Was Literatur alles weiß

Ein interdisziplinäres Handbuch beobachtet Wissensgebiete und ihre Darstellungsverfahren

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Handbücher sind spezielle Bücher. Sie versprechen hoch verdichtetes, geprüftes Wissen und einen möglichst umfassenden und zuverlässigen Überblick – gegeben von Experten über ein als wichtig erachtetes Forschungsgebiet. Winzig sollte das Forschungsgebiet für ein Handbuch nicht sein. Doch kann das zu kondensierende Gebiet von mittelgroß (sagen wir: die Elfriede Jelinek-Forschung, zu der gerade ein Handbuch erschienen ist) bis sehr groß ausfallen. Sehr weiten Wissensfeldern, zu denen es tausende Bücher und Hunderttausende Einzelaufsätze gibt, widmet sich etwa das Metzler Handbuch Literaturwissenschaft. Auch das vorliegende Metzler Handbuch „Literatur und Wissen“ umfasst weitläufige Wissensbereiche. Denn es überfliegt nicht nur ein in den letzten Jahren boomendes Forschungsfeld der Literaturwissenschaftler, die den je spezifischen Wissensumgang von Autoren und literarischen Texten rekonstruierten. Es integriert darüber hinaus die Ergebnisse der allgemeinen wie der disziplinspezifischen Wissenschaftsgeschichtsforschung. Diese war in den letzten Dekaden erstens vom linguistic (und dann auch noch vom pictorial) turn geprägt, das heißt, sie betonte die sprachliche oder bildliche Determinierung der Wissensgewinnung und Wissensverbreitung. Sie war zweitens jüngst vom einem materialistischen Blick auf epistemische Praktiken, Dinge und Netzwerke geprägt – sie untersuchte also, welche Konstellationen von Menschen, Laborräumen, Werkzeugen und Maschinen erst ,epistemische Objekte‘ und dann Wissen hervorbrachten.

Handbücher werden in der Regel gesammelt und publiziert, wenn eine Form des Wissens reif geworden ist. Sie erscheinen, wenn so viele einzelne Forschungen vorgelegt wurden, dass ein Überblick wünschenswert, zugleich aber auch schwierig geworden ist, weil im angeschwollenen Wissensfeld Orientierung für den Einzelnen nicht mehr leicht ist. Seit 1997 erscheint das Jahrbuch „Scientia Poetica“, das der Erforschung der Zusammenhänge von Literatur und Wissensformen gewidmet ist. Ralf Klausnitzer legte 2008 eine umfassende Einführung in „Literatur und Wissen“ vor, Tilmann Köppe edierte 2011 einen wichtigen Sammelband. Das neue, noch weit materialreichere und systematischer angelegte Handbuch erklärt gleich eingangs, dass das titelgebende Forschungsprogramm, das seit knapp 20 Jahren ein stark beforschtes disziplinäres Grenzgebiet ist, noch lange nicht abgehakt ist. Viele der grundlegenden Begriffe und Interdependenzen der Agenda, die verschachtelten Zusammenhänge von Literatur und Wissen zu ermitteln, seien weiterhin umstritten, ein Konsens kaum erreicht.

Das Handbuch wurde von den im Forschungsfeld ausgewiesenen HerausgeberInnen Borgards, Neumeyer, Pethes und Wübben in fünf Bereiche gegliedert. Die ersten 50 Seiten, „Ansätze“, erörtern methodische Einsatzpunkte. Nach einer das gesamte Feld strukturierenden Einführung über „Literatur und Wissen nach 1945“ gibt es kompakte Artikel zu 9 Ansätzen, darunter „Erzählung“, „Metapher“, „Denkfigur“, „Materialitäten“ und „Poetologie des Wissens“. Während es hier – als Vorspiel auf der Meta-Ebene – vorrangig um Gegenstandsbestimmungen, Methoden und Zugangsweisen der Wissens-Wissenschaftler und Beobachtungsbeobachter ins Grenzgebiet von Literatur und Wissen geht, bringt der vierte Handbuchabschnitt „Verfahren und Formen“ 11 Artikel zu Stichworten, Schreib- und Wissenspraktiken, auf die sowohl die Literatur wie die Wissenschaften ständig zurückgreifen. Hier finden sich Stichworte wie „Kreativität“, „Beobachten“ (der längste Beitrag des Handbuchs) oder „Beispiel“, aber auch Zwitter-Gattungen wie „Essay“, „Fallgeschichte“ oder „Protokoll“.

