Eine engagierte Feministin, brillante Wissenschaftlerin und multitalentierte Schriftstellerin

Zum Tod von Silvia Bovenschen

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Nachrufe, schrieb Silvia Bovenschen einmal, unterscheiden sich von der Nachrede durch zweierlei, zum einen erreichen sie den betreffenden Menschen nicht mehr, sondern haben ausschließlich und notwendiger Weise andere AdressatInnen, zum anderen, so wolle es „der Brauch“, sollten sie „Gutes über den endgültig Abwesenden enthalten“, wohingegen sich die Nachrede in aller Regel mit dem Adjektiv „übel“ kennzeichnen lässt.

Nun ließe sich anfügen, dass dies keineswegs bedeutet, in Nachrufen zugunsten der Verstorbenen schwindeln zu sollen oder gar zu müssen. Immerhin ließe sich auch schweigen, wenn denn nicht nur oder überhaupt nichts Gutes über die Verschiedene zu sagen wäre. Im Falle der Feministin, Wissenschaftlerin und Literatin Silvia Bovenschens aber lässt sich besten Gewissens ein Nachruf ganz nach altem Brauch schreiben.

Bovenschen, die zuletzt als hochgeschätzte Literatin reüssierte, war im Laufe ihres Lebens in vielen Textsorten unterwegs, und dabei in jeder erfolgreich. Neben einer umfassenden literatur- und kulturhistorischen Untersuchung verfasste sie kürzere wissenschaftlichen Arbeiten, Essays und feuilletonistische Texte, auch Rezensionen (1977 etwa zu Christa Reinigs Roman Entmannung in der Schwarzen Botin, in deren österreichischen Redaktion die spätere Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek saß, oder 23 Jahre später in Literaturen zu Ingeborg Bachmanns unter dem Titel Ich weiß keine bessere Welt postum erschienenen Gedichten). Darüber hinaus veröffentlichte sie nicht eben wenige Publikationen zum Schaffen der Malerin Sarah Schuhmann, ihrer Lebensgefährtin, der sie auch ihr letztes zu Lebzeiten erschienenes Buch Sarahs Gesetz widmete. Den Inhalt ihres größten Publikumserfolgs Älter werden wiederum wies sie im Untertitel schlicht als Notizen aus, zweifellos ein Understatement. Und manchmal war eine Veröffentlichung eines fiktionalen Textes eigentlich gar nicht einer bestimmten Textsorte zuzuordnen. Zu denken ist hier etwa an Verschwunden. In Wer Weiß Was wiederum verstand sie es, einen Genre-Cocktail zu mixen, in dem sich die einzelnen Gattungen vom Krimi über den Campus-Roman bis zur Science-Fiction zu einem höchsten Lesegenuss vermischen.

Aber in welcher Textsorte sie auch immer sich bewegt, stets erwies sie sich als glänzende Stilistin. So blieb es nicht aus, dass sie mit zahlreichen Preisen bedacht wurde wie etwa mit dem Johann-Heinrich-Merck-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, deren Mitglied sie war.

Nun war Bovenschen zwar in vielen Textsorten zuhause, doch beschritt sie im Laufe der Jahrzehnte zunehmend, den – zumindest für sie – emanzipatorischen Weg von wissenschaftlichen Arbeiten über essayistische Formen hin zur Literatur, in der sie sich zuletzt am freisten, am wenigsten gebunden fühlte. „Anders als beim wissenschaftlichen Aufsatz oder auch noch beim Essay lande ich nicht im Rechthaben, sondern ich kann loslegen und es spielt alles Mögliche in irgendeiner Weise eine Rolle, die zeitgeschichtlichen Einflüsse ebenso wie die private Situation“, erklärte sie dies in einem Interview, das sie Sonja Baude für den AvivA-Verlag gab.

Gelegentlich führte Bovenschen auch selbst einmal ein Interview. So erschien 1978 ein Suhrkamp-Band mit Gesprächen, die Herbert Marcuse während eines Deutschlandaufenthaltes in jeweils kleiner Runde geführt hatte. Unter seinen GesprächspartnerInnen war Silvia Bovenschen. Die Diskussion, an der neben ihr und Marcuse noch Marianne Schuller beteiligt war, firmiert in dem Buch unter der Überschrift „Weiblichkeitsbilder“. Auch der Band selbst ventiliert ein bestimmtes, nämlich negatives, entindividualisierendes Weiblichkeitsbild. Denn während die Beiträge der Diskutanten in den anderen Gesprächen (es handelt sich ausschließlich um Männer) erkennbar dem jeweils Redenden zugeordnet sind, ist dies bei denjenigen von Schuller und Bovenschen nicht der Fall. Sie sprechen vielmehr als die siamesischen Zwillinge „Bovenschen/Schuller“.

