Wenn der Wächter die Nachtigall stört

55 Jahre nach Harper Lees größtem Erfolg gibt es ein Wiedersehen mit der Familie Finch

Von Wieland SchwanebeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wieland Schwanebeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die literarische Welt verneigt sich in diesen Tagen vor einer großen Frau der amerikanischen Literatur, die in den 1950er-Jahren ihre größte Tat vollbrachte und seitdem in Vergessenheit zu geraten drohte. In diesem Jahr erstrahlt ihr Meisterstück im Licht einer neuen Publikation noch einmal – und umso heller. Die Rede ist natürlich von der Lektorin Tay Hohoff, deren Weitblick im Jahr 1957 gar nicht hoch genug zu beziffern ist. Eine 31-jährige Debütantin namens Harper Lee hatte ihr ein Manuskript anvertraut. Es trug den biblisch-schweren Titel „Go Set a Watchman“ (der im Original immerhin nicht so unrhythmisch holpert wie in der deutschen Übersetzung, die wörtlich der entsprechenden Stelle in der Lutherbibel folgt) und schien Hohoff zwar nicht publikationsreif, imponierte ihr aber ausreichend, um mit der Autorin ein besseres Buch zu entwickeln: „Wer die Nachtigall stört …“ erschien 1960 und wurde bis heute über 30 Millionen Mal verkauft. Im Jahr 2015 ist der Harper Collins Verlag weniger wählerisch als dereinst die Lektorin – er hat das auf abenteuerlichen Wegen wieder aufgetauchte Debüt jetzt publiziert, ohne größere editorische Arbeit zu investieren, zu der die 89-jährige Autorin (deren Einverständnis nicht als gesichert gelten kann) auch gar nicht willens oder nicht mehr fähig war, und die der Verlag aus ökonomischer Sicht nicht zu Unrecht für entbehrlich erachtet haben dürfte.

Dass es sich um einen – gerade im Vergleich mit der sensationell erfolgreichen „Nachtigall“ – äußerst ungelenken Roman handelt und dass der Verlag den denkbar einfachsten Weg gegangen ist und den Text, dessen Schwächen heute wohl noch stärker als im Jahr 1957 ins Auge fallen, kurzerhand durchgewinkt hat – geschenkt. Über die literarischen Meriten des „Wächters“ spricht seit seiner Veröffentlichung ohnehin niemand, denn inzwischen gilt es, ein Trauma aufzuarbeiten: Der aus der „Nachtigall“ bekannte Anwalt mit der weißen Weste, Atticus Finch, der aufrechte Streiter für Recht und Gerechtigkeit, der noch mehr weiße Leser zu Tränen gerührt haben dürfte als einst Onkel Tom – dieser Perry Mason für geknechtete Kreaturen entpuppt sich im „Wächter“ als ein unbelehrbarer Rassist. Zwar ist er kein lynchwütiger Plantagenbesitzer mit Peitsche im Gürtel, aber auch nicht gerade der harmloseste Vertreter der Zunft, sondern vielmehr ein Vertreter der aussterbenden weißen Südstaatenelite, die einer völligen Gleichstellung skeptisch gegenübersteht, solange „der Neger“ noch nicht bereit dafür ist.

Der Literaturwissenschaftler steht da schnell vor seinem Bücherregal und kramt nach der guten alten Erzählgrammatik von Joseph Campbell – Heldenreise, Archetypen und dergleichen. Richtig, da steht es: Altert der Held und wird sesshafter Teil des Establishments, dann entpuppt er sich irgendwann als Tyrann. Das scheint offenkundig auch für den inzwischen 72-jährigen Atticus Finch zu gelten, selbst wenn er für seine Tochter „nicht zu altern [scheint]“ und wohl „immer Mitte fünfzig“ bleiben wird. Ergebnis: Ein paar verheulte Lesergenerationen hocken vor ihren Bücherregalen, holen die zerknitterte und mit farbigen Anstreichungen versehene Ausgabe der „Nachtigall“ aus dem Regal und vollziehen kollektiv die Desillusionierung von Scout Finch nach, die hier als erwachsene, wenig Sympathien erweckende Jean Louise auftritt: „Der einzige Mensch, dem sie je ganz und gar und aus vollem Herzen vertraut hatte, hatte sie zutiefst enttäuscht. Der einzige Mann, von dem sie immer gewusst hatte, dass sie auf ihn zeigen und mit sachkundigem Wissen sagen konnte: ,Er ist ein Gentleman. Er hat das Herz eines Gentlemans‘, hatte sie verraten, öffentlich, grob und schamlos.“