Den Hauptteil des Buches bilden Überblicksartikel zu einzelnen Wissensfeldern, ihrer Historie und ihren Bezügen zur Literatur. Hier finden sich 16 Beiträge zu wissenschaftlichen Disziplinen von der Anthropologie bis zur Zoologie, dazwischen nicht nur Mathematik, Medizin und Ökonomie, sondern auch Meteorologie, Physik und Politikwissenschaft. Diesen meist als fest etablierte akademische Fachwissenschaften firmierenden Disziplinen stehen 9 „Paradigmen“ genannte Wissensfelder zur Seite, die für die Literaturgeschichte bedeutsam sind oder waren, deren epistemischer Status aber fraglicher oder historisch datierter ist, als bei den Disziplinen. Hier liest man Erhellendes über alte Diskursfelder wie „Mythologie“, „Astrologie“ oder „Theologie“, aber auch über transdisziplinär neue Wissensdiskurse wie Normalismus, Kybernetik, Ecocriticism oder Evolution.

In diesem materialen Mittelteil des Handbuchs fehlen Beiträge zu den Disziplinen Philosophie und Geschichte, was explizit erklärt wird mit der Begründung, sie seien „in einer totalisierend intensiven Weise mit Literatur verbunden“. Ohne eine solche nachvollziehbare Begründung fehlen zudem ein eigener Betrag zur Linguistik / Sprachwissensschaft oder auch zu ihren älteren Vorläuferinnen der Rhetorik oder Philologie. Dafür werden einige Leitbegriffe aus dem – für Literatur gewiss besonders wichtigen – Bereich des Wissens von der Sprache als eigenständige „Ansätze“ mit je eigenem Beitrag quasi als Methoden des Forschungsfelds „Literatur und Wissen“ gründlich erklärt; so: „Diskurs“, „Erzählung“, „Metapher“, „Schreiben“. Eine ähnlich versteckt-zerstreute Präsenz lässt sich im Hinblick auf das akademische wie gesellschaftliche Trendgebiet der Medien beobachten, die als solche keinen eigenen Handbucheintrag über ihren Beitrag zum Wissen der Literatur erhielten – wiewohl selbstredend in den Einträgen zu „Poetologie des Wissens“, „Materialität“, „Praktiken“, „Schreiben“, im Verfahren der „Popularisierung“ und im Paradigma „Kybernetik“ die eminente Rolle von Speicher- und Kommunikationsmedien immer wieder betont wird. Immerhin helfen ein Namensregister und ein Disziplinenregister am Ende des Buches beim Auffinden bestimmter Autoren oder Gebiete. Wobei hier nun die Linguistik und auch die Geschichtswissenschaft auftauchen, nicht aber die altehrwürdige Rhetorik und auch nicht die neumodischen Medien. Zur noch besseren Benutzbarkeit wäre wohl auch ein Register mit Gattungs-Stichworten willkommen (zur schnellen Auffindbarkeit von Science Fiction, Drama, Lyrik, Roman, Essay, Fallgeschichte, Parodie, Satire et cetera).