Zwar führte Bovenschen Mitte der 2010er Jahre noch einmal ein Radio-Interview, in dem sie ihre Kollegin Judith Hermann zu ihren literarischen Techniken befragte, doch sollte sie selbst es sein, die in den Jahrzehnten dazwischen und bis zu ihrem Tod hin immer wieder von Funk, Fernsehen und natürlich den Printmedien zu Interviews gebeten wurde. So etwa 2001 von Adolf Stock zu einem Gespräch, in dem sie eindrücklich erklärte, wie aus Idiosynkrasien Vorurteile entstehen.

Biographisch war Silvia Bovenschen schon früh der Literatur und den Wissenschaften verbunden. Die im ersten Nachkriegsjahr Geborene vergrub sich schon als Kind in Büchern und stieß bereits zu Beginn der 1960er Jahre noch als Schülerin zum Frankfurter Ableger des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds. Der nahm die Heranwachsende mit zu Vorlesungen Adornos, die sie zwar fasziniert hörte, ohne zunächst jedoch allzu viel zu verstehen, wie sie Jahrzehnte später in einem Interview bekannte. Doch war sie sogleich tief beeindruckt von der intellektuellen Eloquenz des Mannes und fortan sicher, dass es genau das war, was sie interessierte.

Etwa ein halbes Jahrzehnt später zählte die nunmehrige Studentin zu den Mitbegründerinnen des im Herbst 1968 konstituierten und nach wenigen Monaten schon wieder aufgelösten Frankfurter ‚Weiberrats‘ (seine Angehörigen selbst bezeichneten sich als Sozialistische Frauen Frankfurts), dessen Frauen sich über den von führenden und weniger führenden Chefideologen unbotmäßigen Genossinnen immer wieder entgegengehaltenen Vorwurf des „Penisneids“ mit dem im November 1968 auf dem 24. Delegierten-Kongress des SDS in Hannover verteilten und damals schnell berühmten Kastrationsflugblatt unter der Überschrift Befreit die sozialistischen Eminenzen von ihren bürgerlichen Schwänzen lustig machten. Die Herren Gliedträger konnten (zweifellos wie beabsichtigt) ganz und gar nicht darüber lachen, sondern reagierten geradezu hysterisch, wähnten sie doch ihr Allerheiligstes bedroht, das in der etwas ungelenken Karikatur des Flugblattes als Trophäe einer mit einer Streitaxt bewaffneten Amazone an der Wand hing. Das kaum weniger berühmte ‚Busenattentat’ (eine Aktionsform, die im letzten Jahrzehnt von den Femen perfektioniert wurde), das einige Frauen auf Bovenschens von ihr bis zuletzt auch als Mensch hochgeschätzten Lehrer Adorno verübten, der für seine Techtelmechtel mit Studentinnen bekannt war, wurde, wie sie sich später erinnerte, hingegen nicht vom ‚Weiberrat’, sondern „von den Groupies dummer, rachsüchtiger SDS-Mannen“ initiiert.

Bovenschen selbst war als Feministin damals schon weniger an Aktionen, sondern eher theoretisch interessiert. So wurden sie und Mona Steffen von Gesinnungsgenossinnen „bald angegriffen, weil wir uns um politische und psychoanalytische Theorien bemühten. Wir würden genauso reden wie die Männer, hieß es“, erinnert sie sich 2007 in einem Interview mit der taz. Zudem kritisierte Bovenschen schon früh den Opferdiskurs, der während der 1970er Jahre in feministischen Zirkeln immer lauter wurde. In einem nach der Auflösung des ersten ‚Weiberrates’ neugegründeten zweiten wurde eher „Selbsterfahrung“ betrieben als politisch oder theoretisch diskutiert. Die Frauen, erinnerte sich Bovenschen weiter, „erzählten sich ihre Biografien und definierten ihre Opferrollen, das hat mich nicht so sehr interessiert“. Denn „auch wenn man Gewalt als Problem ernst nimmt, braucht man sich selbst nicht in die Opferrolle zurückzuschmollen. Man kann sich wehren, aggressiv oder witzig.“

