Die Welt als Insel

Wilhelm Lobsiens Halligroman „Landunter“ liest sich heute streckenweise wie AfD-Propaganda

Von Miriam StriederRSS-Newsfeed neuer Artikel von Miriam Strieder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass Wilhelm Lobsien (1872–1947), der Halligdichter und Verfasser des beliebten Romans Der Halligpastor (1914), nicht nur Kind seiner Zeit war, sondern auch eine ausgeprägte nationale Gesinnung hatte, ist bekannt – schließlich war er Mitglied des Eutiner Dichterkreises, der sich stark mit der Ideologie der Nationalsozialisten identifizierte und dessen Mitglieder entsprechende Werke publizierten.

Unter diesem Gesichtspunkt sollte man Landunter (1921) lesen, ebenfalls ein Halligroman, dessen Handlung kurz nach dem ersten Weltkrieg spielt. Auf der fiktiven Hallig Sünoog, das der Hallig Hooge nachempfunden ist, schlagen zwar nicht mehr die Wellen der Nordsee hoch, dafür aber die innerhalb der kleinen Gemeinschaft, geht es doch um die Frage, wie sich die Inselbewohner den Herausforderungen der Zukunft stellen wollen. Seit kurzer Zeit verfügt Sünoog nun über einen Damm, der die jährlichen Überschwemmungen in Grenzen hält, Menschen, Vieh und Gebäude schützt und so den Menschen nicht nur physisch, sondern auch psychisch Sicherheit bietet. Der alte Schulmeister Melfsen hatte sich für den Bau und die Durchführung des Projekts eingesetzt und träumt jetzt sogar davon, die Landmassen, die in der ersten Groten Mandränke von 1362 verlorengingen, wiederzugewinnen. Zugleich aber sieht er sein eigenes Werk kritisch, bemerkt er doch, dass Traditionen und Gebräuche auf der Hallig mit der wachsenden Sicherheit immer mehr in Vergessenheit geraten. So fürchtet er um den Zusammenhalt der Inselbewohner und den schädlichen Einfluss der Fremden, namentlich der Arbeiter, die für den Dammbau angeheuert sind, und der Sommerfrischler, die auf die Hallig kommen, um das einsame Leben zu bestaunen.

Peter Bandix, Kriegsgewinnler, Gastwirt und damit Profiteur aus den Veränderungen auf der Insel, plädiert dafür, die Allmende abzuschaffen – in erster Linie, um auf dem gewonnenen Grund und Boden ein Hotel für die zu erwartenden Gäste erbauen zu können. Er und der Schulmeister werden damit zu Gegnern in einem Streit, der die Halligleute entzweit. Hinzu kommt ein dritter Akteur, Harro Boyens, der ebenfalls dafür ist, das gemeinschaftliche Eigentum zu Gunsten von Privatbesitz abzuschaffen, weil er sieht, dass die Hallig und ihr Weideland mehr und mehr verwahrlosen, weil sich niemand mehr für das Land verantwortlich fühlt und zugleich der Platz auf den Warften eng wird und so Söhne und Töchter ihr Auskommen auf dem Festland suchen müssen und dadurch die alten Halligtraditionen vergessen.

In diesen rein sozialen Konflikt mischt Lobsien nun noch eine kleine menschliche Tragödie: Giede, die Tochter des Schulmeisters, verliebt sich in den Baumeister des Damms, Hans Ehrhardt. Als dieser sie nach einem Sommer verlässt, wird in der kleinen Gemeinschaft, in der jeder jeden kennt, Giede schnell das Objekt von bösartigem Getratsche, das vor Jahren ein anderes Mädchen in den Selbstmord im Watt trieb. Der Vater, voll von hohen Idealen und mit dem Gemeinwohl der Halligbewohner beschäftigt, bemerkt zuerst weder das gebrochene Herz seiner Tochter noch die Gerüchte, die an der jungen Frau nagen. Erst als ihm unbedacht die Augen geöffnet werden, kommt es zum Eklat zwischen Vater und Tochter. Während einer Sturmflut, in der die Schleuse zu brechen und die Hallig überflutet zu werden droht, findet der Halligroman seinen turbulenten Höhepunkt, nach dem das kleine Eiland in eine neue Zukunft aufbricht und auch Giede ihr gebrochenes Herz geheilt findet.

