Once and A(gähn)

Analysen über Kafkas Trauma, seinen Glauben und das Zeichnen

Von Roman HalfmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Roman Halfmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

So unterschiedlich die Themen der drei hier vorzustellenden Werke auch sein mögen, so einig wiederum sind sie im zugrundeliegenden Impetus, auf irgendeine Weise zurück zum Ausgangspunkt zu kehren. Was angesichts des im Brennpunkt stehenden Autors nur bedeuten kann, eine über Jahrzehnte währende und in vielerlei Hinsicht verhärtete Rezeption des Prager Klassikers entweder mit großer Geste zurückzunehmen, korrigierend in Frage zu stellen oder eben nochmals zu erzählen – mit jeweils eher durchwachsenem Erfolg.

1.

Gerhard Rieck kommt eindeutig die Rolle des Rebellen zu, der bereits auf der ersten Seite seiner Untersuchung couragierten Tons erklärt, „dass es sich bei den meisten Arbeiten über den Prager Dichter nicht um Deutungen, sondern letztlich um Deutungsverweigerungen handelt, die schon im Vorwort oder spätestens auf den ersten Seiten die Unmöglichkeit einer Enträtselung behaupten.“ Jenes „Dogma“ der Kafka-Forschung durchziehe als Reflex einer seit Generationen stattfindenden Sozialisation der Kafka-Deuter die Rezeptionsgeschichte – mit unangenehmen Folgen: „Wer von vornherein davon überzeugt ist, dass das Wesen seines Erkenntnisgegenstandes nicht ergründbar ist, wird auch nichts Wesentliches finden.“

So verwirft Rieck mit größtmöglicher Geste eine als „[i]ntellektuelle Kapitulation“ denunzierte Deutungstradition und wendet sich derart gestählt und vor reflektierter Naivität strotzend dem Werk Kafkas zu, das er als künstlerische Produktion eines „Wiederholungsextremisten“ charakterisiert: „[W]enn Kafka etwas wichtig ist, dann wiederholt er es.“ Diese Prämisse scheint auf den ersten Blick recht genügsam, ist aber in der Tat heikel. Nicht grundlos überträgt die herkömmliche Kafka-Forschung, durchaus Wiederholungen in Kafkas Werk registrierend[1], nur äußerst widerwillig derartige Strukturen auf das Gesamtwerk: Zu widersprüchlich scheint das Werk in der Überschau und die Partikel bei weitem zu polymorph gestaltet, um sie auf einige wenige Nenner herunterbrechen zu können.

Von derartigen Überlegungen dispensiert, arbeitet Rieck in einer Tour de Force vier Gefüge heraus, nämlich „innen- und außenarchitektonische Strukturen wie das Bett, das Gitter“, „mit den Sinnen erkennbare Charakteristika von Räumen“, „bestimmte Figuren wie Beobachter, Kinder, Familien“ und schließlich „spezielle Textstrukturen wie den Ausschluss aus der Gemeinschaft.“ – Und ja, das ist alles natürlich grob vereinfachend, zeitigt aber durch den unverstellten Blick auf die Texte eine wohltuend entschlackende Wirkung, da die üblichen Reflexe anlässlich der Erwähnung bestimmter Kafka-Sätze einfach einmal ausbleiben – und zwar ohne Blitz, der vom Himmel fährt. Hier hat sich das Wagnis also gelohnt, gerät doch das Werk selbst wieder in den Vordergrund, sich angesichts des Bewusstseins ungewohnter Nacktheit mit knackenden Gliedern ein wenig verschämt dehnend und streckend. Und schaut es dabei nicht auch ein wenig ängstlich drein?

Zu Recht. Immerhin sind die verstreut gefundenen Strukturen nun in einen, wie es unheilverkündend dräut, „sinnvollen Zusammenhang“ zu bringen. Zumindest geht es rasch vonstatten, denn Rieck gibt sich nicht mehr mit Textarbeit ab, sondern liest die berühmt-berüchtigte Pawlatschen-Szene im Brief an den Vater ohne viel Federlesens als Schlüssel nicht nur seiner Matrix, sondern auch gleich der künstlerischen Produktion Kafkas, zum Abschluss vermeldend, „erstaunlich viele Übereinstimmungen zwischen den werkbestimmenden und den szenebestimmenden Motiven“ feststellen zu können: Zufall sei dies ja wohl auf keinen Fall.

