Die Wahrheit ist im Kopf

Lese-Reisen mit Felicitas Hoppe

Von Hannes KraussRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hannes Krauss

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1935, während der Weltwirtschaftskrise, reisten die beiden sowjetischen Schriftsteller Ilja Ilf und Jewgeni Petrow im Auftrag der Parteizeitung PRAWDA zehn Wochen lang in einem Ford durch die USA, um aus dem Land des Klassenfeindes zu berichten. Begleitet wurden sie, auch weil sie kein Englisch sprachen, vom „revolutionären Geschäftsmann“ Mr. Adams und seiner Frau. Ihr von naiver Unbekümmertheit geprägter Reisebericht erschien zunächst als elfteilige Fotoreportage in einer populären sowjetischen Illustrierten und 1937 als Buch, das allerdings mit seinem heiter-ironischen Duktus schon nicht mehr so richtig in die Zeit von Denunziation und Terror passte. Gleichwohl waren die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und den USA noch relativ entspannt: Gegnerschaft zum aufkommenden Faschismus in Europa und ein an neuesten Technologien orientierter Fortschrittsoptimismus hatten zeitweise zu einer Annäherung der beiden Staaten geführt.

Ilfs und Petrows Buch über Das eingeschossige Amerika ist 2011 in der Übersetzung von Helmut Ettinger auf Deutsch erschienen – mit einem ausführlichen Nachwort von Felicitas Hoppe. Die hat sich dann ziemlich genau achtzig Jahre nach den beiden selbst auf den Weg gemacht, um auf ihren Spuren Amerika neu zu entdecken. Vom 9. September bis 13. Oktober 2015 durchquerte sie – gleichfalls in einem Ford – die USA von Ost nach West und zurück. Vordergründigen Anlass – und willkommene Finanzierungshilfe – bot eine vom Goethe-Institut organisierte Lesereise, die von Boston über Montreal, Chicago, San Francisco, Los Angeles und Washington nach New York führte. Begleitet wurde Hoppe auf ihrer Fahrt von einer in den USA lebenden pensionierten österreichischen Literaturwissenschaftlerin, von einem Künstler aus Kiew und von einer Fotografin aus Halle.

Alle vier zusammen bilden – unter anderen Namen – das Personal eines Buches, das ein wunderbares Gemenge ist aus Reisebericht, Lektüreerfahrungen, Alltags-Miniaturen, Träumen und phantastischen Geschichten. Wer sich dem Text mit falschen Erwartungen nähert, wird enttäuscht – wie jener Kritiker des Rundfunk Berlin Brandenburg (RBB), der resigniert befand, er „habe selten einen so überflüssigen Reiseroman gelesen“. Wer sich aber einlässt auf das assoziativ-vagabundierende Schreiben einer Autorin, die immer wieder für Überraschungen gut ist, die/der darf sich gleich auf mehrere Reisen freuen: durch den Norden und die Mitte Amerikas, durch die (Literatur)Geschichte und gelegentlich auch ins sowjetische Russland. Lesefrüchte werden im Überfluss gereicht (u.a. von Alexis de Tocqueville, Karl May, Ilf und Petrow, Leo Tolstoi, Theodor Fontane,  Mark Twain, Thomas Mann, Lyman Frank Baum), garniert mit pfiffigen Alltagsbeobachtungen (über Navigations-Software fürs Handy, Motel-Designs, Reklametafeln) und angereichert mit Reflexionen zum Eishockey, zum amerikanischen Film oder zur Politik. Hoppes Reise führt durch nordamerikanische Landschaften, durch die Geschichte der Industrialisierung (Elektrizität, Automobile) und der Kultur und wird beflügelt durch die Träume der Protagonistin. Eine Aufzählung von Namen und Themen kann nur ein blasses und wohl auch schiefes Bild vermitteln von einem Buch, das überbordet mit Fantasien und Assoziationen und pedantische Leser, wie mich, gelegentlich zum prüfenden googeln verleitet. Doch der ‚Faktencheck’ stört den Lesespaß nicht. Auf Seite 240 geraten wir zwar ins kalifornische Hauptquartier des Informations- und Kontroll-Konzerns, und wer will, kann die reale Reise, auf der das Buch basiert, auch online unter blog.goethe.de/little-golden-america-revisited nachverfolgen. Aber all das schützt nicht davor, dass wir immer wieder mitgerissen werden auf die zahllosen Haupt-, Neben- und Abwege, über die das Buch führt.

In einem Rundfunkgespräch gestand die Autorin, ihr Traum sei immer gewesen, „ein rundes Buch zu schreiben“, das funktioniere wie eine Schiffs- oder Busreise: „Sie können an jeder Station zusteigen, und Sie können auch wieder aussteigen.“ Mit Prawda ist ihr – man verzeihe den Kalauer – tatsächlich ein solcher hop on-hop off-Text gelungen. Das Buch verführt dazu innezuhalten, sich ein bisschen in den skizzierten Assoziationsräumen umzutun und später wieder mitnehmen zu lassen zu neuen Bildern.

Am Ende dieser turbulenten Bildungs-, Phantasie-, Zeit- und Lesereise hat man eine Menge gelernt: über Gerüche in billigen amerikanischen Motels, über Navi-Apps für Mobiltelefone, über High-Tech-Armaturen in einem (teureren) kanadischen Hotel und über amerikanische Film- und Kulturgeschichte. Man ist Thomas Alva Edison und Henry Ford begegnet, dem Eishockeyspieler Wayne Gretzky, dem Kinderbuchautor Dr. Seuss, dem Filmregisseur Quentin Tarantino, dem „müden Pharao“ Barack Obama – und anderen bekannten und weniger bekannten Gestalten der amerikanischen Geschichte. Vor allem aber hat man sich wunderbar unterhalten, und zwar im Kopf – ganz schön anstrengend (im doppelten Sinne).

Also: unbedingt lesen! Vielleicht sogar auf dem Weg in die USA – und dabei riskieren, mit Wahrheiten konfrontiert zu werden, die „richtige“ Reisebücher unterschlagen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Felicitas Hoppe: Prawda. Eine amerikanische Reise.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2018.
319 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783100324573

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