Wilhelm Lobsien fängt die besondere Stimmung der Halligen, dieser, so scheint es, Außenposten der Zivilisation inmitten des ‚blanken Hans‘, meisterlich ein. Schon die ersten Zeilen beschwören atmosphärisch dicht das Rauschen der Wellen, den nie verstummenden Wind, das Geschrei der Möwen, die Schönheit, aber auch latente Bedrohung des Wattenmeeres, das in Landunter mehr als nur ein Menschenleben fordert. Ähnlich wie bei Theodor Storm, dem großen Dichter Schleswig-Holsteins, ist Lobsiens Sprache wie das angenehme Säuseln des Windes, kann sich aber auch zu einem brüllenden Orkan steigern und unterstreicht so äußerst wirkungsvoll das außergewöhnliche Setting.

Problematisch ist die Figur des Schulmeisters Melfsen, die Lobsien mit offensichtlicher Sympathie verfolgt und die nur durch den Trunkenbold Krassen Bundis kritisiert wird – mit dem einzigen Ziel, Unfrieden zu stiften und die Autorität des alten Manns über die Halligbewohner zu untergraben. Melfsen wird zum Sprachrohr für nationales Gedankengut, ist doch sein Ziel, das ‚Volkstum der Friesen‘ zu schützen gegen den schädlichen Einfluss der Fremden, die neue Sitten, das Hochdeutsche und besonders neue und von Lobsien mit viel Stirnrunzeln bedachte Musik vom Festland auf die Hallig bringen. Dass Melfsen in der Abstimmung kurz vor seinem Tod über die fortzuführende Allmende unterliegt und auch Giede den fortschrittlich eingestellten Harro heiraten wird, wird nicht mit Kritik bedacht – zugleich erscheint der Halligroman aber auch wie ein Abgesang auf die gute, alte Zeit.

Lobsiens Roman bringt die ganze Welt auf einer kleinen Hallig zusammen und seine Furcht vor den Fremden vom Festland und der damit angeblich einhergehenden Verrohung der Sitten, dem Verlust von Traditionen und Halligkultur spiegeln eindrucksvoll aktuelle Diskussionen, in denen besonders von nationalen Kräften ähnliche Szenarien entworfen werden. Von dem Argument, dass auf der Hallig zu wenig Platz sei für alle Bewohner, ist es nur ein kleiner Schritt zu Gedanken über Lebensraum im Osten und André Poggenburgs Forderung „Deutschland den Deutschen“ im Sommer 2017. Wäre Lobsien nicht ein so national eingestellter Autor, könnte man das Ende von Landunter als durchaus versöhnlich lesen, das Hoffnung für die Hallig Sünoog und das 21. Jahrhundert macht. So aber bleibt der bittere Beigeschmack lange nach dem Ende der Lektüre erhalten.

Lobsiens Halligroman wird von den Herausgebern Arno Bammé und Thomas Steensen mit einem überaus informativen und hilfreichen Nachwort versehen. Hier arbeiten die Herausgeber Lobsiens Biografie auf, weisen auf die nationalsozialistischen Verstrickungen des Autors hin, präsentieren zeitgenössische Fotografien, Skizzen, Karten und Scans, um das Umfeld des Texts zu beleuchten. Sie lassen aber auch Lobsien selbst seine ‚Erweckungsgeschichte‘ zum Halligdichter erzählen und liefern eine Lesart des Textes, indem sie Gemeinschaft mit Gesellschaft kontrastieren und so soziale und emotionale Konflikte miteinander sinnvoll verbinden.

Angeschlossen sind ein kurzes Glossar, in dem sich allerdings auch einige unnötige Wort- und Sacherklärungen finden, und ein konzises und interessantes Literaturverzeichnis, das dazu einlädt, sich näher mit nordfriesischen Texten zu beschäftigen. Insgesamt ist Landunter ein gelungener Band in der Reihe „Nordfriesland im Roman“, der sowohl interessierte Laien als auch Lobsien-Kenner ansprechen wird.

Titelbild

Wilhelm Lobsien: Landunter. Halligroman.
Husum Druck- und Verlagsgesellschaft, Husum 2018.
332 Seiten, 12,95 EUR.
ISBN-13: 9783898768696

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