Keine Sorge, das ist alles andere als ein Zufall, sondern eine korrumpierte Interpretation, die ihre Prämissen passend zur Backform durchgeknetet hat. Dies wird spätestens dann handfester Quarkteig, wenn es darum geht, das ohnehin traumatische Pawlatschen-Erlebnis nochmals zu traumatisieren und Rieck hierfür die Forschungen eines Hundes aus dem Hut zaubert; und zwar die Reflexion über Musikhunde, die als eine der „beiden eindeutigsten autobiographischen bzw. biographischen Texte[n] seines [Kafkas, R.H.] Schriftstellerlebens“ gedeutet werden. Eine These so fragwürdig wie willkürlich. Warum etwa sollte ausgerechnet die Musikhunde-Szene besondere Aufmerksamkeit erfordern und nicht die Friedhofsmauer-Szene im Schloss-Roman, die weitaus ausdrücklicher ein Kindheitserlebnis beschreibt, welches aber – und dies wird es wohl auch sein – nicht recht zur Beweisführung passen mag. Literaturwissenschaftliche Rebellen aber sollten, möchten sie auf Tagungen während der Pausen angesprochen werden, bekanntlich vor allem den inkongruenten Elementen ganz besondere Aufmerksamkeit schenken.

Aber gut, folgen wir Rieck weiter auf seinem stetig enger werdenden Weg. Anlässlich des Verweises auf die Forschungen eines Hundes etabliert Rieck die Pawlatschen-Szene wie gewünscht als doppelt traumatisch und findet erwartungsgemäß den Sexus, der ja zum gepflegten psychoanalytischen Gelage noch fehlte: Nicht nur, dass der kleine Kafka vom Vater ausgesperrt wird, nein, er wird ausgesperrt, da er „den Beginn einer geschlechtlichen Annäherung seiner Eltern“ entweder beobachtet oder fantasiert habe. Hm. – Natürlich, auch Reiner Stach psychoanalysiert im jüngst veröffentlichten Teil seiner Kafka-Biografie über die Frühen Jahre recht ungeniert vor sich hin, nicht immer zu seinem und Kafkas Vorteil: Psychoanalyse ist also wieder en vouge. Dann jedoch bitte fundiert!

Rieck aber gerät ins Bodenlose und wischt im Stile eines Verschwörungstheoretikers jeden Einwand, so überhaupt Gehör findend, lässig beiseite. Dass Kafka diesen wesentlichen Aspekt im Brief an den Vater nicht erwähnt und stattdessen durchaus plausibel schildert, immerfort um Wasser gewinselt und damit den Zorn des Vaters auf sich gezogen zu haben? Eine „Deckerinnerung für die (reale oder phantasierte) Beobachtung und intendierte Störung der erotischen Begegnung seiner Eltern.“ Hat man dies solcherart klargestellt, scheint alles möglich. Weshalb Rieck im dritten Teil seiner Untersuchung denn auch recht problemlos und in beneidenswert spielerischer Manier jeden Text Kafkas auf maximal zwei Seiten interpretiert – weil er es kann. Schlag auf Schlag geht er da vor und scheint keine Sekunde angesichts der Kuriosität zu stutzen, etwas tun zu können, was noch keinem zuvor gelungen ist; im Gegenteil wird dies zum letzten Beweis der Richtigkeit seiner Thesen umgemünzt: Den Nimbus des Komplexen und Undurchdringlichen habe eine akademische, weltfremde Elite um Kafka herum gebastelt, indes normale Menschen, gleich Rieck eine kindliche Naivität bewahrend, den so Verunstalteten reinen Herzens als „Kinderbuchautor für Erwachsene“ zu lesen vermögen.

Dies ist ein vollendet gestaltetes Totschlagargument, welches die Deutenden in gute und schlechte trennt, also: in natürlich-reine und verdorben-verbildete. Riecks Buch passt aus diesem Grund wunderbar in die gegenwärtig herrschenden Diskurse um eine neue Ursprünglichkeit, deren Anhänger ostentativ das Kind in sich pflegen, großäugig erklärend, dass man nicht immer alles so kompliziert machen müsse, wenn es doch so einfach sein könne. Wer kann dagegen schon etwas sagen?

