Sex um 68

Hinweise zur großen chronologische Auswahl aus Robert Gernhardts Kleinkunstwerken – herausgegeben von Kristina Maidt-Zinke

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ende Juni 1968 hielt der amerikanische Literaturkritiker Leslie Fiedler an der Freiburger Universität seinen Aufsehen erregenden, doch bald für längere Zeit vergessenen Vortrag mit dem Titel The Case for Post-Modernism. Die Aufgabe der gegenwärtigen, „postmodernen“ Literatur sei es, so forderte er, „die Lücke zwischen Bildungselite und der Kultur der Masse zu schließen“. Die fixierten Grenzen zwischen Literatur als Kunst auf der einen Seite und populären Genres wie dem Western, dem Science-Fiction-Roman oder der Pornographie auf der anderen sollten verflüssigt und die Umgangsformen mit dieser Literatur entschieden lustbetont werden. Zu den bedeutenden Autoren, denen dies auf eigene Weise schon vor und auch nach 1968 gelungen ist, gehört zweifellos Robert Gernhardt. Seine vielseitigen literarischen und zeichnerischen Kleinkunstwerke liegen mittlerweile in vielen Anthologien vor, die von ihm selbst zu Lebzeiten oder von anderen zusammengestellt wurden. Wer sie in seiner ganzen Vielseitigkeit und in ihren Entwicklungsphasen wahrnehmen möchte, ist jetzt bestens bedient mit dem von Kristina Maidt-Zinke herausgegebenen und im Anhang kenntnisreich kommentierten „großen Lesebuch“. Die Auswahl aus Gernhardts Werk ist chronologisch geordnet, so dass man sich rasch ein Bild von dem „Zeitraum, in dem es entstanden ist“ machen kann und von „den gesellschaftlichen Bewegungen, Veränderungen, vielleicht sogar Epochenumbrüchen, die es geprägt und begleitet haben“, wie die Herausgeberin in ihrem Nachwort schreibt.

Ein Blick beispielsweise auf Gernhardts hier abgedruckten Veröffentlichungen in den Jahre um 1968 zeigt, welche Aufmerksamkeit damals der Sexualität und Pornographie gewidmet wurde und wie Gernhardt sie „begleitet“ hat. „Folgen der Pornographie“ ist eine der 1967 erschienenen Skizzen überschrieben, die sich hochironisch mit Fallgeschichten von „süchtigen Pornophilen“ und medizinischen Warnungen vor einer „Bedrohung der Volksgesundheit“ auseinandersetzten. Ein Herr „Dr. Wesemayer“ wird zitiert mit den Sätzen: „Schluß mit der Verharmlosung der Pornographie! Daß derjenige, dem der Sex so viel Spaß macht, daß er ihn nicht nur praktisch betreibt, sondern auch in Bild und Wort zu sich nimmt, nicht normal ist, wußten schon die Kirchenväter.“

Eine kleine „Bildergeschichte“ Gernhardts von 1968 aus Schnuffis sämtliche Abenteuer beginnt so:

Im vierten und letzten Bild wird Schnuffi gefragt: „Und was willst du jetzt tun?“ Er antwortet: „Ich werde eine Illustriertenserie darüber schreiben!“ Die Kommerzialisierung der Sexualität in den Massenmedien war ein weiterer Aspekt der damaligen Debatten. Wie Gernhardt selbst später damit umgegangen ist, lässt sich dem „großen Lesebuch“ ebenfalls entnehmen und könnte heute zum Gegenstand kulturwissenschaftlicher „Human-Animal Studies“ werden, denen sich die Februar-Ausgabe von literaturkritik.de widmet. Sein Gedicht Animalerotica beginnt mit der Strophe:

Der NASENBÄR sprach zu der Bärin:
„Ich will dich jetzt was Schönes lehren!“
Worauf er ihr ins Weiche griff
und dazu „La Paloma“ pfiff.

Es folgen in dieser komischen Tier-Studie die „Dächsin“, der „Hirsch“, der „Mops“, der „Hengst“ und etliche andere.

So wie zum Jahr 1968 lassen sich in dem Band mit der bunten Mischung aus Gedichten, Essays, Satiren, Geschichten und Cartoons gezielt viele weitere Funde auch zu ganz anderen Themen machen. Die Entdeckungsreise lohnt sich und ist ein Vergnügen. Und sie bestätigt das Bild, das die Herausgeberin von Gernhardt vermittelt: Er war „die seltene Personalunion eines Dichters und bildenden Künstlers, der gleichermaßen als intellektuell und als volkstümlich wahrgenommen wurde“. Da hätte Leslie Fiedler 1968 mit seinem Postulat, die Kluft zwischen Elite- und Massenkultur zu schließen, zweifellos zugestimmt.

Titelbild

Robert Gernhardt: Das große Lesebuch.
Herausgegeben von Kristina Maidt-Zinke.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2017.
505 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783596906581

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch