Angst vorm Straucheln

Ein New Yorker Familienporträt von Matthew Thomas

Von Sylvia HeudeckerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sylvia Heudecker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer eine Geschichte über den American Dream, über das Recht auf Glück, über die Integration von Einwanderern lesen will, greife zu Wir sind nicht wir. Wer New York liebt – oder hasst, wer die Faszination des Baseball fühlt, wer sich bereitwillig in Familiengeschichten verstricken lässt, dem könnte Matthew Thomas’ Erstlingsroman gefallen. Wer wissen will, was der populären amerikanischen Literaturkritik und damit der breiten amerikanischen Leserschaft gefällt, und wer sich einen zuverlässigen Eindruck davon verschaffen will, woher die Begeisterung für We Are Not Ourselves rührt, der muss das Buch lesen. Die amerikanische Presse ist begeistert von dem im Herbst 2014 erschienenen Page-turner. Matthew Thomas schrieb zehn Jahre an seinem ersten Roman und hat viele eigene Lebenserfahrungen verarbeitet: Der ehemalige Lehrer einer Jesuiten High School wuchs in New York auf, studierte unter anderem Literatur in Chicago und erlebte, wie der eigene Vater an Alzheimer erkrankte.

Wir sind nicht wir erzählt eine Familiengeschichte aus der Perspektive von Eileen Tumulty. Das irisch-amerikanische Einwanderermädchen stammt aus ärmlichen, unsicheren Verhältnissen im New Yorker Bezirk Queens der fünfziger Jahre. Unbeirrt sucht sie den gesellschaftlichen Aufstieg und kommt doch nur langsam höher auf der Leiter. Sie träumt von einem Jurastudium, macht ihre Karriere aber als tüchtige Krankenschwester. Sie heiratet einen begnadeten Chemiker, der sich allerdings ihren Vorstellungen von Erfolg widersetzt. Ed Leary strebt partout keine Position an einer renommierten Universität an, stattdessen beharrt er darauf, seine Stellung an einem zweitklassigen College zu behalten, wo er sich wohl fühlt und die Freiheiten seines Forschens und Lehrens genießt. Auch Eileens Wunsch, in ein ansehnliches Haus in besserer Nachbarschaft zu ziehen, verhindert Ed lange Zeit. Connell, Sohn der Learys, enttäuscht seine Mutter, die sich für ihr einziges Kind ein anderes, dem eigenen verwandtes Naturell gewünscht hätte: zupackend, hartgesotten, erfolgsorientiert.

Obwohl Eileen im Zentrum des Geschehens steht, ist gerade sie diejenige Figur im Roman, die blass und ohne Tiefenschärfe bleibt. Eileen verkörpert jenen Typus der amerikanischen Literatur, der dem Großen Gatsby entstiegen ist: Erfolg, Besitz und gesellschaftliches Ansehen treiben sie an. Mit schier unerschöpflicher Energie, die sie erstaunlicherweise nur gelegentlich an den Rand der Belastbarkeit bringt, strebt sie nicht nur selbst der Verwirklichung ihrer Wünsche entgegen, sondern versucht mit aller Macht auch die ihr nahe Stehenden zu puschen. Mit Unverständnis, oft auch mit Wut und Vorwürfen reagiert Eileen auf Ed oder Connell, wenn diese sich ihrem Willen verweigern. Die Ehefrau und Mutter spielt immer wieder in ihrem Leben mit dem Gedanken, allein weiter zu machen. Als Ed an Alzheimer erkrankt und sie in den Abgrund des finanziellen Ruins blickt, mithin Gefahr läuft, ihr hart erkämpftes Haus im Vorort zu verlieren, erwägt sie sogar die Scheidung. Vor der schreckt sie allerdings aus moralischen Gründen zurück – und die sich überschlagenden Ereignisse bewahren sie schließlich davor, eine Entscheidung zu treffen. Eileen lebt im Sog ihrer Träume und der täglichen Herausforderungen, sich anständig und mit Würde über Wasser zu halten. Die Zeit aber rauscht dahin und formt die Menschen unabhängig von deren Wünschen: Aus dem begabten Kind wird ein orientierungsloser Erwachsener, aus dem attraktiven Liebhaber ein dementer Ehemann, aus der unverzagten Strategin schließlich eine ernüchterte Witwe. Thomas versucht eine starke Frau zu zeichnen. Ihre Lebensgeschichte soll sie hart und zu einer Kämpferin gemacht haben, die einer feindlichen Welt das kleine Glück abzutrotzen sucht. Diese Eileen Leary mag man achten wegen ihrer Beharrlichkeit und Prinzipientreue, ihres Verantwortungsgefühls und Beschützerinstinkts. Die Liebe zu ihrem Mann und Sohn ist ein Bekenntnis, kein Gefühl; ihre Fähigkeit zur Einsicht flammt gelegentlich auf, aber führt nicht zum Wandel; Empathie wird überlagert von Pragmatismus. Thomas erzählt so viel von dem, was ihr über die Jahrzehnte widerfährt, und redet doch so wenig über diesen Menschen. Letztlich bleibt die Darstellung Eileens oberflächlich und ihre Entwicklung zufällig. Wir lesen das Porträt einer ‚typisch’ US-amerikanischen Frau, das sozio-psychologisch interessant sein mag. Als literarische Figur langweilt Eileen.