So begann ihr berühmter, 1976 erschienener Aufsatz über die Frage, ob es eine „‚weibliche’ Ästhetik“ gibt, denn auch mit der Feststellung, es sei eigentlich an der Zeit, eine „Kampagne gegen Larmoyanz“ zu starten. Auch mochte sie „die Idealisierung des Weiblichen ins Miefige“ nicht, die sie manchen Feministinnen vorwarf. Darum verabschiedete sie sich schon recht früh aus der organisierten autonomen Frauenbewegung. Dass „Frauen aus der geistigen Latzhosenfraktion“ sie in den 70er Jahren daran hindern wollten, einen Vortrag zu halten, weil sie „lackierte Fingernägel hatte und Fremdwörter gebrauchte“, waren für sie hingegen bloße „Peanuts“.

Ihre Differenzen mit Teilen der Frauenbewegung hielt Bovenschen jedoch keineswegs davon ab, sich weiterhin für Frauenrechte einzusetzen und in den 1976 und 1977 neugegründeten feministischen Zeitschriften Courage und EMMA zu publizieren. Schon in der allerersten Ausgabe der EMMA, sie erschien im Februar 1977, war sie mit einem kleinen Text vertreten, wenngleich es sich auch nur um eine kurze Passage aus einem bereits andernorts publizierten Aufsatz handelt. In der etwas älteren und radikaleren Courage veröffentlichte sie noch im gleichen Jahr unter dem enigmatisch anmutenden Titel Die Front der falschen Suppenschildkröten einen längeren Original-Beitrag über eine Frauenkunstausstellung in Berlin mit nicht weniger als 1.000 Exponaten, die damals für einen Skandal sorgte, weil sich die Herren Kritiker und das männlich dominierte Publikum, von einer Ausstellung, die ausschließlich mit Werken von Frauen zu bestückt war, provoziert fühlten. Kritik an der Ausstellung gab es allerdings auch von Seiten eines feministischen Flügels, der, wie Bovenschen in der Courage berichtete, „den Bereich des Ästhetischen zum prinzipiell frauenfeindlichen Terrain“ erklärte, „auch dann, wenn die Produkte von weiblicher Hand stammen“. Es war ein angesichts der dogmatischen, innerfeministischen Angriffe wütender, auch polemischer Artikel, den Bovenschen da verfasst hatte, deren „Zorn“ daher rührte, dass sie sich „mit Parolen auseinandersetzen“ musste, die klangen, „als seien sie einer reaktionären Parodie auf das Treiben eines Kleinstadtrevolutionärs entnommen“. Unter Anspielung auf den mächtigsten Pressezaren der alten Bundesrepublik besagten sie etwa: „Ausstellung ohne Agitationskunst hat Springers Gunst“. Das Rätsel des Titels Die Front der falschen Suppenschildkröten wird in Bovenschens Artikel allerdings nur indirekt gelöst.

1983 war es dann so weit und auch in der EMMA erschien ein Original-Beitrag Bovenschens. Er setzte sich am Beispiel des damals neu in die Kinos gelangten „schamlos künstlichen“ Films Carmen des spanischen Regisseurs Carlos Saura mit dem Modell Carmen auseinander, einer „Metapher für leichte exotische Weiblichkeit“. Gelegentlich publizierte Bovenschen bis in die 1980er Jahren hinein in linksradikalen Postillen wie dem Frankfurter Spontiblatt Pflasterstrand oder auch in dem gemäßigteren Freibeuter, doch nun ebenso in ‚bürgerlichen‘ Periodika wie der damals wie heute als konservativ geltenden Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Zeitschrift Merkur. Und wer weiß, in wie vielen Periodika ihre zahlreichen Beiträge sonst noch zu finden sind. Jedenfalls auch im Spiegel und in der Zeit, letzteres für Intellektuelle ihres Ranges geradezu eine Selbstverständlichkeit. Und natürlich erschienen die Veröffentlichungen der in Literatur- und Kulturwissenschaftlerin in einschlägigen Fachjournalen wie den Frankfurter Adorno-Blättern oder der Neuen Rundschau.

