Wiederum eine Art Biografie

Jakob Augstein unterhält sich mit seinem Vater Martin Walser

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

ich bin nicht ich. / Ich ist nur ein Wort. / Ich bin doch kein Wort. / Ich bin lieber, was ich wäre, wenn ich nicht ich zu sein hätte. / Also, was bitte, wäre ich lieber als ich? / Alles andere als ich.

So beginnt Martin Walser seinen jüngsten Roman Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte. Wenn man kurzschließen will und vom literarisierten Ich auf den Autor Martin Walser, der seit mehr als sechs Jahrzehnten unablässig damit beschäftigt ist, Leben in Literatur zu verwandeln, verweisen darf, wird klar, warum von Walser keine Autobiografie im eigentlichen Sinne zu erwarten war und ist. Zumal Walser vor allem mit dem wunderbaren, autobiografisch grundierten Roman Ein springender Brunnen (1998), mit seinen bisher publizierten Tagebüchern sowie mit den unzähligen Reden, Aufsätzen und Essays zum Zeitgeschehen jeweils auch „eine Art Biografie“ vorlegt. Nicht zuletzt der 2017 anlässlich von Walsers 90. Geburtstag von Thekla Chabbi herausgegebene Sammelband mit Reden, Essays und Interviews unter Titel Ewig aktuell unterstreicht dies nachdrücklich. Hinzu kommt, dass Walser immer wieder – auch literarisch – Zeit und Erinnerungen gleichermaßen hinterfragt, am bekanntesten und eindrücklichsten vielleicht mit dem Einstieg in Ein springender Brunnen:

Solange etwas ist, ist es nicht das, was es gewesen sein wird. Wenn etwas vorbei ist, ist man nicht mehr der, dem es passierte. Allerdings ist man dem näher als anderen. Obwohl es die Vergangenheit, als sie Gegenwart war, nicht gegeben hat, drängt sie sich jetzt auf, als habe es sie so gegeben, wie sie sich jetzt aufdrängt. Aber solange etwas ist, ist es nicht das, was es gewesen sein wird. Wenn etwas vorbei ist, ist man nicht mehr der, dem es passierte. Als das war, von dem wir jetzt sagen, dass es so und nicht anders gewesen sei, haben wir nicht gewusst, dass es ist. Jetzt sagen wir, dass es so und so gewesen sei, obwohl wir damals, als es war, nichts von dem wussten, was wir jetzt sagen.

Analoges gilt für den Gesprächsband Das Leben wortwörtlich, den Jakob Augstein zusammen mit Martin Walser ebenfalls 2017 vorgelegt hat. Darin heißt es im ersten von 13 Kapiteln, überschrieben mit „Im Roman ist die Lüge wunderbar“ und dem Untertitel „Über dieses Buch“:

Und ich würde nie eine Autobiographie schreiben. Das zwingt zu einer mir unangenehmen Art von Lüge. Die Lüge im Roman ist wunderbar. Sie ist eine Variation der Wahrheit. Aber die Lüge in den Memoiren, die möchte ich nicht. Also ziehe ich es vor, einen Roman zu schreiben. Jeder Roman ist eine Autobiographie, ein Selbstporträt des Autors zum Zeitpunkt des Schreibens.

Dass Martin Walser der leibliche Vater Jakob Augsteins ist, verleiht dem Gesprächsband, der keiner der zahlreichen Walser-Interviews ist, seinen zusätzlichen Reiz. Augstein hatte 2009 Walsers Vaterschaft selbst öffentlich gemacht, zumal diese Tatsache seit Jahren als Gerücht in literarischen Kreisen, vermutlich befeuert durch die „Universalgeschwätzigkeit“ (so Walser) Hellmuth Karaseks, verbreitet war. Jakob Augstein, Jahrgang 1967, erfuhr von Walsers Vaterschaft erst nach dem Tod seines rechtlichen Vaters Rudolf im Jahr 2002 von seiner Mutter, der Übersetzerin Maria Carlson, die die dritte Ehefrau des Spiegel-Gründers war. Der wiederum war ein enger Freund Martin Walsers.

Getroffen haben sich Walser und Jakob Augstein jedoch noch vor der öffentlichen Enthüllung der familiären Beziehung – Augstein war da bereits fast 40 Jahre alt, Walser zählte beinahe 80 Lenze –  auf Bitten des Sohnes in einem Münchner Hotel: „Ja, Jakob, wir waren beide zu alt“, heißt es im zwölften Kapitel, überschrieben mit „Was wir verschweigen. Über uns“.

Über ein Jahr lang hatten sich Jakob Augstein und Martin Walser dann später immer wieder getroffen und sich über die „Vergangenheit als Gegenwart“, um die Überschrift des ersten Kapitels aus Ein springender Brunnen zu zitieren, zu unterhalten.

