Feuerwerk der Erzählkunst

Lisa Elsässers einfühlsame Erzählsammlung „Erstaugust“ glänzt mit präziser Sprache und literarischer Experimentierfreudigkeit

Von Severin PerrigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Severin Perrig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ob die Tage drückend sind, so heiß wie „Badewasser, also über vierzig Grad“ (Monique Schwitter), oder ob es zu Monatsbeginn „am Abend“ gar schneit (Corinna Bille), der August steht in der Schweizer Literatur stets für mehr als nur eine fiebrig brennende Schreibzeit oder einen gewöhnlichen Erntemonat, wo das verglühende Licht so klare und scharfkantige Schatten hervorbringt. Der erste August ist auch der Nationalfeiertag der Schweiz. Er beschwört mit seinen die nächtlichen Berge erhellenden Höhenfeuern, den wuchtigen Alphorntönen und dem mehrsprachigen Gesang ein geradezu einmaliges Gefühl der „Zugehörigkeit“ (Yvette Z’Graggen). Er kann aber auch mit seinen unverbindlichen Bierreden, Bannern und Böllern der „Eidgenösslinge“ (Lara Stoll) als allzu hohl und öde abstoßen.

Doch es bleiben die zahlreichen Kindheitserinnerungen: „Lampions“, runde rote Papierlaternen mit weißen Schweizerkreuzen, bengalische Zündhölzer und anderer exotisch anmutender Feuerwerksregen, aber auch „Zuckerstöcke“, die den gewöhnlich so trübseligen Feierabend für einmal zu erhellen wussten.

Erstaugust, wie der Tag im Schweizerdeutschen genannt wird, ist in Lisa Elsässers neuster Erzählsammlung nicht nur der Titel einer ihrer elf Erzählungen, in welcher diesen Erinnerungen nachgespürt wird, sondern zugleich eine inhaltliche Klammer für den ganzen Prosaband. Immer wieder geht es darin um unscheinbare Menschen, die von der Autorin jedoch mit umso intensiverer Beobachtungsgabe, mit großer Empathie beschrieben werden. Alleingelassene aller Altersstufen, Kranke, Kuriose, Sehende und Studierende, Blinde und Betrogene geben berührende Geschichten ausschnitthaft von sich preis, inmitten einer viel zu großen Welt. Es ist erst August und schon bricht alles über sie herein, die Herbststürme, verfrühte Schneeflocken und das nur schwer auszuhaltende Gefühl, über die Lebensmitte längst hinaus zu sein, wo das eigene, endgültige Verschwinden wohl nur noch eine Frage der Zeit ist.

Die vielfach ausgezeichnete Lyrikerin und Prosaistin Lisa Elsässer erzählt diese einfachen Lebensläufe und ihre Verwicklungen mit einem sensiblen Sprachgespür für Melancholisches wie Humoriges. In poetisch verknappter und präziser Sprache treten einem die beschriebenen oder erzählenden Protagonistinnen klar und deutlich vor Augen. Die Erzählungen zeichnen sich auch durch Episoden aus, die beim Lesen einen Nachhall erzeugen, eine Nachdenklichkeit, die im Nachhinein darüber staunen lässt, wie viele traditionelle Regeln des Erzählens und der angestammten Schreibweise die Autorin dabei mutig außer Kraft setzt. Statt bloß schnell zeitgenössische Probleme aufzuwerfen, spielt sie raffiniert und hintersinnig mit allerlei Wortbedeutungen und Metaphern. Bereits eine Überschrift kann schon zu einem Anfangssatz gerinnen. Und wenn viele heutige Situationsgeschichten einen Hang zum Lyrischen aufweisen, speziell zum Balladenhaften, so verdichtet Elsässer sie in dem Fall gleich souverän zu einer neuartigen Geschichte in Versen.

Dabei erweist sich gerade das Unscheinbare dieser Lebensgeschichten als ideal, um – dem vorangestellten Motto des amerikanischen Schriftstellers Richard Ford gemäß – den turbulenten und aufregenden Gefühlslagen der Herzen, den merkwürdigsten Emotionen für einen kurzen, intensiven Moment auf den Grund sehen zu können. Vielleicht um all das so Unsägliche in diesem ganz speziellen „augustlicht“ auszuloten, wie es in Elsässers Lyrikband flussbewohner einmal heißt, welches „die felsen“ geradezu als „wache augen“ schimmern lässt. Schimmernd, wie die nassen Augen des in der Fremde heimwehkranken Ferienkinds in der Erzählung Erstaugust, das bengalische Zündhölzer vergeblich von zu Hause ersehnt.

Wie schnell indes nur der August, der Schweizer Jubelmonat, mit all seinen Vorstellungen vom Guten und Schönen wieder verbrennt. Wie rasch das Feuer einer Festnachtfreude im Nichts erlischt. Zurück bleiben allein die Unscheinbaren in ihrer alltäglichen Gewöhnlichkeit. Mit einer überaus einfühlsamen Erzählweise, aber auch mit klugem Sprachwitz und großer Experimentierfreudigkeit besticht Lisa Elsässers Erstaugust.

Titelbild

Lisa Elsässer: Erstaugust. Erzählungen.
Edition Blau im Rotpunktverlag, Zürich 2019.
153 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783858698292

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