Weit wichtiger, da wirkungsmächtiger als ihre kleineren Texte der 1970er und 80er Jahre waren zwei größere wissenschaftliche Arbeiten. Zuvorderst natürlich ihre 1979 unter dem Titel Die imaginierte Weiblichkeit in der renommierten Reihe edition suhrkamp erschienene Dissertation, einer der bahnbrechendsten literatur- und kulturwissenschaftlichen Texte der 1970er Jahre. Das war und ist umso bedeutsamer, als es sich um eine feministische Arbeit handelt. Mit ihr betrat die Autorin vollkommenes Neuland, denn die Arbeit entstand zu einer Zeit, als die „Geschlechtsspezifität […] noch kein validierter Gegenstand der literaturwissenschaftlichen Theorien“ war, wie Bovenschen im Vorwort konstatierte. Noch heute zählt das Werk zur Grundlagenliteratur, auf der noch immer große Teile der feministischen Literatur- und Kulturwissenschaft fußen. Kurz vor ihrem Tod fasste Bovenschen in einem taz-Interview zusammen, worum es in den laut Untertitel exemplarischen Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen ging:In dem Buch werden – unter anderem – die reichen poetischen Bildvorstellungen der Weiblichkeit kontrastiert mit der Marginalisierung der realen Frauen in den Überlieferungen. Sehr verkürzt gesagt.“

Drei Jahre vor der Publikation ihrer Dissertation hatte Bovenschen schon einmal wissenschaftlich Furore gemacht, als in der Zeitschrift Ästhetik und Kommunikation ihr damals prägender und im neuen Jahrhundert von Literatur- und Kunstwissenschaft noch immer rezipierter Aufsatz Über die Frage: Gibt es eine ‚weibliche’ Ästhetik? erschien, dessen Titel sich, wenn auch mit bescheidenerem Gestus, so doch unverkennbar an denjenigen von Kants Aufklärungsschrift anlehnt, ohne jedoch, wie dieser, eine Antwort zu versprechen. Dafür aber reflektierte Bovenschen umso klüger über die titelstiftende Frage, die sie zuletzt dann doch beantwortet und zwar mit zu dem differenzierten Befund: „Ganz gewiß, wenn die Frage das ästhetische Sensorium und die Formen des sinnlichen Erkennens betrifft; sicher nicht, wenn darunter eine aparte Variante der Kunstproduktion oder eine ausgeklügelte Kunsttheorie verstanden wird.“ Auch dieser Aufsatz Bovenschens ist in der gegenwärtigen wissenschaftlichen Diskussion noch immer präsent.

Eigentlich schien eine universitäre Karriere Bovenschens mit diesen beiden bahnbrechenden Arbeiten vorgezeichnet. Doch stand dem die, wie sie es einmal nannte, „Blutgrätsche der Krankheit“ entgegen. Bereits im Alter von 24 Jahren hatte sie die Diagnose Multiple Sklerose erhalten, die täglich mit neuen Schüben rechnen ließ und deren Symptome von Jahr zu Jahr fortschritten. Dennoch lehrte sie zwei Jahrzehnte an der Frankfurter Goethe-Universität. Obwohl sie dies gerne tat, zog sie sich in den 1990er Jahren ganz aus dem universitären Betrieb zurück. Dies war allerdings nicht allein ihrer sie immer stärker einschränkenden  Erkrankung anzulasten, sondern auch dem Wandel der universitären Lehre, die „zunehmend verschulte“ und nicht mehr dem entsprach, was Bovenschen unter einer „freien Akademie“ verstand: „einen Ort, wo man den Atem und Raum hat fürs Denken“.

Von der Wissenschaft ließ sie darum aber nicht. In den nun oft essayistischen, zunächst aber auch noch wissenschaftlichen Aufsätzen der 1980er Jahre und späterer Jahrzehnte befasste sich Bovenschen mit einem breiten Spektrum literarischer und kultureller Themen, das Philosophie-, Kultur- und Literaturgeschichte und manch anderes umfaßte. Dabei zeigte sie sich in jeder Hinsicht sehr belesen. Weit wichtiger aber noch ist, dass sie ihre Argumente stets sehr klug und überlegt entfaltete, nie bereit, zu einem schnellen, gar vorgefertigten Urteil. Im Laufe der Jahre zog sie jedoch die essayistisch Form zunehmend der wissenschaftlichen vor, wenn sie etwa über Pornographie, Mode, Hexen, Tiere, Idiosynkrasien, Freundschaft, Multikulturalismus oder über das Verschwinden schrieb, das sie nebenbei bemerkt auch literarisch behandelte.

