Die Mörder sind unter uns

Nach Marlen Haushofers Roman „Die Wand“ hat Julian Pölsler nun auch ihre Novelle „Wir töten Stella“ verfilmt

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Vor einem halben Jahrzehnt kam Julian Roman Pölslers nahezu kongeniale Verfilmung von Marlen Haushofers Roman Die Wand in die Kinos und erhielt von Publikum und Kritik gleichermaßen begeisterte Akklamationen. Gut vier Jahre später ließ er den zweiten Teil seiner geplanten Haushofer-Trilogie folgen. Im Herbst 2017 feierte seine Spielfilm-Adaption der mit dem Arthur-Schnitzler-Preis gekrönten Novelle Wir töten Stella in Österreich Premiere. Anfang 2018 kam die Verfilmung dann auch in die deutschen Lichtspielhäuser; nicht in die großen Film-Paläste, wie sich versteht, wohl aber in die kleinen, aber feinen Filmkunstkinos.

Wiederum hat der Regisseur die Hauptrolle, die nicht diejenige der Titel-Figur Stella ist, mit Martina Gedeck besetzt. Sie spielt Anna, die in ihren 40ern stehende Gattin eines erfolgreichen Scheidungsanwalts. Auch diesmal hätte Pölsler für seine Protagonistin kaum eine bessere Wahl treffen können. Die Rolle der jugendlichen Stella wiederum hat die damals 20-jährige und schon seit fast anderthalb Jahrzehnten im Filmgeschäft tätige Schauspielerin Mala Emde übernommen. Annas Ehemann Richard wird von Matthias Brandt verkörpert, die Rolle ihrer beiden Kinder, des postpubertären Wolfgang und der Grundschülerin Annette, von Julius Hagg und Alana Bierleutgeb.

Ebenso wie der Roman Die Wand wird auch Haushofers Novelle Wir töten Stella als Niederschrift der Protagonistin präsentiert. In beiden Verfilmungen spricht Gedeck die wichtigsten Passagen der literarischen Werke aus dem Off. Da Wir töten Stella anders als Die Wand, in dem Gedeck das Geschehen im Wesentlichen alleine tragen muss, eine mehrköpfige Besetzung hat, konnte Pölsler, der auch das Drehbuch verfasste, einige der rückerinnernden Aufzeichnungen der Novelle in Dialoge übertragen. Handlung und Atmosphäre werden allerdings auch diesmal vor allem durch die Inszenierung sowie durch die Kameraführung von Walter Kinder und J.R.P. Artman getragen. Sie setzen die Distanz der Menschen zueinander ins Bild, indem sie Objektive verwenden, die Räume und Treppenfluchten ins schier Unendliche zu dehnen scheinen und Treppen oder Fenster mit Bedeutung aufladen.

Während die Leinwand zu Beginn des Films noch dunkel ist, ertönt der schrille Schrei eines Vogels. Dann hämmert eine Schreibmaschine die Worte Wir töten Stella in großen weißen Lettern auf die schwarze Fläche. Ihre Anschläge klingen wie donnernde Einschläge in allernächster Nähe.

Mit diesem Vorspiel ist das Thema gesetzt. Das tragische Ende der von aller Welt verlassenen Stella wird von Anna während der zweitägigen Abwesenheit ihres Mannes in einem quasitherapeutischen Akt niedergeschrieben, während vor dem Fenster ein von seiner Mutter verlassenes, hilflos piepsendes Vögelchen – im Buch ist es ein mutmaßlich aus dem Nest gefallenes Küken – verendet, in dessen Rufen und schließlichem Tod sich Stellas Schicksal spiegelt.

