Ausflug nach New York in den Dirty Thierties und den Fightin Forties

Jennifer Egan lädt mit „Manhattan Beach“ zu einer Zeitreise ein

Von Miriam StriederRSS-Newsfeed neuer Artikel von Miriam Strieder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Pulitzer-Preisträgerin Jennifer Egan ist für ihren Roman Manhattan Beach (2017; übersetzt 2018) von der englischsprachigen Presse hymnisch gelobt worden. In der Tat erweisen sich die etwas mehr als 500 Seiten als ein echter „Pageturner“, der mit abgerundeten Charakteren, einer spannenden Handlung und viel Atmosphäre aufwartet. Allerdings haben sich einige Längen eingeschlichen, auch wenn der Roman auf den letzten 100 Seiten viel an Tempo gewinnt.

Egans Manhattan Beach spielt im New York der 1930er und 40er Jahre und schildert das Schicksal der irischen Einwandererfamilie Kerrigan, die vor der Weltwirtschaftskrise und der Prohibition am Theater gut Geld verdiente. Danach ist die Familie immer nur einen Schritt von Armut und Obdachlosigkeit entfernt: Die Mutter näht im Akkord, der Vater erledigt dubiose Botengänge für einen alten Freund, der tief in die Händel der Unterwelt verstrickt ist; seine ältere Tochter Anna, die Heldin des Romans, begleitet ihn auf manchen seiner Ausflüge durch die Stadt. Lydia, die jüngere Tochter, ist wegen Sauerstoffmangels bei der Geburt behindert. Während der Vater Scheu und Abneigung gegenüber dem zugleich schönen und entstellten Kind empfindet, überschütten es die Mutter und Anna mit Aufmerksamkeit und Zuneigung.

Eines Tages stellt sich der Vater, der über ein fotografisches Gedächtnis für Abläufe verfügt, in den Dienst von Dexter Styles und kann deshalb Anna auf seine geheimen Observationen nicht mehr mitnehmen. Vater und Tochter entfernen sich voneinander und Anna wird, ohne dass er es bemerkt, erwachsen. Ebenso plötzlich verschwindet der Vater aus dem Leben der Familie, die sich nicht sicher ist, ob er sie verlassen hat oder gestorben ist. Nachdem auch Lydia stirbt, beschließt die Mutter, auf die Farm ihrer Eltern in Minnesota zurückzukehren. Anna bleibt alleine in New York zurück, wo sie nicht nur das College besucht hat, sondern nun auch in der Marinewerft arbeitet und Bauteile für Kriegsschiffe kontrolliert.

Trotz erheblichen Widerstandes von ihrer Mutter und ihren Vorgesetzten, lässt sie sich zur Taucherin für die Navy ausbilden und macht ihren Weg in einer von Männern dominierten Welt, auch wenn sie weiterhin die Augen für Hinweise auf den Verbleib ihres Vaters, dessen plötzliches Verschwinden wie ein Schatten über ihrem Leben hängt, offenhält. Während die Nachrichten von den Fronten des zweiten Weltkriegs immer ermutigender werden, wird Annas Leben immer komplizierter. Die anfängliche Einsamkeit in der Großstadt weicht einer tiefen Freundschaft und Verbundenheit mit Werftarbeitern und Kollegen; auch ihr zeitweiliges Zuhause bei einer Marineangehörigen bietet Anna einen Halt, der aber zu zerbrechen droht, als sie zwei Geheimnisse mit sich herumträgt, die ihre Existenz gefährden. Schließlich bleibt Anna nur die Flucht aus ihrem bisherigen Leben und sie fängt in Kalifornien neu an, um die Veränderungen, die der Krieg in die Gesellschaft gebracht hat, nutzen zu können.

Anna ist eine moderne Heldin, deren Aufwachsen und Weg im rauen New York man mit Sympathie verfolgt. Aus dem außergewöhnlichen Kind wird eine bemerkenswerte Frau, die als Identifikationsfigur für das 21. Jahrhundert dienen kann. Auch die anderen Figuren, ob nun knurriger Marineangehöriger oder smarter Unterweltsboss, ohne den ein Roman über New York offenbar nicht auskommt, sind prägnant gezeichnet. Manhattan Beach erweist sich als atmosphärisch dicht und durch sein Hauptsetting am Meer als angenehm abseits der heutigen Touristenpfade, die wie ferne Leuchttürme durch den Nebel und Rauch des Hafens blinken. Egan schafft es unprätentiös, den Zweiten Weltkrieg als prägendes Ereignis in ihren Roman zu integrieren und seine Allgegenwart immer wieder zu einem Hintergrundrauschen werden zu lassen. Mit leichtem Befremden, aber auch mit Faszination liest man dann von Annas brennenden Wunsch, am Krieg teilzunehmen und von ihrem ehrfürchtiges Staunen, wenn sie unter Wasser die Rümpfe der riesigen Kriegsschiffe repariert – ein guter Indikator für die Lebendigkeit von Egans Figuren und ihrer Sprache, aber auch ein Merkmal für die gute Übersetzung von Henning Ahrens. Die Längen des Romans werden durch gekonnte Schilderungen und spannungsgeladene Passagen besonders zum Ende hin wettgemacht.

Dem Roman ist ein Interview mit der Autorin vorangestellt, das von einigen Schwarz-Weiß-Fotografien aus den New Yorker Werften ergänzt wird und so visuell auf das Folgende einstimmt. Im Umschlag befindet sich eine schematische Karte des Marinegeländes am East River, die der Orientierung dienen kann.

Manhattan Beach ist eine ideale Urlaubslektüre und zugleich ein wohltuend unideologisches Lehrstück über starke Frauen und die gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten 80 Jahre, aber auch eine Mahnung, was wir noch alles erreichen könnten und im Angesicht der Herausforderungen des noch jungen 21. Jahrhunderts auch erreichen müssen – auch wenn unsere Katastrophen nicht mehr so augenfällig sind wie der Zweite Weltkrieg.

Titelbild

Jennifer Egan: Manhattan Beach. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Henning Ahrens.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2018.
508 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783103973587

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