Oft, aber keineswegs immer waren diese Themen mit der – wie es früher einmal hieß – ‚Frauenfrage’, gelegentlich mit einer Kritik der Misogynie verbunden. So etwa in ihren Arbeiten zur Hexenverfolgung oder Pornographie. In einem Aufsatz über ‚die Hexe’ ging Bovenschen nicht nur der historischen Hexenverfolgung nach, sondern auch dem im Erscheinungsjahr 1977 aktuellen Phänomen, dass die Hexe für Feministinnen das wurde, „was Spartakus, die aufständigen Bauern, die französischen Revolutionäre und die Bolschewiki für die sozialistischen Bewegungen“ waren. So wurde ein damals von der Boulevardpresse zur Lesbenhetze genutzter Mordprozess gegen zwei lesbische Frauen von Frauenrechtlerinnen als Hexenprozess kritisierten, auf Demonstrationen verkleideten sich Feministinnen als Hexen, ihre Fahrzeuge versahen sie mit Hexen-Aufklebern, ihre Publikationen nannten sie Hexengeflüster, ihre Lokale Blocksberg. Dies alles allerdings, so kritisiert Bovenschen, ziemlich planlos. Natürlich begrüßte sie es dennoch, dass immer mehr Frauen damit begannen, sich „endlich“ aus ihrer „Erstarrung“ zu lösen.

Der deutschen PorNo-Kampagne, „mehr oder minder ein Import aus den vereinigten Staaten“, stand sie kritisch gegenüber und monierte etwa die „Kahlschlagmetaphorik“ der US-amerikanischen Radikalfeministin Andrea Dworkin, aus deren „monokausalen Schuldzuweisungen“ als Konsequenz „nicht so sehr die des Verbots von Pornographie, sondern die des Verbots von Männern“ folge. Angesichts der ideellen Aufwertung des Weiblichen“ von Friedrich Schiller bis hin zu einem – damals, 1988, aktuellen – Zeit-Artikel Ulrich Greiners mochte sie sich jedoch „fast schon wieder auf die Seite Dworkins schlagen“. So zeigt sie sich in Sachen Pornographie letztlich eher „ratlos“. Solche Zweifel aber seien „am wenigsten brauchbar für Kampagnen“. Daher rührt offenbar ihre Zurückhaltung gegenüber der deutschen PorNo-Kampagne. Auch Alice Schwarzers Anfang der 1990er Jahre in einer „Schmähschrift“ gegenüber Helmut Newton erhobenen Vorwurf, seine Photographien seien „‚nicht nur sexistisch und rassistisch’, sondern auch ‚faschistisch’“ konnte sie nicht teilen, ohne dem Photograph darum ihrerseits den Vorwurf zu ersparen, in einer „miesen misogynen Tradition“ zu stehen.

Befasste sich die bekennende Hundefreundin mit dem Thema Tier, so ergründete sie auch die traditionell auf vielfältige Weise zwischen diesen und Frauen hergestellte „Verbindung“. Ihre „Schicksalsgemeinschaft“ bestehe etwa darin, dass beide zu „Repräsentanten der Gattung“ entindividualisiert und zudem als „Jagdobjekte“ wahrgenommen werden. Und dass es bei der die Kulturwissenschaft sehr beschäftigenden Fragen der Mode (für die sich Bovenschen, wie sie einmal sagte, schon immer und nicht nur wissenschaftlich interessierte), stets auch um Frauen ging, versteht sich.

In ihren Texten über Freundschaft wiederum beleuchtet sie Männer- wie auch Frauenfreundschaften und erörtert, ob und wie Freundschaften zwischen Männern und Frauen möglich sind. Zugleich verbindet sie die Themen Freundschaft und Idiosynkrasie auf überraschende Weise. Letztere sind dabei nicht als medizinischer Befund aufzufassen, sondern als Phänomen, das „so etwas wie Individualität überhaupt erst und immer wieder (und immer wieder anders) ermöglichen“, während Freundschaft, die Bovenschen gerne mit einer „unausgesprochenen, aber festen und sich ständig modifizierenden Verabredung“ verglich, keineswegs „regellos“ sei. So verstanden greifen ihr zufolge in selbst nicht als statisch zu verstehenden Freundschaften „verschiedenartige idiosynkratrische Impulse“ ineinander und bilden „‚Glückslinien‘, „die sich unkoordiniert und wechselhaft miteinander verflechten, einander überlagern, parallel zueinander oder auch auseinanderstrebend verlaufen“.