Herausgekommen ist ein lesenswertes, gut komponiertes Buch, wenngleich für den mit dem Werk Vertrauten – insbesondere für den Kenner seiner Tagebücher und für den Leser der überzeugenden Walser-Monografie von Jörg Magenau – nicht wirklich Neues zu entdecken ist. Wie sollte es auch? Und doch: Die in den 13 Kapiteln zwischen Augstein und Walser angesprochenen Themen führen mitten in den Walser-Kosmos, zeigen Facetten eines vielschichtigen Werks, sind wie die angesprochenen Reden Walsers, seine Essays und Interviews zugleich Biografie und schlaglichtartige Zeitgeschichte in einem.

Natürlich ist Das Leben wortwörtlich keine Wiedergabe der tatsächlichen Gespräche, geschweige denn das Protokoll einer spontanen Unterhaltung, sondern sorgfältig arrangiert und gut strukturiert, was rasch deutlich wird. Dazu sind die vielen Zitate aus den Werken Walsers als jeweilige Stichworte oder Belege zu umfangreich, sind die Fragen- und Antwortwechsel zu exakt aufeinander abgestimmt.

Es geht in den zwölf beziehungsweise 13 Kapiteln – Das dreizehnte Kapitel, um an einen anderen Walser-Roman zu erinnern, ist Novalisʼ sprachphilosophischer „Monolog“ über den Riss zwischen Sprache und Wirklichkeit – letztlich um „gar alles“ der Walserschen Themen. Es geht um „eine Kindheit in Wasserburg“ unter der Perspektive „Es gibt keine Grenze der Nachsicht mit sich selbst“ und die Möglichkeit oder besser Unmöglichkeit, als Kind Antifaschist zu sein (Kapitel 2 und Kapitel 3), „Über das Schreiben“ als „Entblößungsverbergungsvorgang“ (Kapitel 4), über das Thema „Abhängigkeit“ (Kapitel 5), „Über die Stufen der Liebe“ (Kapitel 6), „Über Freundschaft“, insbesondere zu Siegfried Unseld und Uwe Johnson (Kapitel 7), „Über Politik, Literatur und deutsche Fragen“ „im Dienst des Rechthabenmüssens“ (Kapitel 8), „Über Kritik und Literaturbetrieb“ (Kapitel 9), „Über die deutsche Vergangenheit“ (Kapitel 10), „Über Religion“ (Kapitel 11) und eben über die Beziehung von Vater und Sohn (Kapitel 12).

Wer angesichts der familiären Bindung von Walser und Augstein intime Geständnisse erwartet haben sollte, wird gleich zu Beginn enttäuscht: „Wir ertasten, worüber wir sprechen können. Aber Jakob, wir werden uns natürlich immer an der Grenze zur Indiskretion bewegen.“ „Ist das ein Problem?“ fragt der Sohn. Und die Antwort Walsers: „Es wird Stellen der Verletzlichkeit geben, die jeder Rezensent benutzen kann, wie er will. Wenn wir unser Gespräch ganz offen führen, werden wir auch ganz offen sein, ganz ungeschützt. […] Jeder Depp kann sich auf uns stürzen.“

Die Grenze der Indiskretion überschreitet das Buch jedoch nicht. Man mag an der einen oder anderen Stelle bedauern, dass Augstein, der als pointiert zuspitzender und versierter Moderator sowie Gast von Talkshows bekannt ist, hier allzu brave Fragen stellt, dass er zu sehr als Stichwortgeber fungiert. Doch damit wäre die Intention dieses Vater-Sohn-Buches verkannt. Es geht um einen verständnissuchenden Austausch mit dem Vater, der gut 60 Jahre bundesrepublikanischen Diskurses mitgestaltet hat. Dabei wird weder die Paulskirchen-Rede noch die schwierige Beziehung zu Marcel Reich-Ranicki ausgespart, weder Walsers frühes politisches Engagement noch private Bereiche wie eine frühe Spielsucht oder das bei Walser literarisch wie biografisch facettenreiche Thema Liebe. Wie sehr die sprachlich-literarische Bearbeitung dieses Gesprächsbuch bestimmt, wird im zwölften Kapitel überdeutlich, wenn Augstein Walser sagen lässt: „Aber dieses letzte Gespräch im Buch, das haben wir so nie geführt. Es hat so, wie du es hier aufschreibst, nicht stattgefunden. Du hast es dir beinahe ganz ausgedacht. Warum?“

Auf dieses letzte wortwörtliche „Warum?“ gibt das Buch keine Antwort, oder besser: Es gibt die Antwort, in dem es auf „Das Leben wortwörtlich“ verweist, zwei Leben, die im verstehenden Austausch sich der nachgetragenen Liebe bewusst werden.

Das Leben wortwörtlich zeigt einmal mehr den ganzen Kosmos Martin Walsers. Und das ist allemal staunenswert, auch wenn man nicht mit allen Antworten und mit allen Fragen übereinstimmen wird. Aber bei welchem Vater-Sohn-Gespräch wäre das schon der Fall?

Titelbild

Martin Walser / Jakob Augstein: Das Leben wortwörtlich. Ein Gespräch.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2017.
352 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783498006808

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