Zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Im dritten Band seines Romanzyklus „Das Büro“ arbeitet J.J. Voskuil das unglückliche Bewusstsein seines Helden schärfer heraus

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Büro von J.J. Voskuil ist ein auf sieben Bände angelegter Romanzyklus, der erzählt, wie der Amsterdamer Maarten Koning 1957 ins Institut zur Erforschung der niederländischen Volkskultur eintritt und sich zu dessen Direktor hocharbeitet, bis er 1987 aus dem Dienst ausscheidet. In der deutschen Übersetzung ist nun der dritte Band mit dem Titel Plankton erschienen.

Was darin geschieht: Am Institut gehen die Dinge ruhig ihren Gang. Alte Mitarbeiter werden pensioniert und neue eingearbeitet. Maarten versucht die wissenschaftliche Arbeit, trotz Skepsis, auf ein solideres Fundament zu stellen und nimmt dafür auch Konflikte, etwa mit der flämischen Redaktion von „Ons Tijdschrift“, in Kauf. Der ehemalige Direktor Beerta, der noch regelmäßig im Büro aufkreuzt, spielt dabei eine eher zwiespältige Rolle, was er jedoch wettmacht, als er sich hinter Maarten stellt, der an einem internationalen Kongress für Aufregung sorgt. Trotz der fast 1.000 Seiten konzentriert sich Plankton auf die Jahre 1973/74, indem die betriebsinternen Vorgänge und Ränkespiele geradezu akribisch protokolliert werden.

Wie schon die Bände 1 (Direktor Beerta) und 2 (Schmutzige Hände) wartet auch der dritte Band des Zyklus mit feinen Varietäten auf, die den vordergründig monotonen Stoff behutsam weiterentwickeln. Die Attraktion liegt in der Absenz großer Turbulenzen, umso intimer und detaillierter beschreibt Voskuil das Amsterdamer Büro und seine Mitarbeiter in ihrer charakterlichen Vielfalt. Hier der stets unglückliche und dennoch irgendwie gereifte Maarten Koning – Voskuils Alter Ego –, der seine Abteilung basisdemokratisch führen möchte. Dort seine teils freundlichen, teils widerborstigen Kollegen und Kolleginnen, die sich nur zu gerne der Verantwortung entziehen. Schließlich das Umfeld der beamteten Institution mit ihren Zwängen und Zumutungen. Das allein sorgt für kleinste Spannungen, die die Lektüre antreiben. Zwei Motive rücken dabei speziell ins Zentrum der Aufmerksamkeit: das unglückliche Bewusstsein des Helden sowie seine tiefe Skepsis gegenüber dem wissenschaftlichen Arbeiten.

Maarten hält sich weiterhin unter permanenter Selbstbeobachtung, was mitunter zu geradezu ungeheuerlich anmutenden Bemerkungen führt: „In einer Gemeinschaft von Nazis wäre ich eine Art Eichmann geworden, stellte er fest.“ Und etwas später spürt er angesichts seiner „Angst vor anderen“, dass diese ihm „beim Lesen von Todesanzeigen gelegentlich ein Gefühl der Missgunst bescherte“.

Es macht Maarten zu schaffen, dass er, der linke Idealist, sich im Büro zu pragmatischen Lösungen gezwungen sieht und dafür Kritik einstecken muss – beispielsweise von Nicolien, seiner prinzipientreuen Frau, die jeder Arbeit mit Argwohn begegnet. Ideale vertragen sich schwer mit dem beruflichen Alltag. Maartens Versuche, seine Kollegen und Kolleginnen in die Entscheidungen miteinzubeziehen, scheitern an ihrer Beamtenmentalität. Dafür wird ihm von Mal zu Mal vom kategorischen Neinsager Bart Asjes widersprochen. „Da bin ich anderer Meinung“ lautet seine Standardantwort auf alles, was von Maarten kommt. Die Diskussionen mit Bart führen oft in einen Leerlauf der Paradoxie, der etwas quälend Realistisches erhält. Wer kennt sie nicht, diese umständlichen Debatten unter Taubstummen! Zwischen Anspruch und Wirklichkeit steckt der Keim von Maartens unglücklichem Bewusstsein: „Tun woran man glaubt, und sagen, was man denkt. Es erschien einfach, doch war es auch menschlich? Und wenn man es nicht konnte, wie sollte man dann leben?“

Auch wenn er bei sich eine asoziale Grundstruktur feststellt, scheint er „einer der wenigen hier, der menschlich geblieben ist“, wie ihm eine Mitarbeiterin gesteht. Zum eigenen Schrecken erfährt Maarten immer wieder Lob dafür, dass er gut zuhören könne, geduldig bleibe, bei seinen Auftritten kühlen Kopf bewahre und klar argumentiere. So gerät er erst recht in einen Clinch zwischen Introspektion und Außenwahrnehmung. Seine Unzufriedenheit nährt sich ganz aus sich selbst und unabhängig von äußeren Urteilen und Faktoren. Das unglückliche Bewusstsein ist seine raison dʼêtre, die sich auch aufʼs Feld der wissenschaftlichen Arbeit erstreckt.