Sitzt Anna vor ihrer Schreibmaschine am Schreibtisch oder tritt sie sinnend ans Fenster, liegt ein verhärmter, leicht bitterer Zug um ihren Mund. Tatsächlich hat sie sich zumindest der Mittäterschaft durch unterlassene Hilfeleistung schuldig gemacht oder ihrem Ehemann die junge Frau sogar halb bewusst zugeführt. Denn Anna weckte in der unscheinbaren und schüchtern zurückhaltenden ehemaligen Klosterschülerin das Bewusstsein, eine attraktive junge Frau zu sein, indem sie Stella zu einer jungen Schönheit im roten Kleid herausputzte. Pölsler setzt sie einmal als einem Bild von Balthus entsprungene Kindfrau in Szene, die versunken in ihrem Spiegelbild dem gierenden Blick des Betrachters ausgesetzt wird.

Mochte sich Anna vielleicht auch nicht ganz bewusst sein, was sie tat, so sah sie doch, was vor sich ging. Und sie war dabei unfähig oder vielleicht nicht einmal willens, Stella zu schützen. Sie kompensiert ihre Unzulänglichkeit, indem sie um einen eingehenden Kaktus trauert, den sie allerdings ebenfalls nicht retten kann. Auch sich selbst vermag sie nicht mehr aus den Familienbanden zu lösen, in die ihr Mann sie verstrickt hat. In alptraumartigen Sequenzen, in denen sie aus dem Haus ins hell leuchtende Weiß der Freiheit flüchten will, hindern sie unsichtbare oder wiederum weiße Wände daran und sie wacht geschlagen auf. Anna ist ebenso sehr Gefangene ihrer Situation wie ihrer eigenen Untätigkeit. Denn in ihre ausweg- und hoffnungslose Lage geriet sie, weil sie nichts unternommen hat, als es ihr vielleicht noch möglich gewesen wäre.

Benutzt Anna für ihre Aufzeichnungen zunächst eine Schreibmaschine, wechselt sie später zu einem Notepad. Damit wird versinnbildlicht, dass die zu Stellas Tod führenden Verhältnisse und Verhaltensweisen nicht mit den 50er Jahren abgetan sind, in denen Haushofers Novelle handelt und geschrieben wurde, sondern sie in unserer Gegenwart des 21. Jahrhunderts noch immer ebenso ungebrochen walten wie in der Gegenwart Haushofers. Die Szenen, die Anna während der Niederschrift zeigen, sind in etwas fahlen, sepiafarbenen sowie hellgrauen und weißen Tönen gehalten und stets kaum merklich überbelichtet.

Stella hingegen verschwindet öfter einmal, sich von der Kamera abwendend, im zunehmenden Dunkel einer schließlich grabesschwarzen Leinwand. Ihre Geschichte wird entlang der Aufzeichnungen Annas in Rückblenden erzählt, die chronologisch erfolgen. Ausnahmen bilden nur die ersten, die ihr tragisches Ende vorwegnehmen und Stellas bleichen Leib in der Pathologie zeigen, wobei die Kamera ihren Kopf von der heil gebliebenen, makellosen Seite ihres Gesichtes zur anderen von einem Lastwagen zerschmetterten umrundet.

Stella, die von ihrer Mutter als kleines Kind in eine Klosterschule abgeschoben wurde, wird von dieser nach bestandenem Abitur für, wie es heißt, einige Monate bei der wohlsituierten Anwaltsfamilie untergebracht, deren kultiviertes Verhalten es undenkbar erscheinen lässt, das jemals ein lautes Wort fallen könnte. Entsprechend ruhig und zurückgenommen agieren die SchauspielerInnen, allen voran Gedeck. Die fast dem gesamten Film untergelegte Unheil dräuende Musik kündet jedoch davon, dass die Familienidylle so heil nicht ist, wie es scheint, und deutet zugleich das sich anbahnende Unheil an, auf das sich die Handlung fast ereignislos hin entwickelt.

