Familien-Nachstellungen in Bild und Schrift.

Ein Marbacher Katalog kommentiert Testamente, Erbstücke, Bio-, Wahl- und Wunschfamilien.

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nachlässe sind gemeinhin Familienangelegenheit. Stirbt eine/r, gehen ihre oder seine Habseligkeiten meist an die nächsten Familienangehörigen über. Es sei denn, ein Testament regelt dies anders. Fotografien, Briefe, Aufzeichnungen gehören wie bestimmte Schmuck- oder Dekorationsstücke zu den Memorabilien, die oft von Generation zu Generation weitergegeben werden. Sie bilden das materielle Rückgrat des intergenerationellen Gedächtnisses. Manchmal gehören auch Häuser und Möbel als massivere Erinnerungsorte zu diesem lebendigen Erbe. In mobilen Zeiten werden Immobilien seltener über lange Zeiten von Mitgliedern der gleichen Familie genutzt. Manchmal wird ein Dichterhaus durch Stifter, Staat oder Erblasser zum Dichtermuseum.

Bei Figuren des öffentlichen Lebens werden Nachlässe und Lebensspuren indes zu einer öffentlichen Angelegenheit. Archive, Museen oder private Sammler versuchen, die Lebensspuren von Politikern, Schauspielern, Musikern oder Dichtern zu sammeln, zu sichern und (sich damit) zu präsentieren. Wer nicht will, dass Erben den eigenen Nachlass irgendwann auf dem Markt der Interessenten einer beliebigen Nachfrage verkaufen, mag versuchen, seinen Nachlass zu Lebzeiten selbst zu regeln und ihn einer ihm genehmen Institution anzutragen. Im Bereich der deutschsprachigen Literatur ist das Marbacher Literaturarchiv die wichtigste Institution, die sich systematisch um die Sammlung, Erforschung und Ausstellung der Nachlässe von Schriftstellern kümmert. Vom Herbst 2017 bis April 2018 zeigte das dem Literaturarchiv angeschlossene Marbacher Literaturmuseum der Moderne eine Ausstellung, die sich den Zeugnissen des Familienlebens und der Familien-Darstellung widmet.

Der zu dieser Ausstellung erschienene Katalog lädt ein zum Stöbern und Nachdenken über diverse Spielarten familiärer Beziehungen. Das Katalogvorwort umreißt den Familientopos mit all seinen explosiven, narrationsstiftenden Potentialen:

Die Familie als Bühne von Lust und Gewalt, die Familie als Grab der Schuld und des Geheimnisses, die Familie als Ort der Transgression und der Überlieferung: Über alle Metamorphosen hinweg bleibt die Familie der mythische Raum schlechthin, von den Atriden über die mörderischen Clans bei Shakespeare bis zur berühmtesten Familie der Gegenwart, den Windsors.

Die Katalogexponate und Kommentare fallen dann freilich meist weniger desaströs aus. Die Nachlassobjekte sind eher an Harmonie orientiert. Vor allem Bilder, von der Stammbaumgrafik bis zum Familienfoto erweisen sich als unabdingbare Repräsentations- und Erinnerungsmedien des Familienbewusstseins. Neben Briefen liefern Bilder die wichtigsten Quellen zum Studium der Clanbeziehungen.

Den Auftakt im Katalog bilden drei einleitende Essays. Andreas Platthaus spürt der Veronkelung im Comic nach. Dabei sortiert er die Familienverhältnisse im Comic-Kanon, der von den Peanutus über Erichs Ohser deutsche Vater und Sohn Strips und Bill Watersons Calvin & Hobbes bis zu Art Spiegelmans Maus und weiteren Familien-Bilder-Geschichte von Holocaust Überlebenden reicht. Christina von Braun insistiert in ihrem Essay zum Zusammenhang von Blutlinien und Schriftlinien, dass es Gesellschaften gebe, in denen Verwandtschaft sozial generiert wird und nicht einfach auf biologischen Zeugungsverhältnissen (Blutlinien) basiere. Mirjam Zadoff referiert über „Jewish Familiy Business“ von Moses Mendelssohn bis Franz Kafka und zeigt, wie außengesteuerte Verheiratungspolitiken noch bis ins 20. Jahrhundert reichen und im Spannungsverhältnis zu romantischer Liebe stehen.

