Wenn es denn passiert ist…

Howard Jacobsons Roman „J“ berichtet vom Leben in einer Welt nach dem großen Schrecken. Oder doch nicht?

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Etwas Schreckliches ist passiert, wenn es denn passiert ist, und die Überlebenden dieses Ereignisses sollen doch bitte keine Erinnerungen mehr an diese scheinbar dunkle Vergangenheit pflegen. Sie sollen keine Musik oder Bücher oder Filme kennen – in dieser Welt gibt es nur noch Bilderbücher –, Geschichte ist ein schwarzes Loch und Ahnenforschung unerwünscht. Verboten oder strafbar ist das alles nicht, es ist jedoch unerwünscht und so besitzt man keine Reliquien der Vergangenheit mehr, man fragt nicht was einmal war und langsam vergisst man, was denn passiert ist – wenn es denn passiert ist.

Howard Jacobsons Roman „J“ spielt in einer Welt, die vergessen will, einer Welt, in der man sich mit einer pubertär-naiven Art des Zusammenlebens arrangiert hat, wo erwachsene Menschen ihre sexuellen Triebe oder ihre Lust an kleinen, gewalttätigen Überschreitungen offen ausleben, ihre soziale Rolle jedoch niemals infrage stellen. Wie eine schwarze Wolke schwebt ein vergangenes Ereignis über den Menschen, die (mutmaßlich) den Norden Großbritanniens bevölkern, über das jeder nur als „das was passiert ist, wenn es denn passiert ist“ spricht. Tatsächlich tragen alle Bewohner der Region jüdische Nachnamen (und keltische Vornamen), ohne dass sie dem jüdischen Glauben angehören. War es vielleicht ein zweiter Holocaust, der in Europa stattgefunden hat, und die Täter müssen zur Sühne jene jüdischen Namen tragen? Oder ist dieses geheimnisumwitterte ‚Ereignis‘ nur eine Täuschung, um die Menschen in ein archaisch-domestiziertes Leben zu zwingen, das auf dem technischen Stand von ca. Mitte des 20. Jahrhunderts basiert? Antworten bietet „J“ nicht an, das ist aber, wie im Laufe des Romans deutlich wird, gar nicht so wichtig.

Tatsächlich basiert Jacobsons Idee auf einem Experimentalfilm des Regisseurs und Künstlers Peter Greenaway namens „The Falls“. Der Autor verweist niemals explizit auf dieses eindeutige Vorbild, doch sind die Spuren unverkennbar. „The Falls“ basiert auf einer lexikalischen Struktur und gibt vorgeblich einen kleinen Einblick in ein monströses Gesamtwerk (das selbstredend fiktiv ist): In hundert kurzen Segmenten wird jeweils die Kurzbiographie eines Menschen erzählt, dessen Nachname mit den Buchstaben F-A-L-L-S  beginnt und der, wie scheinbar die gesamte Bevölkerung eines nicht genannten Landes, Opfer eines „Great Unknown Event“ geworden ist, als dessen Folge die Menschen eine nicht näher explizierte Obsession mit Vögeln entwickelt haben. Die ausgewählten Biographien deuten an, dass der Zuschauer des dreistündigen Films eben gerade in dem Moment reinschaut, als man im Alphabet bei F-A-L-L-S angekommen ist. Einen kohärenten Zusammenhang oder gar eine Aufklärung, was jenes „Great Unknown Event“ nun war oder genau bewirkt hat, erhält er nicht.

