Leerstellen der Angst

Thomas Stangl beschwört in „Die Geschichte des Körpers“ gespenstische Situationen herauf, die vielleicht eine Auflösung erhalten

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Abends gehen wir alle vors Haus und warten auf die Monster.“ So beginnt Thomas Stangls Erzählband. Die Stimmung wirkt zunächst gelassen, obwohl diffus bleibt, welche Monster erwartet werden. Ein Entrinnen scheint es nicht zu geben. Ist es Spiel oder gespenstischer Ernst, der die Menschen hier gefangen hält? Sind es Flüchtlinge? Oder Alpträume, die sich verdichten? Stangl lässt die Szene nicht eskalieren, vielmehr klingt sie aus, als ob alles einfach normal wäre. „Es ist so, dass. Dass wir hier sind. Dass wir hier alle wohnen müssen.“ Nur die gespannte, unterschwellige Angst lässt sich nicht vertreiben.

Vergleichbare Situationen ruft der Band Die Geschichte des Körpers wiederholt hervor. Die meist kurzen Erzählungen behaupten einen mysteriösen Kern, der sprachlich mit schnellen Strichen hingezeichnet und umspielt wird. Der Mensch erscheint als eine unerlöste Monade vor Bildschirmen. Kinder suchen ihre Eltern nachts vergeblich in deren Bett. Im leeren Zimmer hallt es dumpf von den Wänden. Ein von Erinnerungen übermalter Besuch, den ein alter Mann erhält, wirft die Frage auf, ob der Gast sein Wiedergänger sei. Anna aus der Monster-Erzählung taucht an einem See wieder auf, ohne Klarheit in das Nachmittagsbild zu bringen. „Man merkt natürlich immer erst im Nachhinein, dass es zu spät ist“, heißt es da trocken – zu spät wofür?

In vielen dieser Prosatexte herrscht ein Gemunkel und Geraune, das in schwebender Unklarheit lässt, was genau vor sich geht. Nur ein paar wiederkehrende Leitmotive schälen sich nach und nach heraus. Es ist mehrfach von „zurück kommen“ die Rede; leere Räume hallen durch den Band, in denen mitunter böse ein Spiegel blinkt; in sarkastischem Tonfall wird fürsorglich betreut; und allenthalben lauert die Angst, die womöglich auch von einer geradezu zombiehaften Entfremdung vom eigenen Körper herrührt. Was ist echt, was erträumt, was bloß noch ein Schatten seiner selbst? Unbenannt bleibt auch die mehrfach erwähnte Klammerbemerkung „Stimme des Autors“, die auf eine Metaebene hindeutet. Exakt diese Stimme, oder genauer: die jederzeit hochgradig präzise, nie schwammige, stets klare Diktion, die Stangls Erzähler anschlägt, verleiht dieser Prosa einen Resonanzboden und flößt den Lesenden von Beginn weg ein Vertrauen ein, das über die Rätselhaftigkeit hinweghilft. Es signalisiert: Genau so ist es, muss es sein, unverrückbar, auch wenn noch niemand den Durchblick hat.

Die Rätselhaftigkeit dieses Buches wird durch den eigenartigen Titel noch verstärkt. „Geschichten des Körpers“, oder „Eine (mögliche) Geschichte des Körpers“ wären jederzeit unauffällige Überschriften. Stangl schreibt aber dezidiert Die Geschichte des Körpers, als ob hierin alles Erdenkliche gesagt werden würde. Auch damit wird signalisiert, dass es nichts anderes gebe. Doch worin besteht das Vorliegende, und welcher Sinn steckt darin? Ist es die wahre Geschichte von wessen Körper? Das schmale Buch ist eine perfide Fragemaschine. Thomas Stangl ruft Traumbilder hervor und weckt Gefühle der Verlorenheit, die auch mit den Grenzen zwischen Leben und Tod verbunden sind. Eine ferne Vaterfigur taucht aus dem Nebel der Erinnerung auf. Es gibt auch spielerische Elemente wie die zweiteilige Geschichte der Neunziger Jahre, die im Kurzabriss Inhaltsangaben von TV-Serien aneinanderreiht und so ein Jahrzehnt in Erinnerung ruft.

