Die Liebe im Detail
Bodo Kirchhoffs neuer Roman „Verlangen und Melancholie“ erzählt vom Weiterleben und Weiterdenken eines Einsamen
Von Bernhard Walcher
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAutoren, die einen autodiegetischen Ich-Erzähler für einen Roman wählen, haben es bisweilen schwer bei der Kritik. Schnell handeln sich der Autor und der gesamte Text – je nach Konzeption der Figur – Vorwürfe ein, die von Gefühlsduselei, Besserwisserei bis hin zu Bildungshuberei, Unglaubwürdigkeit oder schlicht fehlender Sympathie reichen. Nach der psychologischen Schlüssigkeit von mentalen Zuständen auf der Grundlage der erzählten Erinnerungen und Berichte solcher Ich-Erzähler zu fragen, wird zugunsten eines Pauschalurteils über die erzählende Hauptfigur gerne vergessen. So hat auch der neue Roman von Bodo Kirchhoff – obwohl noch nicht lange auf dem Markt – schon zahlreiche Anfeindungen dieser Art erfahren, was aber kein Novum in der Kirchhoff-Rezeption darstellt: Mal wird die exorbitante Verlagswerbung wie bei Infanta (1991) bekrittelt, dann zu viel und ein anderes Mal zu wenig (sexuelle) Grenzüberschreitung wie bei der Mexikanischen Novelle (1984) angemahnt oder es wird – wie jetzt bei Kirchhoffs neuem Roman – dem Autor (!) die angeblich überladene Idealisierung einer verstorbenen Liebe angelastet. Und hier liegt schon der erste Fehler, denn die Liebe der Hauptfigur zu seiner toten Frau ist eben mitnichten erstorben. Die Texte des in Hamburg geborenen, schon seit vielen Jahren aber in Frankfurt lebenden Kirchhoff polarisieren offenbar Leser wie Kritiker.
Auch sein neuer Roman bietet genügend Angriffsfläche für Kritik. Da ist zum einen die Ähnlichkeit des etablierten und gesellschaftlich gesättigten Ehepaares Hinrich und Irene mit Renz und Vila aus dem Erfolgsroman Die Liebe in groben Zügen von 2012, die von der Südsehnsucht des Paares und der bildungsbürgerlichen Ausbreitung vermeintlicher Geheimtipps – dass es etwa in dem kleinen Küstenstädtchen Chioggia doch schöner sei als in Venedig –, bis hin zur intertextuellen Verflechtung von schon in den Motti eingeführten Pasolini-Versen in die Handlung reicht. Zum anderen könnte man die schon vom Cover mit seinem Ausschnitt aus der Villa dei Misteri in Pompeji ins Auge springende, im Text selbst dann immer wieder aufgegriffene und mit dem in der Antike verschütteten Ort verbundene Melancholie- und Vergänglichkeitssymbolik als etwas zu dick aufgetragen empfinden. Schließlich könnte man noch die Handlungsarmut oder die Banalität der Handlung kritisieren, die eigentlich nur aus Hinrichs zusammen mit seinem Enkel Malte unternommenen Schwarzgeldtransport und zum Ende des Romans aus seiner Reise in den Süden und damit einem allerdings offen gelassenen, möglichen Neuanfang besteht.Immer wieder eingeflochten sind zeitgenössische politische und auch teils satirisch untermalte lokale Frankfurter Ereignisse und Zustände des Kulturbetriebs, die aber nur nebenbei erwähnt werden und die in dieser Weise gleichzeitig auch die Relevanz von Realität und zeitgenössischer Wirklichkeit für das Bewusstsein des Ich-Erzählers markieren.
