Feminismus radikaler denken

Die Störenfriedas haben einen Sammelband aus Texten ihres Blogs zusammengestellt

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von jeher prägen zahlreiche Strömungen die Frauenbewegung, die in Detailfragen und auch im Grundsätzlichen oft sehr unterschiedlicher Auffassungen sind. Waren es um 1900 etwa die Radikalen und die Gemäßigten sowie die sogenannte sozialistische oder proletarische Frauenbewegung, so sind es heute die radikale, die von dieser als liberal bezeichnete und die von den Radikalen gar eher dem Antifeminismus zugerechnete queerfeministische. Nicht unerwähnt soll bleiben, dass die Positionen der Radikalen von heute alles andere als deckungsgleich mit denjenigen der Radikalen zu Beginn des 19. Jahrhunderts sind.

Hier gilt es, ein Buch aus dem heutigen radikalen Flügel zu besprechen. Es handelt sich um eine Gemeinschaftsproduktion der Störenfriedas, die seit einigen Jahren den gleichnamigen Blog betreiben. Zumindest die meisten, wenn nicht gar alle der in den Band aufgenommen Texte erschienen zuerst, wenn auch gelegentlich in leicht abweichender Form in dem stets lesenswerten Blog der Herausgeberinnen. Ebenso wie dort kommen in dem Band auch Gastautorinnen zu Wort. Darum enthält er „Beiträge zu einer breiten Spanne an feministischen Themen, die nicht notwendig die Meinung der Herausgeberinnen wiedergeben“, wie die Störenfriedas auf dem Vorblatt erklären.

Kennengelernt haben sich die fünf Störenfriedas Huschke Mau, Caroline Werner, Manuela Schon, Ariane Panther und Mira Sigel zwar „durch die Arbeit in prostitutionskritischen Gruppen“, doch geht ihre Kritik „inzwischen weit über Prostitution hinaus“. Dennoch nimmt das Thema weiterhin einen zentralen Stellenwert in ihrer Arbeit ein. Das schlägt sich auch in dem vorliegenden Band nieder.

Im Vorwort begründet Mitherausgeberin Sigel zunächst, „warum wir radikalen Feminismus brauchen“, und fordert dazu auf,keine Kompromisse mehr einzugehen“. Ihren einleitenden Worten folgen ein Abriss der „Geschichte des (radikalen) Feminismus“ und einige grundlegende Artikel etwa über die „Gewalt der Sprache“ oder den Antifeminismus in der Linken sowie ein sehr instruktiver Aufsatz zur Frage, „wie man Antifeministen rhetorisch besiegt“. Er stützt sich im Wesentlichen auf einen Text über Rhetorik des alten Frauenfeindes Arthur Schopenhauer und zeigt, dass sich tatsächlich einiges von ihm lernen lässt. Natürlich nicht „über die Weiber“, wie sein bekanntes misogynes Pamphlet heißt, aber doch über rhetorische Strategien.

Den allgemeinen Artikeln zum „sexistischen Alltag“ schließen sich Aufsätze zu den grundlegenden Differenzen zwischen radikalem und liberalem Feminismus an – wie sich versteht aus Sicht des ersteren. Die nächste Rubrik bietet Aufsätze zu diversen konkreten Themen, wie etwa „Sexuelle Gewalt“. Hier sticht ein erhellender Beitrag von Inge Klein hervor, in dem die Autorin überzeugend darlegt, warum „Gewalt in Bezug auf Sex eben tatsächlich sexuell und nicht sexualisiert“ ist, wie die meisten FeministInnen im bewussten oder unbewussten Anschluss an Susan Brownmillers Buch Against Our Will von 1975 noch heute behaupten. „Sexuelle Gewalt“, so Kleine, „ist ein gezielter Angriff durch vorwiegend Männer auf den Körper, das Geschlecht und die Sexualität von Frauen oder anderen.“ Ebenso instruktiv ist Annelie Borcherts Kritik an den Thesen und Sprachregelungen der Kulturwissenschaftlerin und taz-Autorin Mithu Melanie Sanyal, die es ablehnt, vergewaltigte Frauen als Opfer der an ihnen begangenen Verbrechen zu bezeichnen, sondern den vermeintlich neutralen Begriff „Erlebende“ bevorzugt.