Nun, eine gewisse Reduktion stünde der Kafka-Forschung tatsächlich gut zu Gesicht, weshalb die ersten 25 Seiten von Riecks Werk durchaus gelungen sind. Doch statt nun die erarbeiteten Strukturen methodisch anzugehen (ein Blick in diverse Stoff- und Motivgeschichten hätte ja schon genügend Material zur Hand gegeben) und etwa in ihren Varianten diachron zu untersuchen, ersinnt er als Nukleus seiner Argumentation sowie des Kafka’schen Erzählens ein nicht stichhaltig hergeleitetes psychisches Phänomen, welches noch nicht einmal mit Verweisen auf einschlägige Fachliteratur beglaubigt wird; geradezu demonstrativ wird stattdessen jedweder feste Untergrund hinter sich gelassen und aufs glatte Eis der Vermutungen geglitten. Jammerschade ist das, da damit einmal mehr die eigentlich gehaltvolle Perspektive einer außenseiterisch-kämpferischen Seitenlinie herkömmlicher Forschung sich selbst das Wasser abgräbt. – Kafka wiederum hätte dies sicherlich gefallen, hat er diesem Typus in seinem Dorflehrer-Konvolut doch ein ironisches Denkmal gesetzt; die jetzt aber sich majestätisch ins Blickfeld schiebende Fregatte mit imposant geriggter Takelage nimmt naturgemäß keinerlei Notiz vom Außenseiter.

2.

Kein Wunder, ist die Oxford doch in Starbesetzung unterwegs: Ritchie Robertson, Stanley Corngold, Manfred Engel, Bernd Auerochs, Peter-André Alt, Gerhard Neumann, to name a few, bevölkern das Schiff, welches mit schwerer Ladung kreuzt, geht es doch darum, „die Frage nach Kafkas Verhältnis zur Religion neu zu stellen“ und damit ein Thema zu beleben, welches eigentlich längst abgearbeitet, ja, aufgrund „platte[r] Allegoresen und problematische[r] Vereindeutigungen“ gar „diskreditiert“ scheint.

Also nochmals alles neu. Begründet wird dieses Unterfangen mit einem gegenwärtig waltenden „religious turn“, durch welchen die Säkularisierung entweder zurückgenommen oder zumindest in Frage gestellt werde, ja, in manchen Texten geht gar die Rede von einer Wiederholung der Geschichte, so Peter Thompson, der Kafkas Religiosität mit Hilfe des unerhört ambitionierten Verweises auf ein Triumvirat bestehend aus Karl Marx, Aristoteles und Ernst Bloch auf die Spur zu kommen trachtet: „I argue here that we are again living in shell-shocked times and that both religion and philosophy of negation have come back as themes precisely because we are one again living in an eschatological and apocalyptic era.“ Kafkas religiös intendierten Motive seien daher (wieder) die unsrigen: „We like to think […] that we have within us either a fragment of a world spirit or an untrammelled sense of free will which lead us in the right direction. Kafka’s heroes are confronted with the absence/presence of this fragment, the something that is missing.“

Hier ist bereits zu erahnen, wohin die Argumentationen des Bandes meistenteils letztlich steuern, nämlich fort von der rein religiösen Fragestellung hin zu einer ethischen: „Ohne einen religiösen – das heißt: ‚absoluten‛ – Grund ist Kafkas ethischer Rigorismus nicht begründbar“, erklärt Manfred Engel und öffnet damit den Diskursraum auf entscheidende und wohl auch gebotene Weise. Immerhin hat Kafka sich selten in deutlicher Manier über religiöse Themen ausgelassen und auch in seinen Texten sind dementsprechende Marker nur verstreut sowie auf vielfältige Art reflektiert nachweisbar, weshalb es in der Not der Sache liegt, den religiösen Diskurs zu verallgemeinern. So sei Kafka, wie Ritchie Robertson erklärt, „concerned not with particular religions, but with the substance of religion“. Seine Fragen seien daher allgemeingültiger Natur und so letzten Endes jeder seiner Texte auf irgendeine Weise religiös aufgeladen.

