Vom Ausstellen der Leerstellen

Simon Ward zum musealen Blick auf das asynchrone Berlin in visueller Kunst der Nachkriegszeit bis heute

Von Stephan EhrigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Ehrig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach vielen Jahren Forschung und methodischem Experimentieren legte Simon Ward im letzten Jahr nun seine Studie Urban Memory and Visual Culture in Berlin. Framing the Asynchronous City, 1957-2012 vor, in dem er der Erforschung von Erinnerungsorten die neue Komponente des urbanen Gedächtnisses (urban memory) hinzufügt. Konkret setzt er sich dabei mit dem urbanen Gedächtnis Berlins, genauer mit jenen Leer- und Bruchstellen auseinander, die Kriegszerstörung und moderner Wiederaufbau hinterließen und die als ‚ungewollte Denkmäler‘ im Riegl’schen Sinne den Stadtraum als musealen Erinnerungsraum anregen. Um dies zu erfassen, analysiert Ward filmische und fotografische Darstellungen, die von den radikalen (Um-)Brüchen, Neufassungen der Berliner Stadtkubatur in Ost und West der letzten 50 Jahre beeinflusst worden sind, und diese neue Raumerfahrung künstlerisch erfahrbar zu machen versuchten.

Dabei nimmt er, aufbauend auf Theorien von Ortsgedächtnis und Raumerfahrung nach Maurice Halbwachs, Michel de Certeau und Paul Connerton, auch Aleida Assmanns kommunikatives und kulturelles Gedächtnis in den Blick und konstatiert für seine Darstellung des urbanen Gedächtnisses, dass es eine Verbindung zwischen den beiden aufbaut, da es primär eine Begegnung mit einem Gedächtnisraum darstellt. Für Ward ist wichtig, und das postuliert er für seine Definition von Raumbild (spatial image), dass es im Endeffekt drei entscheidende Dynamiken gibt, die das Ortsgedächtnis konstituieren: Einerseits die kognitive Auseinandersetzung des oder der Einzelnen mit einem Ort, dann eine spezifisch ausgeprägte Raumwahrnehmung und schließlich die Begegnung mit der authentischen, die Zeit überstandenen materiellen Umgebung, die über eine auratische Kraft verfügt. Daraus ergibt sich dann eine besondere Beziehungserfahrung zwischen dem materiellen Objekt oder dem Ort und der erfahrenen Idee von dessen historischem Zeugnis, bei der nicht nur die Langlebigkeit des Objekts, sondern vor allem die Dauer der Begegnung für das Entstehen einer Ortsaura ausschlaggebend ist.

In den vielen Bau- und Kriegslücken, die in Berlindarstellungen immer wieder aufgegriffen worden sind, sieht Ward nun genau diese Qualität, mit der sich jenes urbane Gedächtnis entfaltet. So argumentiert er, dass auf Grundlage der synchronen, die gewachsene Stadtstruktur Berlins zugunsten einer reinen Verkehrsplanung weitgehend ignorierenden Stadtplanung beider Berlins der Nachkriegszeit, die Kontraste zu den verbliebenden Zeitschichten eigentlich erst geschaffen worden sind und somit eine asynchrone Blickweise auf den städtischen Raum nahezu provozieren. In Anlehnung an Andreas Huyssen beschreibt Ward dies als museal gaze, wobei die Künstler_innen zu Kurator_innen werden, die den urbanen Raum mit seinen aufeinandertreffenden Zeitschichten gleichzeitig ausstellen und archivieren. Dabei wird weniger der eigentlichen historischen Bedeutung eines Ortes als vielmehr ihrer Ermöglichung einer lokalen, kollektiven Gedächtnisraumerfahrung Bedeutung beigemessen, wobei es egal ist, ob es sich um eine Kriegsbrache, ein besetztes Haus oder ein abzureißendes Gebäude handelt. Grundvoraussetzung ist, dass diese urbanen Strukturen erst einmal obsolet geworden sind, sie keine Funktion mehr in der Gegenwart haben, aus der Zeit gefallen sind und auf eine vorangegangene Zeitstufe Berlins verweisen und somit den museal gaze ermöglichen.