Tatsächlich besteht der Roman weitgehend nicht aus Handlung, sondern aus den Erinnerungen des gerade ins Pensionsalter gekommenen ehemaligen Frankfurter Kulturredakteurs Hinrich an seine Frau Irene, die sich ohne Abschiedsbrief neun Jahre vor Beginn der Erzählung mit einem Sprung vom Goetheturm das Leben nahm. Und es ist eine Qualität des Textes, dass diese Erinnerungsvorgänge, die gleichzeitig assoziativ und dennoch einer inneren Chronologie zu folgen scheinen, sprachlich nachvollzogen werden. Dem Ich-Erzähler bleibt dabei immer deutlich bewusst, dass erinnerte Vergangenheit nicht nur eine Form von Wieder-Erleben darstellt, sondern ein Neu-Erlebnis konstruiert, aus dem sich der Erzähler immer wieder Sinnzusammenhänge für das Unbegreifliche zu erschließen sucht: „Die Erinnerungen an das Schöne, das lange zurückliegt, sie sind größer als man selbst, und ihre Übermacht kommt immer unerwartet, wie aus dem Hinterhalt. […] Und irgendwer müsste diesem Phänomen einmal auf den Grund gehen: Warum so eine Stunde erst nach langem, in der Erinnerung, Klarheit gewinnt. Von jedem Moment ließe sich etwas sagen, alles ist da, ein Horchen in mich genügt.“ Betrachtet man die sich in diesen Erinnerungen, Berichten und Reflexionen Hinrichs konstituierende Figurenpsychologie und die Erzählanlage des Textes, so ergibt sich das differenzierte Bild eines in sich geschlossenen und schlüssigen Romans mit einer Hauptfigur aus unserer Gegenwart und einer Liebesgeschichte, wie sie sich heute abspielen könnte. Diesem Hinrich fehlt nicht nur ein „e“ zum Heinrich, wie es im Roman heißt, sondern noch viel mehr: Aus der Fülle seiner Erinnerungen an glückliche Momente, berauschende Reisen nach Italien und gemeinsame (Sommer-)Erlebnisse, aber auch aus rekonstruierten Ahnungen von Verlust und Erfahrungen von Schmerz vermag Hinrich kein Gesamtbild seiner großen Liebe Irene und ihrer Ehe zu entwerfen, das ihn versöhnt zurücklassen würde.
Über allem bleibt die Frage, warum sich Irene das Leben genommen hat und warum er den entscheidenden Moment nicht bemerkt hat, ab dem ihm seine Frau in ihre eigene, selbstgewählte Isolation und Depression entglitten ist. Es ist nur konsequent, dass sich die Gedanken und Erzählungen Hinrichs immer wieder auf diesen Punkt hinbewegen. Im Gegenteil zur Auffassung mancher Kritiker wird hier die Liebesgeschichte eines Paares nicht durch den einen, überlebenden Ich-Erzähler verklärt, sondern vielmehr und unaufdringlich nach den Rändern der Liebe geforscht, nach ihren Abgründen und Verfehlungen und danach, wie auch eine große Liebe vom Alltag eingeholt und bedroht werden kann. Der Erzähler lässt sich eben auch recht einfach durchschauen: Natürlich gab es über zwei Jahre eine Geliebte, Marianne, mit der er sogar – wie sich am Ende herausstellt – einen gemeinsamen Sohn hat. Auch hat sich Hinrich schon recht früh in seinem Leben bequem eingerichtet, die Fahrten in den italienischen Süden mit Irene und das Stillen des Bildungshungers einem aufregenden Leben am Puls der Geschichte etwa in Berlin nach dem Mauerbau – wie seine ehemalige Schulkameradin und erste Liebe Almut Bürkle – vorgezogen. Dies alles berichtet der Ich-Erzähler ohne Beschönigung und ohne Idealisierung, konsequent nur seiner subjektiven Weltsicht und seinem Lebensideal verpflichtet.
Der Text wäre aber nur der Ehe- oder auch Ehebruchsroman eines bildungsbürgerlichen Paares, wenn es da nicht die zentrale Figur Irene gebe, deren Porträt ihrer einstigen Anwesenheit und nun für immer währenden Abwesenheit Hinrich zeichnet. In seinen erinnernden Annäherungen an den Menschen, mit der er die längste Zeit seines Lebens verbracht hat, kommt die Hilflosigkeit eines Mannes zum Ausdruck, dem es längst nicht mehr um die genaue Bezeichnung dessen geht, was man das Krankheitsbild von Irene nennen könnte, sondern nur noch um ein langsames Akzeptieren, dass Liebe auch ihre Grenzen hat, dass Beziehungen fragil und Bewertungsmaßstäbe immer wieder zu hinterfragen sind. Es liegt vor allem an der poetischen und sich durch hohes Reflexionsniveau auszeichnenden Sprache des Romans, an der gedanklichen Durchdringung der angesprochenen und angedeuteten Themen, dass dieser weder zur Erfolgsgeschichte einer bewältigten Depression nach dem Tod der Frau noch zur deprimierenden Krankenakte eines verzweifelten Hinterbliebenen gerät. Kirchhoff knüpft damit an einen schon in Die Liebe in groben Zügen erprobten, neuartigen ‚poetischen Realismus’ an. Detailbeobachtungen und – schilderungen, wie sie in Kirchhoffs Roman sowohl in den Reflexionen des Ich-Erzählers als auch bei der Beschreibung von Alltagsszenen in großer Zahl vorkommen, können schnell ermüden und redundant wirken. Nichts davon in diesem Text: Der Leser kann dem Erinnerungs- und Gedankenfluss des Ich-Erzählers folgen, weil diese Gedanken Substanz haben und weil der Mensch in seiner Ganzheit aus Denken, Fühlen und Handeln gezeigt wird.
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