Endlich – gegen Ende des Bandes – bringt die Erzählung Die Toten von Zimmer 105 (für die Stangl bereits ausgezeichnet worden ist) mit einem Schlag ein wenig Licht ins mysteriöse Dunkel und lichtet die Nebel zumindest etwas. Ein Ich, das den Zivildienst in einem Altenheim absolviert, erzählt anekdotisch „bis zu dem Punkt, wo die Geschichte zerbricht“. Er betreut unter anderem die Frauen im Zweibettzimmer 105, die kaum miteinander reden, sondern jede für sich ihre liebenswerten Marotten pflegen. Als die eine von ihnen stirbt, zeigt sich, dass die beiden sich doch sehr genau wahrgenommen haben. Das frei gewordene Bett bekommt eine Frau Petters, die bald darauf ihre Lebenskraft verliert. Mit einer Hand hält sie sich am Pfleger fest und fleht ihn an, sie nicht zu verlassen. Dennoch tut er es für einen kurzen Moment, um Hilfe zu holen – zu lange für Frau Petters. Der Moment der Angst und der Leere bringt sie um. Mit Folgen für den Erzähler: „Es ist Zeit, mit dem bequemen Erzählen aufzuhören und die Perspektive umzudrehen. Die Konzentration zu suchen, die ich erahne“ – und in die Haut von Frau Petters zu schlüpfen, beispielsweise. In der nachfolgenden Erzählung Die Geschichte meines Körpers erhält die schwebende Unerlöstheit für die „Stimme des Autors“ eine konkrete Dringlichkeit: den Unfalltod des Bruders. Das Kind, der See, die Angst, der Tod: all das Schwebende der ersten Texte findet hier zusammen, noch immer nicht schlüssig erklärbar – nun aber frei gestellt und von der Erklärbarkeit erlöst.

Ganz zuletzt setzt Thomas Stangl im Epilog 2 noch einen ästhetischen Akzent. Er schreibt über Lepanto, eine zwölfteilige Bilderreihe von Cy Twombly im Museum Brandhorst in München. Der Zyklus zeigt – mit Bezug auf die legendäre und vielfach gemalte Seeschlacht von Lepanto – Bilder von explosiver Expressivität, in denen nur noch das Explodieren, der Rauch der Geschütze und das spritzende Blut zu sehen sind, ganz und gar abstrakt und immateriell. Zwischen diesem Bilderzyklus und Stangls Prosa lässt sich eine ästhetische Verwandtschaft der Reduktion aufs Minimale, doch Wesentliche erkennen. 

Die Geschichte des Körpers ist ein meisterhafter Prosaband, der detailgetreu und hochaufgelöst, zugleich unaufgelöst und unerlöst einen Kern des menschlichen Erlebens zu fassen versucht. Auch wenn die letzten Texte einigen Aufschluss geben, bleibt das Geheimnis gewahrt. Es beschäftigt die Fantasie über die Lektüre hinaus und bleibt in kondensierten Szenen im Gedächtnis haften. Einmal mehr wird Thomas Stangl seinem Ruf als ein Autor gerecht, der sich immer wieder dem Radar des literarischen Spektakels entzieht und im Schatten der Aufregung eine subtil vertrackte, stilistisch avancierte und zugleich berührend schöne Prosa schreibt. Der verheißungsvolle Klappentext war noch nie die Stärke seiner Bücher; sie beginnen immer erst auf Seite 7, danach aber gibt es kein Entrinnen mehr.

Titelbild

Thomas Stangl: Die Geschichte des Körpers. Erzählungen.
Literaturverlag Droschl, Graz 2019.
128 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783990590379

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch