Der „Augenblick, da Dada da war“
Thilo Bock nähert sich dem Bühnenkünstler Hugo Ball
Von Johannes Schmidt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEs gibt eine gewisse Tradition in der Literaturgeschichte, dass avantgardistische Dichter mit mystizistischem Hang sich irgendwann dem Katholizismus zuwenden. Begründet hat diese Tradition Friedrich Leopold zu Stolberg, berühmt gemacht hat sie Friedrich Schlegel und auch Hugo Ball, der Gründer der „Künstlerkneipe Voltaire“, hat sich, 100 Jahre nach jenem, in diesen Kreis eingereiht. Gemeinhin ist über diese Rückfälle ins Konservative gespottet worden, für die Zeitgenossen kamen sie oft unvermittelt. Dabei finden sich im Werk der Konvertiten oft Spuren einer langen, gründlichen Auseinandersetzung mit Glaubensinhalten, die den ‚äußerlichen‘ Schritt der Konversion nur konsequent erscheinen lassen. Das gilt für Schlegel (dessen Neigung zum Religiösen man etwa im verqueren Alarcos-Drama bestaunen kann) und für Hugo Ball – wie man spätestens aus einer hervorragenden neuen Biografie erfährt, die der Schriftsteller Thilo Bock nun vorlegt.
„,Eine lebendige Zeitschrift gewissermaassen.ʻ Hugo Ball und die literarische Bühne“, so der Titel der Künstlerbiografie, wurde 2003 von Bock als Dissertation an der Technischen Universität Berlin vorgelegt. Für die Publikation im Verbrecher Verlag hat er die in der Zwischenzeit erschienene Literatur zu Ball und dem Dadaismus eingearbeitet, so dass sich der Text nach wie vor auf der Höhe der Forschung bewegt. Dem Untertitel gemäß verzichtet der Autor auf Biografisches im allgemeinen Sinne, beleuchtet also weder Balls Jugend noch seine späten Jahre und klammert auch das Privatleben aus, sofern es sich nicht unmittelbar mit dessen künstlerischer Tätigkeit berührt. Der Fokus liegt ganz auf dem Jahrzehnt des Ersten Weltkriegs (insbesondere natürlich dem Dada-Jahr 1916), mit Balls erster Hinwendung zu Theater und Kabarett, seinen schriftstellerischen Versuchen, der Gründung des Cabaret Voltaire und dem rasch darauf folgenden Abschied vom sich unter Tristan Tzara konstituierenden Dadaismus.
Bock nimmt sich im ersten Teil des Buchs viel Raum für Balls künstlerische Einflüsse. So finden sich Kapitel zum Münchner Theaterreformer Georg Fuchs, zu Wassily Kandinsky und zu Hans Leybold; alle drei wurden für Ball enorm wichtig, aus ihren Ideen – oder, wie im Falle Leybolds, aus der symbiotisch engen Zusammenarbeit – entwickelte er seine Vorstellungen nicht nur vom Theater, sondern überhaupt davon, was die moderne Kunst zu leisten habe. Hinzu kommen der erste Kontakt mit dem späteren Zürcher Partner Richard Huelsenbeck und die Bekanntschaft mit Emmy Hennings, die nicht nur Balls engste Mitarbeiterin, sondern auch seine Ehefrau wurde, dem Dadaismus aber von Anfang an so fern stand, wie Ball es später ebenfalls tun sollte, und die am Ende des Jahrzehnts selbst schriftstellerisch aktiv wurde.
Den Hauptteil der Darstellung nimmt die Zürcher Zeit am Cabaret Voltaire ein. Unzufrieden mit einem Engagement bei einer anderen Kabarettgruppe und in finanzieller Not mieteten Ball und Hennings Anfang 1916 den Veranstaltungsraum einer Kneipe, luden Freunde ein, sich am Programm zu beteiligen und schufen so die „Künstlerkneipe Voltaire“. Schon der Name deutete eine politische Dimension des Unternehmens an, war Ball doch Kriegsgegner und überzeugt von der preußisch-deutschen Kriegsschuld; entsprechend sollte das Programm des Kabaretts sich an der französischen Kultur orientieren und so Kunst und Politik verbinden wie „eine lebendige Zeitschrift“ – ein Vorsatz, der binnen kürzester Zeit unterging im dadaistischen Trubel. Ein Stück weit getrieben von den offen auf spaßige Unterhaltung zielenden Mitarbeitern Huelsenbeck und Tzara, teilweise auch früher gewonnene Ideen über Theater und Literatur fortspinnend, entwickelte Ball stattdessen seine Lautgedichte, in denen er der „gebrauchten“ Sprache – die ja auch und gerade die Sprache der deutschen Kriegspartei war – den Rücken kehrte, um neue, eigene Worte zu finden. Bock bemüht sich hier um eine gründliche Rekonstruktion der Geschichte der Künstlerkneipe; keine Kleinigkeit, wenn man die dünne Quellenlage bedenkt, die angesichts der damals fehlenden Möglichkeiten zur Aufzeichnung der Auftritte diese Arbeit fast unmöglich macht. Dass sich das Kapitel zum Cabaret Voltaire dennoch mit Gewinn liest, ist ihm dementsprechend hoch anzurechnen. Sein Buch ist allein schon deshalb empfehlenswert.
Ein etwas kürzerer Abschnitt nimmt eine dezidiert literaturwissenschaftliche Perspektive ein; hier widmet Bock sich den einzelnen Formen von Literatur, mit denen Ball und seine Mitstreiter experimentierten. Seine eingängig geschriebenen und nicht weniger gründlichen Analysen bilden ein wertvolles Seitenstück zur historischen Darstellung und würden auch, eventuell in erweiterter Form, als eigenständige Publikation eine gute Figur machen. Hier offenbart Bock jene Spuren des Religiösen, die Balls Abwendung erst von der Bühne des Dadaismus und dann von der Literatur überhaupt zum letzten Schritt einer lebenslangen Entwicklung machen. Diesen Abschied skizziert er in einem letzten, kurzen Kapitel.
Der Dadaismus, den wir heute so untrennbar mit Hugo Ball assoziieren, hatte eine lange Vorgeschichte, die in der avantgardistischen Theater- und Kunsttheorie nach der Jahrhundertwende und in der politischen Abgrenzung zum preußischen Militarismus gründet. Und er hatte eine lange, doppelte Nachgeschichte, einmal in der Internationalisierung einer Bewegung namens „Dada“, an der Ball keinen Anteil hatte und die seinen Vorstellungen nicht länger entsprach, dann in der Abwendung des Künstlers vom artistischen Ausdruck hin zu einer Religion, die ihm half, sich und seine Zeit besser zu verstehen. Bock ist mit der Rekonstruktion dieser Zusammenhänge, die zum „Augenblick, da Dada da war“ führten, ein kluges Buch gelungen, das eine interessante Lektüre für jeden bietet, der verstehen möchte, was sich vor 100 Jahren in der Zürcher Spiegelgasse ereignete.
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