Im Anschluss an diese Essays ist der Ausstellungskatalog in vier nur vage abgegrenzte Kapitel gegliedert. Das Kapitel „Die Familie. Als (letzter) Wille“ analysiert Testamente und Erbstücke, mit denen Traditionen und Zusammenhalt durch Ein- und Ausschlüsse gestiftet wurden. Thomas Manns Taufkleid wird gezeigt und seine zahlreichen Erben genannt, bevor diese Textilie 1988 im Archiv ihren wohl letzten Ruheort fand. Auch August von Goethes Stammbuch oder die Testamente von Alexander von Humboldt, Kurt Tucholsky oder Karl Wolfskehl, welcher Stefan George und den Jüdischen Nationalfonds mit substanziellen Summen bedachte, werden verhandelt. Zudem werden individuellere Erinnerungsstücke wie W.G. Sebalds Andenken an seinen Großvater, der weitläufige Weitergabe-Pfad von Johann Wolfgang von Goethes 1821 an Georg ´Wilhelm Friedrich Hegel überreichtes Trinkglas oder Max Frischs zu Lebzeiten an Volker Schlöndorff vermachte Sportlimousine erläutert in ihrer (Wahl-)Verwandtschaften stiftenden Funktion.

Das zweite Kapitel führt eingangs unter dem Stichwort „Aus Zweigen“ vor, wie variantenreich das Stammbaum-Modell zur Darstellung von Abstammungsverhältnissen einsetzbar war. Es zeigt nicht nur genealogische Linien von Dichtern wie Friedrich Hölderlin oder geistige Idealherkunftslinien wie David Straussʹ „Stammbaum stoisch-politischer Märtyrer“ sondern auch, wie solche Wurzelsuchen durch Baumdarstellungen verschnitten oder verzeichnet werden. Dies geschieht etwa mittels der ideologisch-rassistischen Raster des durch die Nazis eingeführten Ahnenpasses – aber auch in den bemühten Versuchen der Selbstadelung von Rainer Maria Rilke oder den wie damals üblich nicht genannten unehelichen Kindern Theodor Fontanes in seiner Familienbibel. Das Denken in Baummodellen wird noch jenseits der Familienbindungen fruchtbar, so wenn August Schleicher die verästelten Sprachenentwicklungen dieserart veranschaulicht oder Friedrich Kittler 1991 in seinem technischen Tagebuch maschine.txt seine erste, komplizierte Unix-Installation protokollierte mit einer Skizze der hierarchischen Dateisysteme als umgekehrte Baumstruktur (die root-Wurzel oben) mit nach unten verzweigten Ästen.

Susan Sontag wies darauf hin, dass parallel zum Aufkommen des Familienfotos die Großfamilie realiter zerfiel. Das neue Medium lieferte demnach Repräsentations-Surrogate des (selten werdenden) Beieinanderseins. Das zweite Katalogkapitel bringt ein Potpourri dieser inszenierten Familienaufstellungen und spürt den dabei vorgeführten Hierarchien und Präferenzen nach, so etwa im Album der Familie Jünger. Es kommentiert Elfenbeinminiaturen der Hölderlins, Stammbaumarrangements in Alben der Mörikes oder Schnitzlers und die über 20 Jahre fortgeführten Familienbilder der Enzensbergers, bei denen der Tod des Vaters und eines Bruder den Kreis verkleinert. Neben den biologischen Verwandten ließen sich manche Dichter auch gerne mit Büsten oder Abbildern ihrer Vorbilder ablichten. So arbeitete Ricarda Huch im Schutze weiblicher Figuren, während Gerhart Hauptmann im Angesicht Goethes schrieb.

Die Überschrift des dritten Kapitels kündigt an „Die Familie. Als Roman“. Hier geht es freilich weniger um dieses durchaus fruchtbare Erzählgenre im engeren Sinne als vielmehr um die Inspirations- und Austauschverhältnisse zwischen Familienkommunikation und publizierten Texten. Stammbucheinträge der geistigen Wahlverwandten Achim von Arnims stehen hier neben -Notizbuchblättern Peter Handkes mit Zeichnungen seiner Tochter, Erzählungen von Kindheitsabenteuern der Jünger-Brüder oder überraschend humorvollen Kommentaren des Heidegger Bruders Fritz, der wegen Stotterns nicht Priester sondern Bankangestellter wurde und durchaus pointierte Verbesserungsvorschläge in die Manuskripte Martin Heideggers eintrug. Zahllos werden die den eigenen Kindern zugedachten und gewidmeten literarischen Texte sein; hiervon werden Beispiele von Walter Benjamin über Bernward Vesper bis zu Durs Grünbein angeführt. Umgekehrt adressiert ist Franz Kafkas berühmter Brief an den Vater. Der wurde freilich nie abgeschickt, sondern wie so vieles von Kafka erst gegen den Willen des Verfassers von Max Brod aus dem Nachlass publiziert.