In vier Kapiteln veranschaulicht Ward dann diese Orte, indem er stets die bauliche Rahmenplanung beider Städte mit ihrem Niederschlag und ihrer Thematisierung in Film- und Fotokunst kontrastiert. Das erste Kapitel, Remembering the Murdered City, 1957-1974, nimmt die IBA „Hauptstadt Berlin“ 1957 als Ausgangs- und Höhepunkt der Westberliner Nachkriegskonzipierung, mit dem Hansaviertel als Sinnbild für die synchrone Stadt: die homogene und homogenisierte moderne Stadt, die jedwede Geschichte und bestehende soziale und wirtschaftliche Räume negiert und vor allem alles um den Automobilverkehr herum plant. Dies verleitete einerseits Wolf Jobst Siedler zu seinem Urteil einer ‚gemordeten Stadt‘, andererseits bezeichnete Alexander Mitscherlich diese Verlusterfahrung als beabsichtigte Kollektivamnesie und attestierte ihr die Zerstörung eines öffentlichen Bewusstseins. Für West- wie Ost-Berlin stellt Ward dabei gleichermaßen fest, dass der urbane Raum nur nach den Parametern der Zirkulation von Menschen und Verkehrsmitteln organisiert wurde, die zwischen den getrennten Lebens-, Arbeits- und Vergnügungsbereichen pendeln mussten.

Die Darstellung der parallelen Entwicklungen, etwa ein Vergleich des Abrisses des Stadtschlosses und des geplanten Abrisses der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, ist in Wards Darstellung ein klarer Gewinn und ein Verdienst dieses Buches, da die offenbaren Bezugnahmen und Ähnlichkeiten dabei besser herausgearbeitet werden können. In seinen Analysen zur Repräsentation beider Stadträume in Fotografie und Film zeigen sich aber auch wieder die unterschiedlichen Fokussierungen und Rahmenbedingungen: So nimmt Wim Wenders erster Film Summer in the City (1970) bei allen Parallelen eine andere Perspektive auf West-Berlin ein als Heiner Carows Die Legende von Paul und Paula (1973), obwohl sie beide den musealen Blick aus den Autotrassen auf die sich verändernde Stadtstruktur reflektieren. Gleichzeitig setzte in den 1970er Jahren eine Rückbesinnung ein, in der nach dem Schutz der verbliebenen sogenannten Traditionsinseln nun in beiden Städtehälften Altbauviertel saniert und ergänzt und die Gründerzeit-Hinterhöfe erneut für die Ermöglichung eines sozialen Milieus bewundert wurden, auch gerade weil jene als bedrohte Form des Zusammenlebens besonders ins Bewusstsein der Stadtbevölkerung gerückt worden sind. Hier setzt dann etwas ein, was Ward als place memory work bezeichnet und welche in visueller Kunst ab den 1970er Jahren verstärkt Prominenz erlangen sollte.

