Die durchschlagende Kraft der Vernunft

Zum 50. Todestag von Theodor Wiesengrund Adorno

Von Dieter KaltwasserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Kaltwasser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Adorno am 6. August 1969 starb, zählten er und Max Horkheimer zu den intellektuellen Gründungsvätern der Bundesrepublik. Er emigrierte 1934 nach dem Entzug der Venia Legendi durch die Nationalsozialisten nach Oxford und übersiedelte später nach New York. Hier wurde er Mitglied des von Horkheimer geleiteten Instituts für Sozialforschung. Nachdem die beiden jüdischen Denker Ende der 40er Jahre aus der Emigration in den USA zurückkehrten, errichteten sie gemeinsam das IfS erneut in Frankfurt. 1964 wurde Jürgen Habermas auf Horkheimers Lehrstuhl für Philosophie und Soziologie an der Universität Frankfurt berufen. Für seine Antrittsvorlesung „Erkenntnis und Interesse“ wählte er Horkheimers Aufsatz Traditionelle und kritische Theorie als Bezugspunkt.

Adorno gilt als einer der wichtigsten Theoretiker des 20. Jahrhunderts. Er hat nicht nur die zeitgenössische Philosophie und Soziologie nachhaltig beeinflusst, sondern ebenso die Kulturwissenschaften sowie Literatur und Psychoanalyse. Die zusammen mit Max Horkheimer verfasste Dialektik der Aufklärung avancierte zum klassischen Text des 20. Jahrhunderts und ist eine Theorie der modernen Massenkultur und zugleich eine philosophische Kritik und Auseinandersetzung mit dem Faschismus. Sein beachtlicher Einfluss auf die Debatten der Nachkriegszeit verdankte sich ebenfalls seinen außeruniversitären Vorträgen, in denen er zu den verschiedensten gesellschaftlichen Entwicklungen Stellung bezog und sich alsbald auch als öffentlicher Intellektueller einen Namen machte. Ein im Herbst dieses Jahres erscheinender Band mit Vorträgen Adornos aus den Jahren 1949 bis 1969 gibt davon beredt Zeugnis. Allein die Vielfalt der Themen ist beeindruckend: Es geht um das Suchtpotential von Prousts Prosa und um die Kompositionstechnik von Richard Strauss, um Fragen des Städtebaus und der Pädagogik, um Aberglauben und Antisemitismus, um die autoritäre Persönlichkeit und den neuen Rechtsradikalismus.

Adorno galt einst konservativen philosophischen Fachzirkeln als verdächtig, wenn nicht gar anrüchig. Die Brillanz seiner Sprache und die funkelnden Sätze – er hielt die meisten seiner Vorlesungen frei – verstärkte unter nicht wenigen Kollegen das Urteil, hier wisse einer nicht, wovon er rede. Nüchterne Wissenschaft jedenfalls sei dies nicht. Unsystematisches und dunkel abgründiges, romantisches Denken wurde ihm attestiert, bloße Rhetorik nachgesagt. Dass Fragmente und Aphorismen systematisches Denken nicht ausschließen und dass die Sprache sich an den Gegenständen selbst zu bilden habe, sollte spätestens seit Nietzsche, Husserl und Benjamin selbst in philosophischen Zirkeln die Runde gemacht haben. Ganz verstummten jedoch jene Stimmen nie. Adorno selbst schrieb in seiner unabgeschlossen gebliebenen Ästhetischen Theorie: „Das Fragment ist der Eingriff des Todes ins Werk. Indem er es zerstört, nimmt er den Makel des Scheins von ihm.“

Adorno studierte in Frankfurt Philosophie, Soziologie, Psychologie und Musiktheorie. Parallel zu seinem Studium arbeitete er bereits als Musikkritiker für die Zeitschrift Neue Blätter für Kunst und Literatur. 1925 wurde er Kompositionsschüler bei Alban Berg in Wien, 1931 habilitierte er sich über Kierkegaard in Frankfurt. In den vierziger Jahren lebte er in Los Angeles, wo er in Zusammenarbeit mit Horkheimer und Eisler einige seiner gesellschaftskritischen und musikästhetischen Hauptwerke schrieb und maßgeblich an Forschungsprojekten zum „autoritären Charakter“ beteiligt war. Das Institut gab ab 1932 die Zeitschrift für Sozialforschung heraus, die in der Emigration von 1939 bis 1941 als Studies in Philosophy and Social Science erschien. Zu den Autoren der ersten Jahrgänge zählten Leo Löwenthal, Friedrich Pollock, Erich Fromm, Theodor W. Adorno, Walter Benjamin und Herbert Marcuse.

1956 wurde Adorno Ordinarius für Philosophie und Soziologie der Frankfurter Goethe-Universität. In den 60er Jahren erschien, neben anderen Werken, die Schrift Jargon der Eigentlichkeit – Zur deutschen Ideologie, eine Generalabrechnung mit der Philosophie Martin Heideggers. Adorno greift die „Ideologie als Sprache“ in Heideggers Werk an, er kommentiert den „maßlosen Widerspruch zwischen dem pathetischen Anspruch dieser Sätze und der Sprachgestalt, in der sie erscheinen.“ Der Gestus solcher Sprache suggeriere, dass unmittelbar aus den Worten die Phänomene selber sprächen. Der Philosoph sieht hier zudem eine Schnittstelle von esoterischer Philosophie und Kulturindustrie. Sich überschlagende und aufspreitzende Anpreisungen eines künstlerischen Produkts dienen heutzutage in der Musikindustrie der Stimulierung des Marktes, wie die „beste CD des Jahres“ oder „ein geniales Meisterwerk der Popkultur“.

