Der Augenblick zählt

Über Momente, die das Leben beherrschen, schreibt Selja Ahava in ihrem Debüt „Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm“

Von Elisabeth BökerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Elisabeth Böker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Anna ist eine alte Frau, die im Altenheim lebt, als Gott sie mit einem riesigen goldenen Blumenstrauß besuchen kommt. Er tritt genau zum richtigen Zeitpunkt ein, denn Anna braucht eine Person, die ihr mit einer lieben Geste die kleinen Freuden des Lebens im tristen Seniorenheimleben zeigt. Aber vor allem ist Gott die Person, mit der Anna die Erlebnisse aus ihrem Leben teilen kann.

Bruchstückhaft ziehen die Erinnerungen aus ihrem Leben an Anna vorbei. Dazu zählen die schönen Momente mit ihrem Mann Antti. Besonders die, die sie auf dem Felsen in ihrem Sommerhäuschen verbrachten. Doch ein Unfalltod zerriss die große Liebe. Für Anna brach die Welt zusammen, wie die finnische Autorin Selja Ahava anschaulich beschreibt:

„Anna dachte immer nur an den nächsten Tag, und jeder Tag enthielt ein Stück Tod. Antti starb nicht nur in allem, in dem er da gewesen war, sondern brachte sich auch in all dem in Erinnerung, was nicht getan worden war. Was immer Anna auch anfing, es war stets ein Beweis für das, was sie verloren hatte. Jeder Atemzug, der nächtliche Schlaf und das Einkaufen – alles bedeutete einen weiteren Schritt von Antti weg. Denn Antti war stehen geblieben, aufgeprallt, zerquetscht, auf der Stelle erstarrt. Anna ging weiter, weiter fort. Sie versuchte es jedenfalls.“

Es ist tatsächlich mehr ein Versuch als ein Gelingen, das Leben alleine weiter zu betreiben. Anna ist nach dem Unfalltod ihres Mannes eine Frau ohne Rast und Ruhe. Sie kann kaum noch klare Entscheidungen treffen, muss sie es doch einmal tun, entzieht sie sich der Situation. Sie schafft es nicht mehr, sich selber zu finden, zur Ruhe zu kommen, ein eigenes, neues Leben aufzubauen. Wohin gehört sie nun nach dem Tod ihres Mannes? Was soll sie nun machen, nachdem all die gemeinsamen Pläne nicht mehr zu verwirklichen sind? Anna weiß es nicht.

So beginnt die Protagonistin in andere Welten zu flüchten: Es ist zum einen eine Fantasiewelt mit ihren sechs Fantasiekindern, die ihr nach und nach wieder etwas Lebensmut spenden. Zum andern flüchtet sie ganz real aus Finnland nach London, um sich dort ein neues Leben aufzubauen.

Anfangs scheint es dort sogar mit dem neuen Leben zu gelingen, sie jobbt in einem Café und findet einen neuen Freund. Und sie erlebt den Moment mit, an dem ein Wal durch London schwamm. „Das ist ein Augenblick, von dem noch die Rede sein wird“, kommentiert der Busfahrer das Ereignis. Es ist auch der einzige Moment, an dem Annas Erinnerungen ganz klar sind, alle anderen Erinnerungen geben meist Rätsel für den Leser auf.

Kurze Zeit später flieht Anna erneut aus ihrem neu aufgebauten Leben. Über Umwege kehrt sie nach Finnland zurück, wo sie nun im hohen Alter im Altenheim lebt.

Diese Geschichte erfährt man in einzelnen Bruchstücken. Ausgangspunkt und Ende des Romans ist der Besuch von Gott. Es sind Momentaufnahmen aus Annas Leben, stark szenisch gestaltet, die Ahava zu dieser Geschichte zusammensetzt. Nicht chronologisch werden sie erzählt, sondern genau so, wie man sich es von einer alten Frau mit Alzheimer vorstellt: durcheinander, unsortiert. Aber eben das gelingt der 40-jährigen Autorin so gut, dass man mit den einzelnen Stücken nach und nach Annas Geschichte enträtselt und sie zu einem schemenhaften Bild zusammenfügen kann.

Titelbild

Selja Ahava: Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm.
Übersetzt aus dem Finnischen von Stefan Moster.
Mare Verlag, Hamburg 2014.
224 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783866481824

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