Der sich jovial-väterlich gebende Hausherr entpuppt sich als ein ebenso übermächtiger wie unsympathischer und kalter Patriarch, der – wie er sagt – seine Frau liebt, weil er sie besitzt. Doch nur (s)eine Frau zu besitzen, genügt ihm nicht. Der skrupel- da gewissenlose Schürzenjäger macht selbst vor der vielleicht noch minderjährigen Stella nicht Halt. Er wird ihr allerdings schnell überdrüssig, während sie in stiller Verzweiflung vergeht.

Fraglos haben Pölsler und sein Team insgesamt gute Arbeit geleistet und einen sehenswerten Film geschaffen. Er ist allerdings nicht ganz frei von Makeln und wird der Vorlage nicht immer gerecht. So setzt er manches allzu deutlich in Szene, was Haushofer in ihrer Novelle nur andeutet und dessen Ausgestaltung sie der Phantasie der Lesenden überlässt. Der Vorstellungskraft seines Publikums mag Pölsler offenbar nicht vertrauen, sondern setzt all das, was Haushofer kunstvoll im scheinbar Vagen lässt, nachgerade plump ins Bild. Meistens benutzt er dazu fingierte Videoaufnahmen, die Wolfgang heimlich gemacht hat, etwa mittels einer auf der Toilette installierten Überwachungskamera, die die weinende Stella aufzeichnet. Auch folgt er unbemerkt seinem Vater und Stella bei einem Ausflug ins Grüne, den der ältere Herr zu einem offenbar ersten sexuellen Übergriff auf die Heranwachsende missbraucht. Ebenso wenig lässt Wolfgang die Fahrt des väterlichen Schürzenjägers und seines Opfers zu einer Abtreibungsklinik aus, vor der christlich-fundamentalistische AbtreibungsgegnerInnen mit ihren denunziatorischen Plakaten warten. Auch hier hat er stets die Kamera dabei und ist über alle Vorgänge also bestens im Bilde. Seine Aufnahmen dienen aber nicht nur dazu, der vermeintlich mangelnden Vorstellungskraft des Publikums auf die Sprünge zu helfen, sondern machen auch Wolfgangs in Empathiemangel und Gleichgültigkeit begründete Mitschuld an Stellas Tod deutlich.

Ein ärgerer Missgriff ist es, dass Pölsler Christa Wolf mehrmals das Wort erteilt, um sie aus ihrer Erzählung Kassandra lesen zu lassen, als habe es Haushofer selbst an der notwendigen Sprachkunst gemangelt und bedürfe ihr Werk der erläuternden Hilfestellung durch eine Kollegin. Allein der letzte Satz von Haushofers Novelle, der auch der letzte des Films ist, mag genügen, diese Annahme zu widerlegen. Es ist ein Satz von einer schier unglaublichen Wucht: „Und während Stellas Fleisch sich von den Knochen löst und die Bretter des Sarges tränkt, spiegelt sich das Gesicht ihres Mörders im blauen Himmel unschuldiger Kinderaugen.“

Dass der Film ungeachtet dieser teils doch recht ärgerlichen Mängel insgesamt als sehr gelungen bezeichnet werden darf, ist zunächst einmal der Vorlage, aber auch Gedecks schauspielerischen Künsten, der Inszenierung und nicht zuletzt der Kameraführung zu danken. Sehenswert aber ist er vor allem, weil er keineswegs von einer vergangen und überwundenen patriarchalischen Tyrannei erzählt. Vielmehr gibt es den von Matthias Brandt gespielten Männertyp noch immer, wie spätestens seit MeToo bekannt ist. Der Film ist also nicht weniger aktuell als es Haushofers Novelle in den 50er Jahren war, ja noch heute ist. Denn die Mörder sind noch immer unter uns. Höchste Zeit, ihnen endlich Einhalt zu gebieten.

Wir töten Stella. Österreich 2017
Regie: Julian Roman Pölsler
Drehbuch: Julian Roman Pölsler
Darsteller: Rainer Bock, Martina Gedeck, Mala Emde, Matthias Brandt, Ulrike Beimpold
99 Minuten

 

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