Im April 1967 hielt Adorno auf Einladung des Verbandes „Sozialistischer Studenten Österreichs“ an der Wiener Universität einen Vortrag, der nicht allein von historischem Interesse ist, da er vor dem Hintergrund der Wahlerfolge der AfD und des Wachsens rechtsradikaler Bewegungen eine geradezu unheimliche Aktualität besitzt. Eine Lektüre der Rede erfordert es naturgemäß, durch den Kontext Bedingtes und Grundsätzliches zu differenzieren.

Adorno hielt seine Rede frei, er hatte lediglich sieben Seiten mit handschriftlichen Notizen und Stichworten vor sich. Die Transkription des Mitschnitts dieses Vortrags über „Aspekte des neuen Rechtsradikalismus“ liegt nun in einem Suhrkamp-Band vor. Vor dem Hintergrund des Aufstiegs der NPD, die bereits in den ersten beiden Jahren nach ihrer Gründung im November 1964 erstaunliche Wahlerfolge erzielte, analysiert er Zwecke, Mittel und Taktiken des neuen Rechtsradikalismus dieser Zeit, kontrastiert ihn mit dem „alten“ Nazi-Faschismus und fragt nach den Gründen für den Zuspruch, den rechtsextreme Bewegungen bei Teilen der Bevölkerung verbuchen konnten.

Zu Beginn erinnert Adorno an seinen Vortrag Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit von 1959, in dem es heißt, dass die gesellschaftlichen und sozialen Voraussetzungen für den Faschismus nach wie vor fortbestehen, marxistisch formuliert als „Konzentrationstendenz des Kapitals“, die jedoch nach der Schaffung von Demokratie und Rechtsstaat nicht mehr „unmittelbar politisch“ wirken. Die Leidtragenden von Monopolbildung und Arbeitslosigkeit lasten „die Schuld“ an ihrer eingetretenen Deklassierung nicht der „Apparatur“ an, die das bewirkt, sondern denen, „die dem System […] kritisch gegenübergestanden haben“. Die Konzentrationstendenz erzeugt zudem die „Möglichkeit der permanenten Deklassierung von Schichten, die ihrem subjektiven Klassenbewusstsein nach durchaus bürgerlich waren“. In diesem Kontext wird von Adorno die „technologische Arbeitslosigkeit“ angeführt. Es sei längst so weit, dass auch die „Menschen, die im Produktionsprozess drinstehen, sich bereits als potentiell überflüssig“, als „potentielle Arbeitslose“ fühlten.

Der strukturelle Widerspruch zwischen demokratischer Mitbestimmung und kapitalistischer Konzentrationstendenz, der im Zentrum seiner Analyse steht, wurde für Adorno auch nach 1945 nicht aufgelöst. „Die faschistischen Bewegungen könnte man in diesem Sinn als die Wundmale, als die Narben einer Demokratie bezeichnen, die ihrem eigenen Begriff eben doch bis heute noch nicht voll gerecht wird.“ Und diese Kontinuitäten erscheinen ihm als „Gespenst eines Gespensts“, und sie haben heutzutage zahlreiche unbelehrbare Wiedergänger.

In der nationalistischen und rassistischen Propaganda, mit der rechtsradikale Bewegungen „Massen einspannen“, erkennt Adorno ein zentrales Werkzeug, in dem rationale Mittel und irrationale Zwecke vermischt werden. Der Philosoph ist sich bewusst, dass der neue Rechtsradikalismus ein höchst reales und politisches Problem ist und nicht bloß ein psychologisches und ideologisches. „Aber das sachlich Falsche, Unwahre seiner eigenen Substanz zwingt ihn, mit ideologischen, das heißt in diesem Fall, mit propagandistischen Mitteln zu operieren. Und deshalb muss man ihm, abgesehen vom politischen Kampf mit rein politischen Mitteln, in seiner eigensten Domäne sich stellen.“ Dies heißt jedoch nicht, Lüge gegen Lüge zu setzen, genauso schlau und verdreht zu argumentieren, „sondern nun wirklich mit einer durchschlagenden Kraft der Vernunft, mit der wirklich unideologischen Wahrheit dem entgegenarbeiten.“

Adornos einprägender Vortrag will kein Traktat sein, sondern er versteht sich als eine Summe von Improvisationen, die zum eigenen Verstandesgebrauch anregen sollen. Oder wie Adorno es einmal formulierte: „Ich überlasse Ihnen das zum Weiterdenken.“

Drei Jahre vor seinem Tod erschien die Negative Dialektik und posthum erst die Fragment gebliebene Ästhetische Theorie. In Frankfurt wurde ihm von nicht wenigen seiner Studenten ein Denken im Elfenbeinturm vorgeworfen. In einem seiner letzten Aufsätze, der den Titel Resignation trägt, antwortet er auf diese Vorhaltungen: „Demgegenüber ist der kompromisslos Denkende, der weder sein Bewußtsein überschreibt noch zum Handeln sich terrorisieren lässt, in Wahrheit der, welcher nicht ablässt. … Das Glück, das im Auge des Denkenden aufgeht, ist das Glück der Menschheit.“

Titelbild

Theodor W. Adorno: Aspekte des neuen Rechtsradikalismus. Ein Vortrag.
Mit einem Nachwort von Volker Weiß.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.
80 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783518587379

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