Der museale Blick auf die asynchrone Stadt gerät in den Fokus und reagiert auf die städtebaulichen Spuren der Vergangenheit, indem er sich nun auch theoretisch-konzeptuell und archivarisch damit auseinandersetzt, wie man eine ‚Arbeit am Raum’ in die Produktion von Raumbildern unter Hinzunahme der vorhandenen Architektur umsetzen kann, was dann in Form von Aktionskunst, Fotografie und Film in die Tat umgesetzt wurde. Hierbei untersucht Ward die Neugestaltung der Topografie des Terrors im damaligen Randgebiet Kreuzberg, bei der die europäische städtebauliche Geschichte wieder als gegeben angesetzt wurde, die man mit Gedenkorten kontrastieren und harmonisieren wollte. Die besten Analysen gelingen Ward aber zu der Ruine des Anhalter Bahnhofs, ebenfalls in der südlichen Friedrichstadt gelegen. Dort fand 1979 Raffael Rheinbergs Fotoausstellung statt, die das leere Feld um die Ruine nicht als Museum, sondern als offenen Raum kuratierte, in dem das Alltägliche, ausgehend von den Relikten und der Materialität des Ortes und seiner Objekte, Erinnerungswert hat. Weitere Analysen zum Anhalter Bahnhof, neben anderen Beispielen, finden sich in Kapitel 3, The Remembered City on Display. Nicht nur befasst er sich hierbei mit der Ausstellung ‚Mythos Berlin‘, die im Rahmen der zweiten IBA 1987 am Anhalter Bahnhof stattfand und in der man den Wandel zurück zur europäischen Stadt, aber auch zur offenen Reflexion über die Stadt selbst als Museum und Museumsfläche deutlich nachvollziehen kann. Vor allem Wim Wenders’ Film Der Himmel über Berlin (1987) stellt die West-Berliner Brachen aus und verleitet den Betrachter ebenfalls wieder dazu, sich auf eine museale Begegnung mit der Stadt einzulassen, mit dem Anhalter Bahnhof und der Ruine des Hotel Esplanade als Kulminationspunkte des musealen Blicks des Films.

Nicht nur die IBA 1987, die gemeinsam mit der 750-Jahr-Feier Berlins stattfand und die endgültige Rückkehr der asynchronen Stadt manifestierte, war ein Fixpunkt in der stadträumlichen Aufarbeitung, sondern in beiden Teilstädten erschienen zudem Fotobände, die sich einer archivarischen Bestandsaufnahme obsoleter Gebäude widmeten. Auch in DEFA-Filmen gab es verschiedenste kontemplative Betrachtungen über Verfall und Überholtheit alter Gebäude, wie Ward in seiner Analyse von Konrad Wolfs Solo Sunny (1980) verhandelt, der ähnlich wie Rodolf Thomes Berlin Chamissoplatz (1980) auf der anderen Seite der Mauer eine Kritik an der Zerstörung von Berliner Vorkriegsbebauung mit einem Versprechen an das im Film geleistete dokumentarisch-fixierte Ortsgedenken verbindet.

Auf ähnliche Weise, aber weniger geglückt versucht Ward den ebenfalls im Kontext der 750-Jahr-Feier erfolgten Wiederaufbau des Nikolaiviertels in Ost-Berlin zu parallelisieren, was grundsätzlich sinnfällig ist, aber im Buch im Kontext von Peter Kahanes Film Die Architekten (1990) geschieht, was inhaltlich nicht passt, da es um diese Art Städtebau im Film nicht geht, und das Nikolaiviertel in seinem Anlass und Anspruch zu stark vereinfacht. Besser gelingt dies in seiner Besprechung von Jürgen Böttchers Film Die Mauer (1990). Der Film setzt genau in dem Moment an, die Mauer und Ostberlin zu fokussieren und zu historisieren, als sie und alle anderen DDR-Objekte überflüssig werden und als obsolete, museale Relikte in die Sphäre der westdeutschen Deutungshoheit übergehen.