So kann Gerhard Neumann nochmals den Topos vom Sündenfall anführen, der viele Werke Kafkas einleite und aufgrund dessen die Protagonisten, wie ihr Schöpfer, zu Ethnografen sich wandelten, „auf der Suche nach Deutungsräumen, die ihnen hermeneutische Instrumente des Weltverstehens an die Hand zu geben versprechen“. Eines dieser Muster bestehe nun in der religiösen Fragestellung, die aber unbeantwortet bleibe. Letztlich geschehe der Sündenfall, so Peter-André Alt den Faden aufnehmend und die Thesen seiner Monografie über das Böse wiederholend, im Akt der Reflexion: „Das Böse ist nicht der absolute Gegensatz zum Guten, sondern dessen Wiederholung im Stadium der Selbstbeobachtung, eitlen Selbstreflexion und Bewusstheit.“ Die Reflexionskraft ist es auch, die Kafka zu einer Art „Übergangsmenschen“ habe werden lassen, wie Michael Neumann ausführt, abermals das Bild des Ethnografen bemühend und den Kreis damit schließend, nämlich Kafka als mit dem Religiösen hadernd, es aber zugleich bedürfend beschreibt.

Dieses Bedürfnis werde geleitet von einem „Streben nach dem Unbedingten“, so Alt, aber eher im Sinne eines „persönlichen Glauben[s]“, da Kafkas Verhältnis zu den einzelnen Religionen ein abstraktes und von Distanz zu religiösen Praktiken und spezifischen Glaubensvorstellungen bestimmt sei – persönlich meint aber, wie gezeigt, letztlich ethisch. In diesem Sinn wird der religiöse Diskurs im Werk Kafkas endgültig zu einem weiteren Diskurs unter vielen herabgebrochen und jeder Eigenständigkeit beraubt. Malte Kleinwort ist es schließlich, der alles in einen Topf wirft, nämlich „religiöse und nichtreligiöse Wissensbestände in Kafkas Dialogen verundeutlicht“ sieht und diese Verundeutlichungsstruktur auf Kafkas Arbeit in der Versicherungsgesellschaft zurückführt – was weit hergeholt ist und in der Konklusion wenig befriedigt: Zu wissen, woher etwas möglicherweise kommt, bedeutet ja nicht, überzeugend herausgearbeitet zu haben, aus welchem Grund es überhaupt rezipiert wird.

So ist in letzter Konsequenz auch die Gretchenfrage in Leben und Werk Kafkas der üblichen und von Rieck so wortreich wie zulässig kritisierten Verundeutlichungsmetapher anheim gegeben und damit in ambivalenter Manier hinlänglich verortet, nämlich im Unörtlichen. – Natürlich, die Interpreten erhalten die obligatorischen Fleißkärtchen, doch bleibt ein schaler Nachgeschmack, da einerseits der enorme theoretische Aufwand mit Verweisen auf Martin Buber, Bloch, Aristoteles et cetera. von den Konklusionen kaum gerechtfertigt wird und zudem die – gegenwärtig wohl obligate – Verknüpfung mit unserer Gegenwart nicht ersichtlich werden will; es sei denn als Antithese: Ist die erwähnte und die Beiträge durchwalkende Unterstellung, nach welcher Kafka „concerned not with particular religions, but with the substance of religion“ sei, zumindest als Vergleichsmomentum bereits seltsam schief, bekommen die Menschen den religiösen Diskurs doch heutzutage eben anhand seiner rigoros verweltlichten Ausprägungen vor Augen geführt, indes der religiöse Grundgehalt, das Wesen also der Religion als das Unbedingte, tatsächlich keine Rolle mehr spielt. So ist das zu Kafkas Zeit abstrakte nun konkret geworden und vice versa. Geschichte wiederholt sich eben nicht immer und vor allem die durchweg gelungene, aber letztlich allein referierende erste Abteilung des Bandes, in welcher die theologische Diskussion des frühen 20. Jahrhunderts umfassend dargestellt wird, veranschaulicht sehr gut, wie deutlich sich unsere Zeit von der hier thematisierten unterscheidet. Ob aber Kafka auch diesen Aspekt in seinem Werk vorweggenommen hat, soll dahingestellt bleiben; weshalb wir die stolze, von unserer Kritik nämlich gänzlich unbeeindruckte Fregatte auch weiterziehen lassen und uns einem Zettel zuwenden, der zufällig im Wasser stakt, darauf mit schroffem Bleistiftstrich eine Lokomotive abgebildet – nein, nicht von Kafka gezeichnet, aber in seinem Notizblock aufbewahrt. Und allein deshalb einer Deutung würdig?

3.