Überraschend für ein Handbuch ist, dass neben den systematischen Stichworten mehr als ein Viertel des Buches aus 23 „exemplarischen Lektüren“ besteht. Hier wird an kanonischen Texten (wie Goethes „Wahlverwandtschaften“, Melvilles „Moby Dick“ oder Grimmelshausen „Simplicissismus“) aber auch an weniger bekannten Werken (beispielsweise Becketts „Actes sans Paroles“ oder Ulrike Draesners Roman „Mitgift“, als jüngstem berücksichtigten Werk aus dem Jahr 2002) meist ganz anschaulich und überzeugend vorgeführt, welches Wissen aus welchen Wissenschaften die literarischen Werke verwenden, problematisieren und produzieren. Vor allem aber auch, wie poetische und ästhetische Darstellungsweisen diese Wissensdiskurse prägen – sowohl in den Arbeiten der angeeigneten Wissenschaften wie in den Umschriften der Literaten.

Viele dieser Modellinterpretationen, die vorführen, wie eine zugleich wissens- und formgeschichtliche Literaturwissenschaft sich kulturgeschichtlich öffnen kann, ohne ihre philologischen Kernkompetenzen zu verleugnen, zeichnen sich durch hohe Erkenntnisdichte und gut nachvollziehbare Argumentationsgänge aus. Genannt seien hierfür etwa die überaus kundigen Lektüren und Kontextualisierungen von Büchners „Woyzeck“ (Yvonne Wübben), Stifters „Nachsommer“ (Michael Gamper), Zolas „Docteur Pascal“ (Safia Azzouni) oder Jules Vernes „Reise zum Mittelpunkt der Erde“ (Peter Schnyder). Die seltene Ausnahme bildet ein peinlicher Detailfehler in Britta Hermanns exemplarischer Lektüre von Mary Shelleys „Frankenstein“. Hier wird behauptet, in diesem 1818 publizierten Text gäbe es neben anderen intertextuellen Bezügen auch solche auf Goethes Homunculus-Figur. Diese wird fälschlich in „Der Tragödie erstem Teil“ (1808) verortet und ebenso falsch als Geschöpf des Teufelsbündlers Faust bezeichnet. Tatsächlich ist der Homunculus bei Goethe das Produkt des ehemaligen Faust-Famulus Wagner, und dieser kreiert seinen Homunculus erst im Zweiten Teil der Tragödie. Die Homunculus-Szenen im 2. Akt des „Faust II“ entwarf Goethe 1826-1827, überarbeitete sie 1829 und las sie Eckermann im Dezember 1829 vor. Publiziert wurde dies alles erst postum. Mary Shelley konnte mithin Goethes Homunculus-Figur 1818 schwerlich gekannt oder verarbeitet haben.

Eine zweite Auflage dieses insgesamt nützlichen, verlässlichen und ungemein informativen Handbuchs wird diesen Lapsus am germanistischen Zentralmassiv des „Fausts“ (dem keine exemplarische Lektüre gewidmet ist) gewiss beheben. Und wenn wir gerade beim Wünschen sind, vermerken wir gleich noch einige füllenswerte Lücken dieses Kompendiums, das jetzt schon umsichtig und kompakt gefügt ist. Im gewichtigsten zweiten Abschnitt zu den Wissens-Disziplinen und ihren Austauschprozessen mit der Literaturgeschichte findet sich wohl die Geologie, doch fehlt die Geografie. Bezüge zu dieser zeigen sich zwar in den Disziplinen-Kapiteln zur Geologie, Meteorologie, Ethnologie. Doch wäre eine direkte Verhandlung der Geografie gewiss angesagt, wo doch gerade der Spatial Turn, der Trend zur Interkulturalität und manche Studie der Postcolonial Studies im literaturwissenschaftlichen Rahmen sich dezidiert mit Wissensformen der Geografie auseinandersetzen. Ferner fehlt die Chemie (mit der Begründung, sie habe weniger stark auf die Literatur gewirkt als die Medizin). Und der Alchemie gilt auch noch kein eigener Beitrag als Paradigma, wiewohl sie im Register fünf Mal, verstreut über das Handbuch, aufgeführt wird.

