Eduard von Keyserlings „Wellen“

Aus dem „Literarischen Quartett“ vom 6. Februar 1998

Von Marcel Reich-RanickiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcel Reich-Ranicki

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vorbemerkung der Redaktion: Der 100. Todestag Eduard von Keyserlings am 28. September 2018 ist für uns ein Anlass, eine Abschrift mündlicher Ausführungen Marcel Reich-Ranickis in seiner Sendung „Das Literarische Quartett“ vom 6. Februar 1998 über den Autor und seinen Roman  „Wellen“ zu veröffentlichen. Teilgenommen an den Gesprächen in der Sendung haben außerdem Sigrid Löffler, Hellmuth Karasek und Peter von Matt. Die Sendung hat maßgeblich zur Wiederbelebung des öffentlichen Interesses an den Werken Eduard von Keyserlings beigetragen. T.A.

Ja, dann gehen wir weiter zu einem ganz anderen Buch, wieder eine ganz andere Epoche, Eduard von Keyserling, ein Schriftsteller aus fernen Zeiten, geboren 1855. Er war also älter als Thomas Mann, Heinrich Mann, Hermann Hesse, Gerhart Hauptmann – viel älter als die alle. Als Fontane starb, war er schon 43 Jahre alt. Keyserling ist ein Mann aus einer aristokratischen Familie aus dem Baltenland. Und er hat relativ spät, erst so ungefähr, als Fontane starb, kurz vor der Jahrhundertwende, zu schreiben begonnen. Etwa zehn bis fünfzehn Jahre bis zum Ersten Weltkrieg hat er geschrieben, dann hat er noch gelebt, aber er war blind, er konnte nicht mehr schreiben, er hat einiges diktiert.

Keyserling steht in der Literaturgeschichte, da wird er präsentiert als ein Schriftsteller zwischen Fontane und Thomas Mann. Mehr zu Fontane hin, weniger zu Thomas Mann gehört er. Die Figur Keyserling ist von den Germanisten mit einem Zettel versehen worden, da klebt ein Zettel drauf und auf dem steht: Impressionismus.

Ja, das mit dem Impressionismus ist immer so eine heikle Sache in der deutschen Literatur. Da gibt es ganz wenige. Was damit wohl gemeint ist, mit diesem Impressionismus, dem er zugeschoben wird, ist, er ist ein Schriftsteller von erstaunlicher Sinnlichkeit, ein ungewöhnlich sinnlicher Schriftsteller. Der schreibt immer wieder, wie die Farben, die Gerüche, die visuellen Eindrücke der unterschiedlichsten Art, die akustischen Eindrücke – ein ganz und gar sinnliches Buch.

Es geht nur um Aristokraten, und inmitten dieser Aristokratengruppe, die da Urlaub verbringt bei einem Fischerdorf an der Ostsee, ist ein Bürger, ein Maler. Nun, nach altem deutschen Vorbild werden die Bürger inmitten von Aristokraten vom Autor immer leise geadelt. Das ist so üblich, das hat Schiller als Erster gezeigt, lauter Aristokraten, aber der alte Miller ist ein Musiker, ein Künstler. Ich meine Kabale und Liebe, wie man sich denken kann. Und als solcher ist er schon etwas geadelt. Hier wird der Bürger als Maler geadelt. Es wird, es sind in allen Büchern von Keyserling – er hat nur Erzählungen geschrieben. Manche Erzählungen hat der Verlag „Roman“ genannt, aber es sind meist 100-Seiten-Bücher, 130 bis 150, Wellen ist schon ein relativ langes Buch. Es sind immer Liebesgeschichten und es sind immer Geschichten, beinahe immer, die im Spätsommer oder Herbst sich abspielen. Warum? Tja, es sind elegische Geschichten, resignierende Geschichten auch über die große Vergeblichkeit und sehr traurige Geschichten, weil da eine bestimmte menschliche Gruppe, die er beschreibt und schildert, sich dem Untergang nähert.