1912 wird es wohl gewesen sein, da zeichnete während einer Zugfahrt der 6-jährige Albert Schön, über den überraschenderweise bisher keine Abhandlung zu finden ist, eine Lokomotive, und Kafka wiederum hat die Zeichnung in sein Notizbuch gesteckt. Nun kann man es durchaus hierbei bewenden lassen, könnte aber andererseits auch darauf hinweisen, dass die Lokomotive bekanntlich Objekt des frühen Films war, der wiederum die Wahrnehmung maßgeblich veränderte, worauf Kafka in einem seiner ersten Tagebucheinträge reagierte. Und so fort: ad astra.

Letzteren Weg beschreitet Friederike Fellner in ihrer Veröffentlichung über Kafkas Zeichnungen und fasst die Episode wie folgt zusammen: „In der kommentierten Kinderzeichnung zeigt sich das Motiv der Dynamisierung stillgestellt und mit einer ursprünglichen Darstellungsform verschränkt, deren reduzierte Ausdrucksart Impulse für neue Sichtweisen bietet.“ Das ist alles vielleicht sogar richtig, aber erstens schon bearbeitet und daher makellose Wiederholung, zweitens von einer Zeichnung geschlossen, die gar nicht von Kafka ist – und drittens eher assoziativ reflektiert denn logisch hergeleitet.

Diese Sequenz kann im Guten wie im Schlechten als Pars pro toto für das gesamte Werk fungieren: Etwa 40 Zeichnungen von Kafka, der sich bekanntlich und wohl ironisch in einem Brief an Felice Bauer einen ehemals großen Zeichner nannte, dessen Talent jedoch nun verdorben sei, sind erhalten oder gegenwärtig zugänglich. Hieraus nun ein vor Fußnoten und Verweisen strotzendes, über 300 Seiten starkes Buch zu zaubern, dessen Literaturliste allein 13 Seiten einnimmt, funktioniert natürlich nur mit gewissen Kunstgriffen. Friederike Fellner befleißigt sich zumeist eines einzigen, nämlich der abschweifenden Wiederholung längst abgearbeiteter Thesen, gepaart mit eben diesen assoziativ erschlossenen Ableitungen, die entweder bereits Bekanntes beglaubigen oder im Nebel der Vermutung versanden.

Ein weiteres Exempel: Auf dem letzten Blatt des Josefinen-Textes findet sich ein mit Bleistift gezeichnetes Frauenporträt, woraus Friederike Fellner mit Verweis auf eine Analyse Jaqueline Sudaka-Bénazérafs schließt, dieses Porträt zeige Dora Diamant, genauer: Kafka habe jenes berühmte, in jeder Biografie gedruckte Foto seiner Weggefährtin abgezeichnet. Tatsächlich sind Porträt und Foto in dem hier zu besprechenden Werk nebeneinander aufgeführt – und es ist schlichtweg keine Ähnlichkeit festzustellen: Sollte Kafka dieses Foto tatsächlich kopiert haben, muss er ein miserabler Zeichner gewesen sein. Da er dies augenscheinlich aber nicht war, könnte es ja durchaus sein, dass eine andere Frau gemeint ist. Friederike Fellner jedoch bleibt bei der mehr als vagen These, was ja kein großes Problem ist: Es ist also Dora Diamant.

Woraufhin auf sieben Seiten, gespickt mit ellenlangen Zitaten, ein biografischer Abriss über Kafkas Zeit in Berlin folgt – unterbrochen etwa von der sicherlich interessanten, letztlich hier aber vollkommen unerheblichen Unterstellung Peter-André Alts, das Zusammenleben mit einer Frau habe Kafkas Status als ‚Ewigen Sohn‛ eben nicht beendet. Und so fort. Da ist keine einzige Neuigkeit dabei, nicht einmal eine winzige Akzentverschiebung der üblichen biografischen Darstellungen. Stattdessen ist das alles ausgesprochen penibel, ja beinah streberhaft notiert; es fehlt nicht einmal der Hinweis in einer Fußnote, dass Dora Diamants Name hin und wieder anders geschrieben wird; und ja, sogar die Wohnadressen Kafkas in Berlin sind angegeben: Es sind derer drei. Man staunt, starrt und schüttelt den Kopf ob der Mühe, Sorgfalt und übereifrigen Beflissenheit, mit der die Autorin jede Seite ihrer Arbeit mit sinnlosen Fakten anreichert, denn das alles hat nichts mehr mit Zeichnungen zu tun, ist nicht einmal Argumentation, sondern reine Biografie oder, schlimmer noch, Tertiärliteratur.