Dennoch hat Wir sind nicht wir sehr starke erzählerische Momente, gerade dann, wenn es um Ed und Connell geht. Schleichend ergreift die Alzheimerkrankheit Besitz von Ed, frühe Indizien ergeben erst in der Rückschau ein schlüssiges Bild. Verbissen versucht er, Herr über sein Leben zu bleiben, und muss sich doch schließlich dem fatalen Prozess der Entpersönlichung ergeben. An Ed wird das titelgebende Motiv des Romans besonders griffig: Wenn nur unsere Lebensumstände andere wären, könnten wir die sein, die wir eigentlich sind. Erzählmomente, in denen sich Eds Demenzerkrankung manifestieren, berühren außerordentlich. Vor dem Hintergrund der Krankheitsgeschichte blendet der Roman immer wieder auch auf Connell, Eds geliebten Sohn, und flicht hier eine überzeugende Adoleszensgeschichte ein. Connells Umgang mit der Veränderung des Vaters, seine oft scheiternden, gelegentlich gelingenden Versuche, das Richtige zu tun, rühren an tief Menschliches. Thomas erzählt vor dem Hintergrund New Yorks in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und spiegelt literarisch gekonnt Themen der legendären Ostküstenmetropole auf Connell: Die wichtige Rolle des Baseball für das Selbstverständnis amerikanischer Männer, die Problematik einer Einwanderungsgesellschaft, die an die Grenzen ihrer Integrationsfähigkeit stößt, die Literatur und ihre großen Erzählungen als Kunstform der Identitätsbestimmung.

Wir sind nicht wir ist ein durch und durch US-amerikanisches Buch. Daher rührt ein Teil des Erfolgs auf dem amerikanischen Buchmarkt. Die Leser drüben sehen, dass sich hier einer intensiv mit jenen Werten auseinandersetzt, denen man als Amerikaner von früher Kindheit an verpflichtet wird: Erfolg und Familie. Der Glaube an Gott, der in seiner inbrünstigen amerikanischen Variante uns in Europa eher befremdet, kommt im Roman angenehm leise daher. Die Stärke des Romans ist es dabei, nicht zu glorifizieren. Im Gegenteil: Über drei Generationen hinweg zeigt Thomas, wie das amerikanische Glücksversprechen für den Einzelnen zur Last werden kann. Soziale Herkunft oder Hürden des gesellschaftlich-politischen Systems, Lebensumstände oder Krankheit führen schnell in Situationen, in denen man ins Straucheln kommt. Dass Thomas in seiner Geschichte von ganz normalen Leuten erzählt, denen ganz Normales widerfährt und das noch in realistischer Manier, hat sich in den USA als absolutes Erfolgsrezept herausgestellt. Eines kommt allerdings noch hinzu. We Are Not Ourselves ramponiert zwar die Idee vom amerikanischen Traum, lässt ihn aber nicht für immer platzen. An seinem Ende versichert der Roman, alles werde schließlich doch gut.

Die Übersetzung von We Are Not Ourselves stammt von Astrid Becker und Karin Betz. Sie wurde durch das Übersetzerstipendium 2014 des Niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kultur gefördert.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Matthew Thomas: Wir sind nicht wir. Roman.
Berlin Verlag, Berlin 2015.
896 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9783827012067

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