Weitere Rubriken widmen sich dem Thema „Mutterschaft“, der „patriarchalischen Verwertungslogik“, dem „gemeinsame Feind“ Patriarchat sowie dem „Verhältnis von radikalem Feminismus und Rassismus“. Besonders umfangreich ist die 17 Beiträge umfassende Rubrik „Kommerzialisierte sexuelle Gewalt“, wie die Störenfriedas Prostitution definieren. Sie enthält einige der wichtigsten Texte des Bandes. So etwa jenen über Freier von der Prostitutionsüberlebenden Huschke Mau, die im Unterschied zu anderen Autorinnen des Bandes den Begriff „Sexkauf“ ablehnt, da es sich „nicht um Sex- sondern um Frauenkauf“ handele, wie sie wenig überzeugend erklärt. Wichtiger aber ist eine andere zentrale Aussage des ansonsten instruktiven Beitrags. Sie besagt, dass Prostitution „ALLE Frauen“ etwas angehe. Denn sie sei „die Folge von Gewalt, ist selbst Gewalt gegen Frauen und ist Ursache von Gewalt gegen Frauen“. Und Männer, so ließe sich anfügen, geht Prostitution ebenfalls etwas an, denn sie beeinflusst den Blick eines jeden Mannes auf jede Frau.

Mira Sigel dagegen weist in ihrem Beitrag Freier sind Frauenhasser darauf hin, dass Sexkäufer keineswegs, wie oft nicht nur von feministischer Seite behauptet, „ganz normale Männer“ sind, sondern sich die Sexkäufer in ihrem Verhalten gegenüber Frauen deutlich von anderen Männern unterscheiden. Katharina Sass hat das in dem von ihr herausgegebenen Band Mythos „Sexarbeit“ kürzlich bereits ausführlicher dargelegt.

Eine weitere Rubrik bietet unter dem Titel „Alles Gender – oder was?“ zwei wiederum grundlegende Beiträge zur Kritik des radikalen Feminismus an dem Konzept Gender und an queerpolitischem Aktivismus. „Denn ‚Queerfeministinnen‘ […] haben zusammen mit der Antifeminismus-Bewegung entscheidend dazu beigetragen, dass der Feminismus an Schlagkraft verloren hat, weil er schlichtweg beliebig wurde“, wie Sigel schon im Vorwort kritisiert. Sie spricht in diesem Zusammenhang von „Männerrechtlerinnen im Feminismusgewand“.

Einer der in den Band aufgenommenen Texte wurde versehentlich doppelt abgedruckt, einmal unter der Überschrift Die mutigen Frauen vom La Strada und ein weiteres Mal unter dem Titel Prostitution: Keineswegs das älteste Gewerbe der Welt. Dieser ist wohl der richtige, denn er entspricht dem Inhalt des Textes. So ein Versehen ist zwar ärgerlich, kann aber vorkommen. Erstaunlich ist jedoch, dass es bei einem als Book on Demand erschienenen Band nicht korrigiert wurde.

In einigen Artikeln lassen sich kleinere Irrtümer und sonstige randständige Mängel monieren. Zu ihnen zählt etwa, dass Sigel in einem ihrer Beiträge meint, es gebe „keine Utopie, in der sich die Misogynie nicht findet“. Wie wäre es beispielsweise mit Helene Judeichs Neugermanien (1903), Charlotte Perkins Gilmans Herland (1915) oder The Wanderground (1978) von Sally Miller Gearhard?