Das ist nicht alles, was sich in Maycomb County geändert hat, seit Jean Louise – die als Scout eine wunderbar burschikose kleine Schwester war, die sich nicht zierte, größere Jungs und Verwandte zu verhauen – nicht mehr zu Hause wohnt: Bruder Jem ist „eines Tages auf der Stelle tot um[gefallen]“, die brummige Köchin Calpurnia in Rente gegangen, Ferienfreund Dill, von dem man in der „Nachtigall“ noch erfahren hat, er könne „mit den Menschen nichts anderes anfangen als über sie lachen“ und wolle darum zum Zirkus, wird in Europa vermutet, das Haus der Kindheit ist abgerissen worden, bei der ohnehin schon schwer erträglichen Tante Alexandra tummeln sich rassistische Pamphlete, und nicht einmal die Wiese im Wald, wo sich „der Ku-Klux-Klan […] in seinen glücklichen Tagen“ getroffen hat, ist noch dieselbe. Kurzum: „You can’t go home again“ – dieser Satz, der durch Thomas Wolfes gleichnamigen Roman zur sprichwörtlichen Warnung vor der Nostalgiefalle avanciert ist, könnte auch Lees Buch vorangestellt sein, beschreibt er doch treffend sowohl dessen Handlung als auch die kollektive Desillusionierung der Leser. Sie fragen sich möglicherweise, ob sie dereinst ein paar Stellen in der „Nachtigall“ überlesen haben: Hätte man Atticus Finch, diesem gestrengen Pädagogen mit Liebe zum Rechtssystem, der höflichen Umgang mit allen Rassisten der Stadt pflegt und sich selbst mit dem ,white supremacist‘ Cotton Tom Heflin vergleicht, vielleicht schon früher etwas mehr misstrauen sollen, oder ihn wenigstens nicht gar so hoch hängen?

Nicht zuletzt aufgrund dieser Konstellation bietet es sich an, beide Romane im Verbund zu lesen, wozu die gerade beim Rowohlt Verlag erschienene, neu bearbeitete Übersetzung von „Wer die Nachtigall stört …“ Gelegenheit bietet. Sie enthält ein informatives Nachwort von Nikolaus Stingl, dem sich viel Wissenswertes über die Übersetzerpraxis entnehmen lässt. Man greift neugierig nach diesem Buch und ist gespannt auf die Begegnung mit einem alten Freund, zu dem man bewundernd aufgeblickt hat – glücklicherweise verläuft sie weniger desillusionierend als Scout Finchs Reise in die Vergangenheit. Der warme Klang der Schilderungen, der hinreißende Humor, die mit sicherem Strich gezeichneten Porträts, die mit schlafwandlerischer Sicherheit an der Grenze zur Karikatur die Figuren lebendig werden lassen – all dies ist noch da. In der alten, schwer kranken Mrs. Dubose, bei der Jem Finch nach der Schule zum Vorlesen antritt, in einer vor dem Gerichtssaal wartenden Menschenmenge, im Sonderling Mr. Raymond, der seine Cola in einer Papiertüte versteckt, um für einen Säufer gehalten und in Ruhe gelassen zu werden, im Blick auf den Ku-Klux-Clan als Haufen von Weicheiern, die nicht einmal dem Händler Angst einjagen können, der ihnen die weißen Laken verkauft hat, und in einer abgründig witzigen Episode in der Schule, als die bigotte Lehrerin Miss Gates ihre Schüler im Chor den Wert der Demokratie nachplappern lässt, während sie selbst gegen Afroamerikaner hetzt.