Zwar gibt es keine akademische Disziplin der Dummheits- oder Unwissenheitsforschung, doch würde dem Handbuch-Anspruch vielleicht als „Ansatz“ oder als „Paradigma“ auch ein Kapitel zu den literarisch so fruchtbaren Gegenbegriffen des Wissens gut anstehen. Unwissen, Dummheit, Wahnsinn, Narrheit – nur gelegentlich, vor allem in den exemplarischen Analysen des fünften Teils, blitzt in diesem Handbuch am Rande auf, dass Literatur seit jeher (und forciert in der Moderne mit der Ausdifferenzierung und systemischen Konkurrenz von Literatur und Wissenschaften) gerade auch das Nichtwissen, das scheiternde Wissen-Wollen, die Mad Scientists und die Niederlagen des Denkens mindestens so eindringlich verhandelt wie die Vermittlung stabilen, wahren und nützlichen Wissens. Einen anregenden Entwurf zu einer Literaturgeschichte der Dummheit und des Unwissens legte unlängst Achim Geisenhanslüke vor. Im vierten Abschnitt „Verfahren und Formen“ läse vermutlich nicht nur der Rezensent gerne auch noch ein Kapitel über Wissenschaftssatiren. Die Nichtberücksichtigung dieser altehrwürdigen Gattung ist schade, weil doch gerade die komisch-kritische Beleuchtung von Wissen und Wissenschaftlern in literarischen Texten oder auf Theaterbühnen oft die wunden Punkte und blinden Flecke von Wissenschaftssystemen oder Wissenschaftler-Verhaltensweisen decouvrierten und inszenierten.

Dieses Handbuch erscheint in einer Reihe von interdisziplinären Handbüchern des Metzler Verlags, die sich solch lebensnahen wie wissenschaftlich herausfordernden Gegenständen wie der „Biographie“, der „Angst“, dem „Glück“ oder der „Evolution“ widmen. Wie es sich für kulturwissenschaftliche Handbücher gehört, wird dabei stets nicht nur der gegenwärtig gültige Stand des Wissens über diese Denk- oder Gefühlsfiguren vorgetragen. Vielmehr werden historische Formationen und Transformationen dieser heute noch beschäftigenden Leitbegriffe und Forschungsfelder gründlich nachgezeichnet.

Die Lektüre dieses insgesamt gelungenen und empfehlenswerten Überblicksbuchs kann ein studium generale fast ersetzen. Man lernt hier sehr viel – nicht nur über einen Reigen einzelner Wissensgebiete, sondern vor allem über jene jegliches Wissen überhaupt erst herstellenden, speichernden und verbreitenden Praktiken und Mittel, zu denen unabdingbar die Sprache gehört. Neben und hinter Geräten, Maschinen und Computern ist es zuerst und zuletzt immer wieder die Sprache mit ihrem Reichtum an Formen und Potentialen, die Wissen ermöglicht und trägt. Literarische Autoren als Spezialisten der Sprachverwendung, als Erbwalter und Experimentatoren des Sagbaren wussten nicht nur Sprache artistisch zu handhaben. Sie nutzten dieses Wissen auch dafür, vielfältiges anderes Wissen zu vermitteln oder zu kritisieren; gelegentlich auch, dieses zu finden. Dieses Handbuch zeigt, besser als jedes andere Buch, warum und wie Literatur enge Beziehungen zur Wissenschaftsgeschichte unterhielt. Es bietet heutigen Lesern vielfältige Werkzeuge und Einstiegsorte, diese historischen Wissensbestände der Literatur aufzuschließen und zugleich die Literarizität und Ästhetik von Wissensformen zu reflektieren.

Titelbild

Roland Borgards / Harald Neumeyer / Nicolas Pethes / Yvonne Wübben (Hg.): Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2013.
440 Seiten, 69,95 EUR.
ISBN-13: 9783476023711

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