Jacobsons Roman funktioniert auf ähnliche Weise: Der Leser wird in eine Welt geworfen, welche die Folgen dessen „was passiert ist, wenn es passiert ist“ tragen muss, ohne genau geschildert zu bekommen, was da überhaupt war. Sicher sind nur die jüdischen Nachnamen, der vorherrschende Infantilismus und das geforderte Vergessen der Vergangenheit. Wie bei einer Dystopie üblich, gibt es einen Protagonisten, der gegen die als totalitär empfundene Gesellschaft aufbegehrt: Kevern Cohen hört heimlich die alten Jazzplatten seines Vaters, er hat sein Haus mit alten Möbeln vollgestellt (von denen er behauptet, es seien Imitate), und er denkt oft an die Vergangenheit. All dies ist ausdrücklich nicht verboten, und wird ebenso ausdrücklich nicht kontrolliert, gewünscht ist es jedoch nicht. Man wolle sich nicht mit der Vergangenheit abgeben, so die offizielle Version, das führe am Ende wieder zu einem Ereignis wie dem, das passiert ist (wenn es denn passiert ist). Cohen wohnt in dem Küstenstädtchen Port Reuben, in dem die Menschen sich allesamt gleich verhalten: Sie trinken viel zu viel Alkohol, prügeln sich öffentlich, fast alle Frauen werden zuhause von ihren Männern geschlagen, und fast alle Menschen gehen mehr oder weniger öffentlich fremd, was wieder zu neuen Schlägereien führt. In diesem ewigen Kreislauf des brutalen Infantilismus wirkt der sensible, schüchterne Kevern Cohen wie ein Fremdkörper und wird folgerichtig von getarnten Agenten beobachtet. Als er die nicht minder unangepasste Ailinn Salomon kennen und lieben lernt, beginnen beide eine Suche nach ihrer wahren Identität.

Es wird kein Geheimnis verraten, wenn man an dieser Stelle bereits erfährt, dass der Leser am Ende des Romans in Bezug auf die Umstände, die zu jener seltsamen Gesellschaftsform geführt haben, ebenso schlau ist wie zu Beginn. Man erfährt nicht, was denn nun genaues „passiert ist“ (und ob es passiert ist), auch wenn im Roman abgedruckte Auszüge aus Gesprächsprotokollen einen Hinweis geben, der auf eine massenhafte Vernichtung von Menschenleben deutet. Ein zweiter Holocaust, so soll man wohl annehmen, der das schlechte Gewissen der Regierung erklären könnte, die zur Wiedergutmachung eine Art erzwungenes Judentum, zumindest im weiterzutragenden Nachnamen, verordnet hat. Denn in einer Schlüsselszene, als Kevern und Ailinn in die „große Stadt“ fahren, um dort Ailinns Telefon reparieren zu lassen (eine scheinbar illegale Aktion, die beschrieben wird wie ein größerer Drogen- oder Waffendeal), werden die beiden von einem sinistren Taxifahrer zu „den Cohens“ gebracht. Als Kevern freudig äußert, das seien dann ja vielleicht Verwandte, meint der Fahrer nur despektierlich, nein, ganz sicher nicht, dies seien „richtige“ Cohens. Trotzdem fühlt Kevern beim Betreten der Nachbarschaft eine Art unbewusstes Wiedererkennen aufkommen. Ist er vielleicht ein ‚echter Jude‘ (auch wenn dieses Wort nie fällt), der von den Säuberungen verschont wurde?

All dies bleibt, wie so vieles in diesem Roman, Spekulation. Es ist dem Leser überlassen, was er mit der dystopischen Geschichte anfangen möchte, in welche Richtung er meint, sie deuten zu können. Zwar wird zumindest die Genealogie Ailinns nach und nach entschlüsselt, doch aufgrund der Unmöglichkeit der Protagonisten, Dinge beim Namen zu nennen, bleibt auch dies in der Schwebe. Allerdings wäre da noch der Titel des Buches, ein von zwei horizontalen Strichen markiertes „J“. Es ist das Zeichen der zwei Finger, die Keverns Vater immer vor den Mund legte, wenn er ein Wort aussprach, das mit „J“ begann; eine Angewohnheit, die sich Kevern als nervösen Tick bewahrt hat. Und ein Hinweis darauf, nicht über das Judentum zu sprechen? Das eigene Judentum zu unterschlagen, obwohl jeder Bürger sogar gezwungen wird, einen jüdischen Namen zu tragen? Was ist wirklich in dieser seltsamen Welt vorgegangen, die Jacobson uns hier detailliert schildert?

„J“ ist ein großes Leseabenteuer, ein ernstes Ratespiel, ein literarisches Puzzlespiel in der Tradition Georges Perecs. Wäre da nicht der etwas inkohärente, sich manchmal etwas zu nahe an der Travestie bewegende Stil Jacobsons, der gerade in der zweiten Hälfte das Lesevergnügen erheblich schmälert und aufgrund dessen auch die Figuren nie richtig zum Leben erweckt werden. „J“ funktioniert eher als Konzept, als Versuchsanordnung, denn als tatsächlicher Roman, und das ist gerade aufgrund des spannenden Themas ziemlich schade.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Howard Jacobson: J. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Friedhelm Rathjen.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2015.
410 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783421046888

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