Geht es in diesen Texten immer auch um Geschlechterfragen, ist das keineswegs in jedem ihrer Essays der Fall. In einem hellsichtigen Beitrag für einen von Wilhelm von Sternburg herausgegebenen Sammelband konstatierte sie bereits 1992, also lange bevor von einer Flüchtlingskrise die Rede war – es war dies vielmehr die Zeit, als der Rauch brennender Asylantenheime von Rostock-Lichtenhagen her durch die Bundesrepublik zog –, dass „das weltbürgerliche Brüderlichkeitsgebot schweren Belastungen ausgesetzt ist durch soziale, kulturelle und religiöse Multikonflikte“. Ihre Thesen zum scheiternden „Projekt multikultureller Befriedung“ exemplifizierte sie in dem Text anhand eines Zitates, das Goethe dem weinseligen Trinkgenossen Brander in Auerbachs Keller in den Mund legt, den „die Vorstellung, dass das ganze Immigrationsproblem mit ein bißchen guten Willen und viel Moral in die Friedfertigkeit eines Stadtfestes überführt werden könnte, dieses ganze xenophile Eia popeia“ der „Multikulturalisten“ Bovenschen zufolge wohl „nicht anrühren“ würde. Vielleicht werde er sogar „den verdeckten Dogmatismus dahinter wittern.“ Jedenfalls aber „widersprechen solche Harmlosigkeiten seinen Erfahrungen“.

Hatte Bovenschen als Wissenschaftlerin die publizistische Bühne schon vor einiger Zeit verlassen, so trat in den letzten Jahren auch die Essayistin in den Hintergrund zugunsten der Literatin, als die sie von Buch zu Buch bei Publikum und Kritik mehr Anerkennung fand.

„Schriftsteller“, erklärte sie in ihrem letzten, wenige Wochen vor ihrem Tod der taz gegebenen und postum veröffentlichten Interview, „werden oft gefragt, wie viel von ihnen selbst im Buch ist – ja, wie viel soll es sein? Alles. Und alles auch nicht. Das ist ja die Aufgabe, dass man von sich selbst absieht und in die Welt ausgreift. Man muss sich distanzieren und zugleich sich anverwandeln, sich die Fiktion zu eigen machen, und eine soziale und historische Fantasie entwickeln. Das ist Grundprinzip jeder Literatur.“

Darum wäre auch ein Narr, wer Bovenschens im Untertitel als Roman ausgewiesener, tatsächlich aber mit vielen Textsorten spielendes Buch Verschwunden autobiographisch lesen wollte, nur weil seine Protagonistin ebenso wie die Autorin an Multipler Sklerose leidet.  Gleiches gilt auch für ihren Roman Nur Mut, dem sich in mancher Hinsicht postmoderne Qualitäten bescheinigen lassen, ohne dass er deshalb an den Mängeln leiden würde, die manchen postmodernen Text anhaften.

Haben sich die von Bovenschen als Autorin bevorzugten Textformen auch geändert, so bleiben doch auch Konstanten in ihrem Leben zu verzeichnen. Privat war das etwa ihre bis zuletzt, das heißt, vier Jahrzehnte andauernde Partnerschaft mit Sarah Schumann.

Was ihre Überzeugungen betrifft, ging es ihr wie jedem denkenden Menschen, es waren nur „wenige“, die ihr „im Laufe der Zeit nicht verloren gingen“. Zu diesen wenigen zählt etwa, „daß es bei allen Anstrengungen zur Verbesserung vor allem zur Vermehrung des Guten, immer nur um die Verminderung von Leid gehen kann“. Auch blieb sie stets eine überzeugte Feministin. Die Gretchenfrage einer jungen Frau, ob sie eine sei, bejahte sie, wie sie in Älter werden betont, „uneingeschränkt“ und fügte provozierend hinzu, sie halte das „für eine Frage der Intelligenz“.

In den letzten Jahren plädierte Silvia Bovenschen, die nicht nur an Multipler Sklerose, sondern im Laufe ihres Lebens auch an zwei Krebserkrankungen litt, sehr bestimmt und sehr differenziert für die Legalisierung eines würdevollen selbstbestimmten Sterbens. Am 25. Oktober 2017 schied sie im Alter von 71 Jahren aus dem Leben. Es ist ihr zu wünschen, dass es aus eigenem Entschluss und im Kreise ihrer Lieben geschah. Ihren Büchern wiederum ist zu wünschen, dass sie weiterhin aufgelegt werden. Nicht nur ihnen, sondern vor allem uns, dem lesenden Publikum. Und wer weiß, vielleicht wird ja sogar einmal ein Sammelband mit all den verstreuten Aufsätzen und Essays von ihr erscheinen. Auch das wäre sehr zu wünschen.