Sigels allzu holzschnittartiger Parforceritt durch „die Geschichte des (radikalen) Feminismus“ wiederum enthält zwei, drei historische Schnitzer. Dass die Autorin auf dem Frankfurter Delegierten-Kongress des SDS 1968 der hochschwangeren Sigrid Damm-Rüger die berühmten Tomaten entreißt, um sie Helke Sander, deren Rede damals von den Herren Genossen ignoriert worden war, in die Hand zu drücken, damit Sander sie den Genossen an die Köpfe wirft, scheint zwar eine Petitesse zu sein. Aber immerhin handelte es sich um nicht weniger als den Startschuss zur Neuen Frauenbewegung. Außerdem hat es Damm-Rüger wahrhaftig nicht verdient, aus der Geschichte der Frauenbewegung getilgt zu werden. Ärgerlicher aber ist, dass Sigel die führende Aktivistin des gemäßigten Flügels der Frauenbewegung um und nach 1900, Helene Lange, dem damaligen radikalen Flügel zurechnet. Andererseits enthält ihr historischer Abriss auch einige wichtige Richtigstellungen gängiger antifeministischer Mythen. So widerspricht sie implizit der Behauptung, die US-amerikanischen Feministinnen der ersten Stunde seien Rassistinnen gewesen, indem sie betont, dass sie von Beginn an stark in der Bewegung gegen die Sklaverei engagiert waren. Dort wurden sie jedoch marginalisiert und vielmehr umgekehrt in ihrer Forderung nach dem Wahlrecht für Frauen von ihren ehemaligen Mitstreitern nicht unterstützt, nachdem dasjenige für schwarze Männer erkämpft worden war. Bedauerlich ist allerdings, dass sie auf Quellen und Belege verzichtet.

Überhaupt nicht überzeugen kann Hanna Dahlbergs Text Abtreibung – eine fehlgeleitete Debatte. Dies ist umso gravierender, als es sich um den einzigen Beitrag zu diesem derzeit so virulenten Thema handelt. Die Gastautorin entwirft auf knapp zehn Seiten etliche Argumente gegen Abtreibungen. Etwa, dass die Entscheidung der Frauen „nur selten ‚frei‘“ sei, sondern die Umstände oder Männer Druck auf sie ausübten, dass Menschen „schon immer“ mit Abtreibungen „eugenische Interessen verfolgt haben“, dass sie ernsthafte Gesundheitsrisiken berge, während „Beratungsstellen“ so täten, „als sei Abtreibung in unseren Breiten ein Spaziergang“, dass Frauen nicht „auf die (liberale und individualisierende) ‚Pro-Choice‘-Rhetorik hineinfallen“ sollten und dass es gelte, die Gesellschaft so zu verändern, dass Frauen „ein Kind auch in schwierigen Lebensumständen austragen und großziehen können“. Radikal ist eine solch einseitig-oberflächliche Herangehensweise nicht. Tiefgründiger – und in diesem Sinne radikaler – argumentiert Anja Karneins Prinzip zukünftiger Personen.

Eine der Mitherausgeberinnen, Manuela Schon, wendet sich vehement gegen aktive Sterbehilfe, die nicht nur „in der Tradition der Eugeniker des Nationalsozialismus“ stehe, sondern der patriarchalisch-kapitalistischen „Verwertungslogik“ entspreche. Dass sich weitaus mehr daran verdienen lässt, wenn sich ein Mensch über Monate und Jahre hinweg zu Tode quält, und dass profitorientierte Konzernen, Betrieben und Institutionen die gesamtgesellschaftlichen Kosten herzlich egal sind, spielt in ihren Ausführungen keine Rolle. Dafür maßt sie sich Menschen gegenüber, denen es „scheint“, „als habe ihr Leben keinen Sinn mehr“, eine nicht anders als paternalistisch zu nennende Rolle an.

