid untrennbar zusammen: Wer an ‚Rassen‘ und den ‚Kampf ums Dasein‘ glaubte, den interessierten unter Umständen auch die „Schreie der Verwundeten“ nicht mehr.

Mitunter verliert Ritter jedoch eine thetische Pointierung und zielgerichtetere Verbindung der verschiedenen Exkurse seines Essays zu sehr aus dem Blick: Der langjährige verantwortliche Redakteur für „Geisteswissenschaften“ in der „F.A.Z.“ kann ohne Frage gut schreiben und vermittelt dem Leser viele Einblicke in die Geschichte des Rassismus, der Wissenschaft, der Philosophie und der Demokratie im 19. Jahrhundert. Die im Titel annoncierte Studie über die Grausamkeit aber, die etwa an aktuelle kulturwissenschaftliche Fragestellungen explizit anschlösse und ihr Thema unter Berücksichtigung der betreffenden Forschung zupackender anginge, hat er überraschenderweise überhaupt nicht verfasst. So moniert selbst Ulrich Greiner in seiner geradezu hymnischen Ritter-Rezension in der „Zeit“, dass der Autor komplett auf Fußnoten verzichtet habe: „Das macht es dem unkundigen Leser schwer, die Fundstücke durch eigene Lektüre zu vertiefen. Fußnoten scheinen derart in Misskredit geraten, dass seriöse Autoren vor ihnen fliehen.“

Vielleicht war es aber auch gar nicht die Absicht des Verfassers, ein dezidiertes Buch über die Grausamkeit zu schreiben. Greiner zum Beispiel liest den Band eher als eine elegante Vertiefung von Ritters zuvor verfasstem „Versuch über das Mitleid“ (2004). Möglicherweise war es das Lektorat des C. H. Beck-Verlags, welches nunmehr das Thema von Ritters Solferino-Kapitel herausgriff und aus marktstrategischen Erwägungen zu jenem vielversprechenden Titel verdichtete, der nunmehr das Cover des Buches ziert. Mangels eines Vorworts des Autors oder sonstiger systematischer Erläuterungen zum Vorgehen seiner Darstellung ist dies für die Leser/innen von Ritters Buch jedoch nicht zu ergründen. Der Band macht alles in allem eher den Eindruck, aus früheren Einzelbeiträgen oder Vorstudien zu unterschiedlichen Interessengebieten des Verfassers ausgearbeitet worden zu sein, um diese schließlich doch mehr schlecht als recht unter einem Titel zu bündeln, der streng genommen nur zu einem Kapitel des Buches wirklich passt.

Titelbild

Kevin Vennemann: Sunset Boulevard. Vom Filmen, Bauen und Sterben in Los Angeles.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.
185 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783518126462

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Henning Ritter: Die Schreie der Verwundeten. Versuch über die Grausamkeit.
Verlag C.H.Beck, München 2013.
190 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783406645563

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