Nach sieben Seiten nun mündet diese Exkursion in die These, Kafka habe das Foto abzeichnen müssen, um sich an die Geliebte zu erinnern: Die Zeichnung sei dann wohl doch realistischer und authentischer. Das ist eine dünne Konklusion, die nicht recht sättigt. Doch was soll man schon herleiten aus einem Frauenporträt, das ein weltberühmter Autor auf die letzte Seite seines letzten Textes zeichnet?

Da die Autorin wohl selbst ahnt, wie wenig gehaltvoll all dies ist, folgt direkt im Anschluss eine mysteriöse Einschätzung, die das Kapitel auch abschließen soll: „Weil die Ordnungen des Schreibens und des Lebens, der Literatur und der Liebe in diesem Fall voneinander entkoppelt verlaufen, kann solch eine Skizze auf der Rückseite der Handschrift einer Erzählung erscheinen, die die Scheinbarkeit eines heldenhaften Idols und die wankende Wahrnehmung dessen verhandelt.“ Was ist nun aus welchem Grund entkoppelt? Und so pathetisch die Verknüpfung mit dem Josefinen-Text auch klingt, so nichtssagend ist sie: Da wünscht man sich, die Autorin hätte die fünf Seiten Biografie getilgt und stattdessen den zitierten Satz erklärt, da es ja erst hier interessant zu werden beginnt, nämlich in die künstlerische Produktion führt.

Denn selbstverständlich deutet auch Friederike Fellner die Zeichnungen zumeist im Kontext des literarischen Werkes: „Viele Skizzen Kafkas sind an Bruchstellen des Schreibprozesses verortet, die dem Ideal eines spontanen, flüssigen und offenen Produktionsakts entgegenstehen. Sie können einen Versuch darstellen, das Stocken zu überbrücken und spiegeln zugleich Stillstand und Fortgang des Entstehungsprozesses, Störung und Motor des Schreibens.“ Dies darzustellen, ist stellenweise durchaus interessant, kann aber die geläufigen Thesen an keiner Stelle wesentlich übersteigen; zudem kommt die Autorin auch hier stets vom Hölzchen aufs Stöckchen und scheint in ihrer Argumentation keinen roten Faden zu finden, weshalb einschneidende Thesen entweder ausbleiben oder im Strom aus Verweisen, Erläuterungen und Abschweifungen untergehen.

Dies liegt sicherlich auch am Untersuchungsgegenstand, sind die Zeichnungen doch ein denkbar undankbares Thema für eine Dissertation: „Versuche“, so Friederike Fellner angesichts des Bestrebens, die Zeichnungen kunstgeschichtlich zu verorten, doch in Wahrheit ihr eigenes Dilemma beschreibend, „die Zeichnungen einzuordnen, sind auch deswegen zu hinterfragen, weil Kafkas Skizzen sich insgesamt betrachtet der Festlegung auf einen einheitlichen Stil oder eine Zugehörigkeit verweigern. Vielmehr ist an ihnen ein Pluralismus an verschiedenen Ausdrucksweisen festzustellen.“ Kafka hat eben hin und wieder, ja eher selten gezeichnet, aus unterschiedlichen Beweggründen. Mehr ist dazu wohl letztlich doch nicht zu sagen.

Anmerkungen:

[1] Stanley Corngold hat jüngst erst in eben diesem Sinne das Konzept der Kafka-Meme vorgestellt, vgl.: Ders.: Ritardando im Schloss. In: ‚Schloss’-Topographien. Lektüren zu Kafkas Romanfragment. Hg. v. Malte Kleinwort und Joseph Vogl. Bielefeld: transcript 2013. S. 67-84.

Titelbild

Manfred Engel / Ritchie Robertson (Hg.): Kafka und die Religion in der Moderne. Religion and Modernity.
Oxford Kafka Studies 3.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2014.
300 Seiten, 46,00 EUR.
ISBN-13: 9783826054518

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Gerhard Rieck: Kafkas Rätsel. Fragen und Antworten zu Leben, Werk und Interpretation.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2014.
216 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783826054761

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Titelbild

Friederike Fellner: Kafkas Zeichnungen.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2014.
320 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783770556885

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