Mit dieser Beobachtung ist dann auch sogleich der Übergang für sein letztes Kapitel, In Search of a City, bereitet, denn was er zuvor in getrennten, wenn auch parallelen Bereichen darstellten konnte, fällt 1990 nun in einen gemeinsamen Stadtraum zusammen, in dem nun auf einmal zwei unterschiedliche kollektive Erfahrungen aufeinandertreffen, und deren Analyse ein signifikantes Licht darauf wirft, wie die verschiedenen Gedächtnispraxen beider Stadthälften mit der Herausforderung umgingen, das urbane Gedächtnis des wiedervereinigten Berlins zu fassen. Ward beschäftigt sich hier einerseits mit dem Wiederaufbau des Potsdamer Platzes, der in seiner Aufnahme von Objekten der Vergangenheit sich als Kontinuum darstellt, indem museal eine Verbindung zur Kaiser- und Weimarer Zeit hergestellt wird, die NS-Zeit wiederum ignoriert und die DDR als etwas dargestellt wird, was überwunden wurde. Dies kontrastiert er, neben anderen Beispielen, vor allem mit dem beschlossenen Abriss des Ost-Berliner Palasts der Republik, der nicht nur oberflächlich wie eine Parallele zum Schlossabriss in der DDR anmutet (obwohl Ward dessen Umstände deutlich differenzierter herausarbeitet). Vor allem zeigt sich beim Palast, wie das urbane Gedächtnis des Nachwende-Berlins zunehmend internationalisiert wird, da vermehrt und hauptsächlich ausländische Künstler_innen und Wissenschaftler_innen wie Ward selbst den Gedächtnisraum Berlin bespielen und analysieren, und dabei das komplexe Zusammenspiel von Begegnung mit diesen Orten und deren Narrativierung in der museal-urbanen Betrachtungsweise formen und verstärken. Damit kann das Konzept des ‚urbanen Gedächtnisses‘ auch über Aleida Assmanns Verständnis hinaus operieren, das oft national-kulturell konnotiert bleibt. Generell geht das urbane Gedächtnis über ein das konkrete Ortsgedächtnis hinaus, da es seine Asynchronität auch an Ortsfremde und Touristen vermitteln kann, und jene zusammen mit lokalen Gruppen eine deutlich breitere Kollektiverfahrung konstituieren.

Ward schließt seine Betrachtungen mit der wichtigen These, dass Paul Connertons Behauptung, „Die Moderne vergisst“, revidiert werden muss, weil sie eben nicht alle Spuren ausgelöscht hat. Im Gegenteil: Was sie an Leerstellen und Altbausubstanz hinterlassen hat, barg Potential und schuf dadurch einen Raum, der eben durch seine Spannung die verschiedenen Zeitebenen sicht- und erlebbar macht und damit Berlin und auch andere ostdeutsche Städte in der räumlichen Obsoleszenz der Nachwendezeit gekennzeichnet und deren kreative Kultur geprägt und teils auch geschaffen hat. Wards Buch leistet somit vieles: Es ist ein sehr guter Überblick, der vor allem das Raumverständnis der geteilten Stadt adäquat aufgreift und durch seine methodisch gelungene Einbindung von Film, Fotografie und durch den Ansatz der musealen Betrachtung jenen urbanen Gedächtnisraum erfasst, der Berlin in Ost und West prägte, eine bestimmte Kultur hervorbrachte und beeinflusste, und der zur Zeit im Zuge der regen baulichen Auffüllung dieser Flächen im Zuge der Reurbanisierung und Gentrifizierung neu verhandelt und debattiert wird. Das Buch zeigt auch, dass es diese Aspekte von Berlin sind, die die internationale Kunst- und Wissenschaftsszene nachhaltig fasziniert und anzieht, im Gegensatz zu manchen Inländern, die sich (durchaus nachvollziehbar) eine geschlossene Normalität zurückwünschen und die Faszination des urbanen Gedächtnisses der Hauptstadt teils kontrovers als ‚Ruinenkult’ verteufeln. Auch wenn Ward seine Methodik auf seinem zum Buch gehörigen Blog (asynchronouscityberlin.wordpress.com/) teils schon selbst wieder kritisiert oder differenziert hat, so ist seine Studie zum urbanen Gedächtnis ein gelungener und wichtiger Beitrag sowohl zur Gedächtnis- als auch zur Stadtraumforschung.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Simon Ward: Urban Memory and Visual Culture in Berlin. Framing the Asynchronous City, 1957-2012.
Amsterdam University Press, Amsterdam 2016.
212 Seiten, 79,00 EUR.
ISBN-13: 9789089648532

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