Beschlossen wird dieses Kapitel mit einigen Schlüssel-Erläuterungen zu autobiografisch genährten Familientexten: Das familiäre Substrat von Thomas Manns Buddenbrooks, Ricarda Huchs Erinnerungen an Ludolf Ursleu dem Jüngeren Eckard Henscheids Zwicks; schließlich das Rechtsgeschichte schreibende Verbot von Maximilian Billers Roman Esra, durch den sich seine ehemalige Geliebte in ihren Persönlichkeitsrechten auf Privatsphäre verletzt sah. Neben dem Ernst der Familienbande kommen glücklicherweise mit Heimito von Dodereres Die Merowinger oder Die totale Familie wie mit dem Stammbaum von Erich Kästners Katze auch parodistische Aspekte von Familienaufschreibesystemen zur Darstellung. Doderers überdrehte Verfilzungen der Genealogie mussten im Romanmanuskript durch Stammbaumskizzen wiederholt grafisch aufbereitet und ausbuchstabiert werden, denn Childerich wurde durch Witwen-Hochzeiten schließlich sein eigener Großvater, Vater, Schwiegervater und Schwiegersohn. Spöttisch reagierte auch die 17-jährige Geno Hartlaub auf die Berufswünsche ihre ehrgeizigen Vaters, der 1922 die viel beachtete Schrift Der Genius im Kinde vorlegte. Die Tochter zeichnete ein Blatt unter dem Titel Papa beschließt die Zukunft seiner Tochter, in der diese nicht nur als Schriftstellerin (die sie tatsächlich – wie ihr früh im Krieg verstorbener Bruder – wurde) sondern zudem als Film- und Tennisstar, geniale Malerin sowie als Haushaltsgenie brillieren sollte.

Düster gerät die Literatur als Familienroman, wenn Paul Celans frühes Gedicht Schwarze Flocken als Grab und Gedächtnis für seine Mutter, die im deutschen Vernichtungslager in der Ukraine starb, gelesen wird. Der Katalog kontextualisiert das Gedicht mit Kritiken an Celan und dem Briefwechsel mit der Ex-Geliebten Ingeborg Bachmann, die ihm aus der Sicht des Empfindlichen nicht genügend Beistand leisten konnte. Else Lasker-Schüler gelang es besser, ihre engen Familienbindungen an Mutter und Sohn zu ergänzen um imaginäre Familienmitglieder. Dazu zählen von ihr umgetaufte Freunde wie Wieland Herzfelde, Herwarth Walden oder der von ihr als „Ramsenit, Pharao von Gibon“ titulierte Karl Wolfskehl. Nicht nur in Briefen und auf Festen wurden diese Identitäts-Adoptionen durchgespielt, auch in ihrem literarischen Werk figurierten einige dieser Personen und durchkreuzen so die Grenzen von Leben und Werk. Die wohl berühmteste Wahlfamilie der Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts, der George-Kreis, war von Scheidungen und Verbannungen gekennzeichnet. Hier wird dies belegt mit dem (gewonnenen!) Urheberrechtsprozess des Abtrünnigen Ludwig Klages gegen die Blätter für die Kunst, deren Siebte Folge vier Zeilen von Klages ohne Erlaubnis druckte. Leider zeigt der Katalog nicht die erwähnte, im gleichen Band der Blätter gedruckte Bildnistafels Georges im Kreis seiner zwölf ausgesuchten Mitarbeiter, auf der zu den abgebildeten Jüngern noch die soeben Abtrünnigen Alfred Schuler und Ludwig Klages zählen.

„Statt sich auf die klassischen Figuren des Familienromans zu konzentrieren, widmet sich die Ausstellung den Figurationen des Archivs: den Entstehungsgeschichten der Poesie.“ Die Ausstellungsmacher und Archivare wollen so jene Bilder und Manuskripte offenlegen, in denen sich „das Familiäre in Literatur und das Literarische in Familie verwandelt.“ Diese Übergangszonen aus Objekten, Bildern und Geschriebenem, zwischen privaten Familienbünden und öffentlichen (oft fiktiven) Texten, werden von den Marbachern anhand ihrer gewohnt hochkarätigen Archivalien auf anregende Weise präsentiert. Die oft einsame Schreibtischarbeit der Dichter und die scheinbare Autonomie künstlerischer Texte werden kenntlich als tief verstrickt in vielfältige familiäre Bedingungs- und Überlieferungsnetze. Im Archiv ruhen diese Familiennetze in unzähligen Kartons. Die Ausstellung und der Katalog haben hier einige Deckel abgehoben und einige der Fäden (die realiter als Fall- und Fesselstricke oder als Rettungsnetze erlebt worden sein mögen) ans Licht geholt und kommentiert. Die Leser freuen sich an der ermöglichten Teilhabe. Nur gelegentlich schaudertʹs einen angesichts schrecklicher Familienverhältnisse, die wohl seltener im Archiv landen und von den Kuratoren hier nicht extra hervorgehoben werden.

Titelbild

Ellen Strittmatter (Hg.): Die Familie. Ein Archiv.
Mit Essays von Christine Braun, Andreas Platthaus und Mirjam Zadoff.
Deutsche Schillergesellschaft, Marbach am Neckar 2017.
296 Seiten, 30,00 EUR.
ISBN-13: 9783944469287

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