In seinem kleinen Roman Unternehmer (2014) liefert Matthias Nawrat eine vortreffliche Kurzdefinition über das „Wesen der Arbeit: dass sich stets – so schön diese Arbeit auch sein möge – eine zweite Person in einem regt, die nicht arbeiten will“. Unter diesem Aspekt arbeitet Maarten extrem hart. Der Zweifel an allem, was er tut, begleitet ihn hartnäckigst. Er hält die Arbeit für grundlegend sinnlos, besonders jene am Institut. Wissenschaft ist nur dann von Wert, glaubt er, „wenn man sich aufbläst wie ein Frosch“ und irgendjemand darauf wartet, „dass man platzt“. Und: „Das Fach existiert erst, wenn man an einem Samstagnachmittag Geschwätz verkauft, vor einem Publikum von sechs Leuten, von denen fünf präsent sein müssen und einer dement ist oder sich langweilt.“

Vielleicht deshalb wird Maarten – ganz dialektisch – zum Erneuerer seiner Zunft. Allem Widerwillen zum Trotz arbeitet er, weil er sich wegen seines Lohns für seine Aufgaben verantwortlich fühlt. Die Prinzipientreue hält die innere Wut in ihm gefangen – bis sie unvermittelt doch ausbricht – wie 1974 am Kongress zum Europäischen Atlas in Budapest. Ob der völlig veralteten, ja geradezu blödsinnigen wissenschaftlichen Prämissen, die für die Arbeit an diesem volkskundlichen Altas gelten sollen, reißt ihm der Geduldsfaden. Er begehrt auf. Jede historische Forschung könne erstens nur für bestimmte Zeiträume gelten, wirft er zurecht ein, und müsse stets auch unter sozialen Gesichtspunkten betrachtet werden. Was heute selbstverständlich klingt, provoziert einen Putsch gegen die Garde der Altgedienten. Den inneren Aufruhr bändigt Maarten mit äußerlicher Besonnenheit und Brillanz, wie ihm die Kollegen attestieren. Nur er selbst kann und will es sich, unzufrieden mit sich selbst, nicht eingestehen.

Dennoch sehen wir Maarten in diesem Band häufiger lächeln und sogar lachen, wenngleich zuweilen etwas gequält. So abgrundtief finster seine Weltsicht ist, es steckt zugleich etwas Süßes und Versöhnliches darin. „Das Bewusstsein, dass man isoliert ist, dass das Leben aussichtslos ist, das ist das Schönste, was es gibt.“ Damit kann er leben.

In solchen Prozessen zeigen sich die unnachahmlichen Stärken von J.J. Voskuils Das Büro. So gleichmütig der Roman in seiner Grundanlage wirkt, so hochauflösend genau sind die Selbstbeobachtungen seines Helden Maarten Koning, und so fein verästelt ist die Konstruktion seiner Leitmotive und Handlungsstränge, die scheinbar antriebslos Spannung schaffen. Am Ende von Band drei stellen sich dringende Fragen: Was geschieht nun mit der Zeitschrift „Ons Tijdschrift“? Zeitigt Maartens Putsch Folgen? Wird mit Bart jemals ein vernünftiger Disput möglich sein? Solche Fragen lassen die eingefleischten Leser gespannt den nächsten Band erwarten. Voskuil braucht dafür keine Aufregungen und Sensationen.

Für seine Leserinnen und Leser erhält Das Büro Züge einer ethnographischen Exkursion in den eigenen Alltag. Das ist der vielleicht aufregendste Aspekt. Maartens selbstquälerisches Wesen regt dazu an, sich selbst zu beobachten und zu befragen: Wie arrangiere ich mich mit den Demütigungen des Alltags, welche Diskursstrategien verfolge ich, wie kontrolliere ich die Wut in mir? Maarten wird zum Spiegel des eigenen Bewusstseins. In der Beziehung ist Voskuils Büroroman ein ungeheuer reiches, subtiles Buch, das dafür auch in der Übersetzung von Gerd Busse eine schlichte und präzise Form gefunden hat.

Der Bandtitel Plankton übrigens erschließt sich erst auf den letzten Seiten: Direktor Beerta erleidet, nachdem er Maarten beim Putsch in Budapest noch tatkräftig unterstützt hat, einen tragischen Schlaganfall. Sein Freund Karel kommentiert es lakonisch mit den Worten: „Aus Anton ist Plankton geworden!“ Etwas rein Vegetatives ohne Chance auf Heilung.

Titelbild

J. J. Voskuil: Das Büro 3. Plankton.
Aus dem Niederländischen von Gerd Busse.
Verbrecher Verlag, Berlin 2015.
959 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-13: 9783957320087

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