Ohne Zweifel spielt es eine große Rolle, wann man diesen Roman das erste Mal liest: Wie wollte man als Erwachsener angesichts der aktuellen Nachrichten aus Ferguson und Baltimore einige Abschnitte nicht naiv, ja geradezu zynisch finden? Etwa die Stelle, an der sich ein rassistischer Lynch-Mob von den entwaffnenden Fragen eines kleinen Mädchens zur Raison bringen lässt, die dabei den Beweis zu erbringen scheint, „dass einer Schar wilder Tiere Einhalt geboten werden kann, und zwar deshalb, weil sie noch Menschen sind“. Die hehren Intentionen der Autorin sind zweifelsohne unbestritten, und die Romanperspektive bewährt sich als geeignetes Mittel, erwachendes politisches Bewusstsein an den Verlust kindlicher Unschuld zu koppeln. Den erschütternden Ereignissen gewinnt Scout noch lakonische Pointen ab – so etwa, wenn sie darüber sinniert, dass sie und ihr Bruder „nun bald erwachsen wären und nicht mehr viel zu lernen hätten, höchstens Algebra“. Die Autorin lässt ihre Erzählerin aus der zeitlichen Distanz klugerweise nicht offen kommentieren und bewerten, wogegen man sich in den letzten, aufdringlich-didaktischen Kapiteln des „Wächters“ ebenso bevormundet fühlt wie die Protagonistin, die dann doch noch ihren Frieden mit Atticus und der Familie schließt. Auch sonst trennen beide Bücher Welten – der „Wächter“ ist ein lapidares Buch, unendlich ärmer im Detail. Nur wenige Stellen deuten die spätere Meisterschaft Harper Lees an und lassen bedauern, dass sie mit keinem weiteren literarischen Text in Erscheinung getreten ist. Immerhin montiert sie hier schon mit satirischem Blick einige fabelhaft öde Partygespräche, und ein paar stimmungsvoll geschilderte Kindheitserinnerungen von Jean Louise nehmen den späteren Welterfolg vorweg. Sie dürften damals ausschlaggebend für die Lektorin gewesen sein, Lee zu einem Buch zu animieren, das diesen ironisch-gebrochenen Blick auf das Paradies der Kindheit favorisiert. Hohoff lag vollkommen richtig, als sie in Lees Schilderungen aus der dörflichen Vergangenheit die stärksten Passagen des Buchs erkannte – es sind auch die einzigen Stellen im „Wächter“, die eins zu eins in den Welterfolg hinübergerettet wurden: die Geschichte vom Wirt Sinkfield, der einst ein paar Landvermesser besoffen machte, damit seine Kneipe nicht im Sumpf liegt, oder die von den Clans der Cunninghams und Coninghams, die einander so lange geheiratet haben, „bis die Schreibweise der Namen nur noch theoretische Bedeutung hatte“. Dazwischen finden sich allerdings auch schwülstige Episoden – wie etwa Jean Louises Erinnerung an ihren ersten Schulball –, die eher an den Weichzeichner von „Unsere kleine Farm“ erinnern und die stilistische Sicherheit noch vermissen lassen, die das spätere Buch auszeichnet.

Will man den Verlag für seine fragwürdige Publikationsentscheidung in Schutz nehmen, dann wohl kaum unter literarischen Gesichtspunkten. Nicht nur angesichts der Brüche zwischen beiden Büchern – der in der „Nachtigall“ geschilderte Vergewaltigungsprozess gegen Tom Robinson wird im „Wächter“ zwar angedeutet, allerdings stimmen zahlreiche Details nicht überein – dürfte es sich durchsetzen, den bekannteren Roman als kanonisch, das nun nachgereichte Debüt dagegen als einen außerkanonischen Text zu erachten. Seine Veröffentlichung verrät mehr über die Gesetze des Publikationswesens als über die Fertigkeiten von Harper Lee. Es bleibt zu hoffen, dass die Mär vom gefallenen Engel Atticus Finch eine Debatte inspiriert: darüber, ob es möglicherweise zu wenig ist, einen vermeintlich anti-rassistischen Text auf die Lektürepläne zu setzen und dann auf das Beste zu hoffen, und ob die Segregations-Litaneien aus dem Alabama der 1950er-Jahre („Willst du, dass unsere Kinder auf eine Schule gehen, deren Niveau gesenkt wurde, um es den Negerkindern anzupassen?“) vielleicht auch Parallelen zu einem von Flüchtlings- und Gentrifizierungsdebatten aufgewühlten Europa aufweisen. Maycomb ist uns näher, als uns lieb sein kann.

Titelbild

Harper Lee: Gehe hin, stelle einen Wächter. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Klaus Timmermann und Ulrike Wasel.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2015.
314 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783421047199

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Titelbild

Harper Lee: Wer die Nachtigall stört …. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Claire Malignon.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2015.
458 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783498038083

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