Auch Mira Sigels Beitrag Patriarchalisches Säbelrasseln: Burkaverbot, Silvesternacht und Rassismus kann nicht ganz unwidersprochen bleiben. Zwar moniert sie aus guten Gründen, dass der liberale Feminismus „lieber frauenfeindlich als rassistisch“ sei und wirft der aus Anlass der sexuellen Angriffe in der Silvesternacht 2015 von Anne Wizorek initiierten „Aktion ‚ausnahmslos‘“ vor, dass sie sich nur „auf den ersten Blick an die Opfer sexueller Gewalt richtete, sich bei genauerem Hinsehen aber in erster Linie als eine Anti-Rassismus-Kampagne erwies“. Weiter meint Sigel, der „deutsche Frauenhass“ sei „ein anderer als der in muslimischen Ländern“, nämlich „intellektuell verbrämter, subtiler“ und „gerade deshalb so schwer zu greifen“. Dies klingt ganz so, als sei er darum im Grunde gefährlicher. Schließlich erklärt sie kurzerhand: „Freiheit gibt es nicht, weder unter der Religion, noch im Neoliberalismus“, denn mit dem „muslimischen“ und dem „westlichen Patriarchat“ […] stehen sich zwei zutiefst männerdominierte und patriarchalische Gesellschaften gegenüber […] und keine von ihnen ist besser“. Letzteres in einem radikalfeministischen Buch lesen zu müssen, macht sprachlos. Denn fraglos sind die bis hin zu Verurteilungen von Vergewaltigungsopfern als Ehebrecherinnen, Auspeitschungen, ‚Ehren‘morden und öffentlichen Hinrichtungen reichenden Praktiken der einen weit schlimmer als die übelsten der anderen. Doch ähnlich wie Sigel erklärt auch Schon, Feministinnen liefen „in eine Falle“, wenn sie, „die Lage der Frau in der ‚westlichen‘ (zivilisierten) Welt im Vergleich zu anderen (barbarischen, im Mittelalter feststeckenden) Kulturen als ‚freier‘ und Fortschritt hierarchisieren“. Man muss ja nicht von Fortschritt reden. Wie viele ‚westliche‘ Frauen, zumal Feministinnen würden es aber nicht vorziehen, in einer liberalen, demokratischen Gesellschaft etwa Europas zu leben als in einem muslimisch geprägten Land?

Im Schlusswort beklagt Sigel den „Riss“, der „zwischen liberalem und radikalem Feminismus, zwischen patriarchatskritischem und bürgerlichem Feminismus, zwischen jungen und alten Feministinnen“ verläuft, und beschwört die Gemeinsamkeit aller Feministinnen „außerhalb der hegemonialen Männlichkeit“. Jedoch sei die innerfeministische Zersplitterung weder mit einem „einfachen Ruf nach Solidarität“ zu überwinden noch mit der „Idee der ‚Sisterhood‘“ des US-amerikanischen Feminismus der Zweiten Welle. Die Lösung sieht sie vielmehr im Konzept des Affidamento der Mailänder Feministinnen-Gruppe Diotima, die von einem essentialistischen Weiblichkeitsbegriff ausgehend ein am Mutter/Tochter-Verhältnis orientiertes und somit asymmetrisches Beziehungsgeflecht zwischen Frauen propagiert.

Kein Mensch wird mit allen der rund fünfzig Beiträge übereinstimmen können. Aber jeder wird einige von ihnen mit Gewinn in Form von Denkanstößen, Erkenntnissen und Ermutigungen lesen. Zudem ist das Buch aus mindestens zwei weiteren Gründen von Belang. Erstens ist es eine der wenigen radikalfeministischen Stimmen im liberalfeministisch dominierten Markt frauenemanzipatorischer Bücher. Zweitens sind Radikalfeministinnen in einigen Bereichen, wie etwa der Haltung gegenüber der Prostitution oder queeren Politiken, (nahezu) die einzigen, die den Ehrentitel Feministin überhaupt zu Recht für sich beanspruchen. Daher ist es im feministischen Diskurs zweifellos eines der wichtigsten Bücher der letzten Jahre.

Titelbild

Huschke Mau / Caroline Werner / Manuela Schon / Ariane Panther / Mira Sigel (Hg.): Störenfriedas. Feminismus radikal gedacht.
Books on Demand, Norderstedt 2018.
542 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783746018515

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