Es wird in diesen Erzählungen – und das ist ganz wichtig – nicht resümiert, nicht reflektiert, sondern demonstriert, oder versuchen wir es deutscher zu übersetzen: Es wird nicht erörtert, es werden keine Erwägungen geboten, sondern es wird gezeigt und sichtbar gemacht. Und was mir an dem Stil auffällt – man soll nicht von Leuten verlangen, dass sie schreiben wie Thomas Mann, aber mal umgekehrt herum: Thomas Mann, genialer Stilist, aber einer, wenn der einen fabelhaften Abschnitt geschrieben hat, dann habe ich den Eindruck, er guckt hoch, blickt auf den Leser und winkt dem Leser: „Du musst doch zugeben, das habe ich fabelhaft gemacht, den Abschnitt.“

Etwas Kokettes ist bei Thomas Mann, das gibt es bei Keyserling überhaupt nicht. Er kann etwas unerhört Schweres, was in der deutschen Literatur so selten vorkommt. Er kann erzählen, wie ihm der Schnabel gewachsen ist, ganz schwere Sachen, das können nur wenige. Und er hat das in diesem Roman, wieder einem Liebesroman mit traurigem Ende – aber das ist so mit der Liebe, die endet ja immer traurig, schlecht. Mit diesem Roman hat er uns eine schöne Liebesgeschichte geschrieben und eine Charakteristik der Aristokraten, des Adels dort, die keine gesellschaftskritische Analyse ist. Er kann überhaupt nicht analysieren.

[…]

Dieser Roman bietet viel mehr als Gesellschaftskritik. Nur, ich habe noch nie von einem guten gesellschaftskritischen Roman gehört, der nicht mehr bieten würde als die Kritik. Wenn er nur die Kritik bringt, dann genügen doch Artikel, dann genügen doch Essays. Und hier ist ein erzähltes, wirklich erzähltes Buch.

Was mir so gefällt an dem Buch, um noch ein Beispiel zu geben, sind die fabelhaften Dialoge. Und da gibt es eine alte Witwe, eine Generalswitwe, das ist die Klügste unter den Leuten, so eine etwas trockene, nüchterne Witwe, vielleicht geborene Fontane, es ist nicht ganz ausgeschlossen, Ähnliches haben wir bei Fontane auch erlebt. Und da gibt es eine Stelle – so ist der Dialog geschrieben, so schlicht und so gut –, da sagt jemand zu ihr: „Aber die Ehe, sagt das kleine Fräulein hier, die Ehe ist doch eine heilige Sache.“ Sie antwortet: „Ja, ja. Aber unsere Männer sind nicht heilig.“ Alles, was Keyserling zu dem Thema Ehebruch zu sagen hat, ist schon hier in dem Satz angedeutet.

Jetzt aber, hier sagte jemand, ich glaube, mein Freund Karasek: Die Psychologie, die Psychologie ist in dem Roman bei Keyserling so gut. Es ist keine Psychologie, die von der Theorie herkommt.

[…]

Als er den Roman diktiert hat, 1911 – erblindet war er ja 1908, er hat seiner Schwester den Roman diktiert –, gab es längst die frühen Schriften von Sigmund Freud, die er wahrscheinlich nie gelesen hat. Er lebte in München, die waren noch gar nicht bis München, aus Wien bis nach München gekommen.

[…]

Heute glauben wir, Die Traumdeutung war so eine Sensation, alle haben das gelesen. Die meisten haben es kaum gemerkt. Es ist eine Psychologie, die sich ergibt aus der Beobachtung.

[…]

Es ist vor allem die Beobachtung der Menschen. Und das ist eine Erscheinung nicht der deutschen, sondern der europäischen Literatur der Jahrhundertwende. So sah sie kurz davor bei Turgenjew aus, bei Tschechow und bei einem Autor, mit dem man ihn schon mehrfach zu Recht verglichen hat, bei Hermann Bang. Alle diese Autoren beobachten die Menschen und schildern, was sie beobachtet haben. Dass sie Kenner der Menschen sind, kommt hinzu. Übrigens – […]  wozu brauchen wir die Literatur? […] Dass uns die Dichter sagen, was die Wissenschaftler mit ihren Methoden viel, viel später erst merken werden.

Nachbemerkung der Redaktion: Die Veröffentlichung erfolgt mit  freundlicher Genehmigung der Erben Reich-Ranickis. Schriftliche Aufzeichnungen der Diskussionsbeiträge in allen Sendungen des „Literarischen Quartetts“ sind 2006 gedruckt sowie auf CD-Rom bei Directmedia Publishing erschienen. Eine kommentierte Neuauflage des Romans von Keyserling hat Gabriele Radecke 2018 bei Reclam herausgegeben.

Titelbild

Eduard von Keyserling: Wellen. Roman.
Herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Gabriele Radecke.
Reclam Verlag, Stuttgart 2018.
185 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783150111567

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Das Literarische Quartett. Gesamtausgabe aller 77 Sendungen von 1988 bis 2001 (CD-ROM).
Directmedia Publishing, Berlin 2006.
30,00 EUR.
ISBN-10: 3898535266

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Das Literarische Quartett. Gesamtausgabe aller 77 Sendungen von 1988 bis 2001. 3 Bände.
Directmedia Publishing, Berlin 2006.
1983 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-10: 3898533018

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