Im Zweifel für die Kannibalen

Alexander Pechmann feiert Herman Melvilles 200. Geburtstag mit einer Neuübersetzung des zivilisationskritischen Romans „Typee“

Von Misia Sophia DomsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Misia Sophia Doms

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In seinem Roman Mardi and A Voyage Thither gibt Herman Melville Europa und Nordamerika dem kritischen Blick eines Südsee-Philosophen preis, indem er beide Landmassen kurzerhand zu exotischen Miniatur-Inseln schrumpft, die sich bequem mit dem Kanu bereisen lassen. In seinem Erstlingswerk Typee bedient er sich einer anderen Strategie zur Kritik an Europa und Nordamerika: Er stellt seinen Tadel an diesen beiden Erdteilen kurzerhand auf die Füße eigener biografischer Erfahrungen in der Südsee. Im französisch besetzten Hafen von Nuku Hiva, einer der polynesischen Marquesas, ergreifen Melville und sein Kollege Tobias Greene 1842 die Gelegenheit, aus ihren verhassten Frondiensten auf dem Walfänger Acushnet zu entkommen. Nach der Flucht in die Wildnis gelangen die beiden ins Tal Taipivai, das in Melvilles Werk als Typee-Tal bezeichnet wird. Dort werden sie von der indigenen Bevölkerung, die des konsequenten Kannibalismus bezichtigt und folgerichtig allseits gefürchtet wird, festgesetzt. Greene kann das Tal nach einigen Tagen verlassen, Melville hingegen bleibt etwa einen Monat lang unter den Taipi zurück, die ihm aber bezeichnenderweise kein Haar krümmen.

Die Bilanz aus dieser Zeit, Typee, erscheint 1846 in New York mit dem Untertitel Narrative of a Four Months’ [!] Residence among the Natives of a Valley of the Marquesas Islands; or, A Peep at Polynesian Life. Schon die drastisch verlängerte Aufenthaltsdauer bei den Taipi, die Melville hier für sich beansprucht, weist auf den hohen Fiktionalisierungsgrad des Werks hin, das mithin besser als Roman denn als autobiografischer Bericht gelesen werden sollte. Wie Alexander Pechmann, der Übersetzer und Herausgeber der hier besprochenen Ausgabe, in seinem Nachwort andeutet, stützt sich Melville bei der Schilderung der Bräuche, Glaubensüberzeugungen, Handwerke und Gepflogenheiten der Taipi auch auf ältere Südsee-Reiseberichte und andere in fremden Gewässern angesiedelte Werke, wie etwa Daniel Defoes Roman Robinson Crusoe von 1719. Ein Rekurs auf den Gründungstext der Robinsonade lässt sich insbesondere dort ausmachen, wo berichtet wird, wie die vom Walfänger geflohenen Kameraden in der Wildnis eine menschliche Fußspur entdecken und sich nun ängstlich fragen müssen, ob sie von den Kannibalen des Taipivai-Tales stammt. Aber Melvilles Werk bedient sich nicht nur früherer literarischer, autobiografischer und wissenschaftlicher Werke, es wird alsbald auch selbst zur direkten oder indirekten Inspirationsquelle anderer Autoren, wie etwa Robert Louis Stevenson und Jack London.

Das Leben im Taipi-Tal erscheint in Typee als klischeehafter Inbegriff einer paradiesischen Südseeexistenz: Dank der üppigen Natur, die genügend Nahrung bereitstellt, ist es den Einwohnern vergönnt, in prälapsarischer Weise ohne größere Mühe von der Hand in den Mund zu leben. Die Frauen sind überirdisch schön, es gibt so gut wie keine Krankheiten, man stirbt alt und lebenssatt. Luxusgüter und Konflikte um Eigentum sind ebenso unbekannt wie Armut oder soziale Konflikte. Das Zusammenleben der Taipi, die als arglos-kindlich und moralisch unverdorben geschildert werden, steht nicht im Zeichen einer politische Bevormundung oder Unterdrückung, denn im Grundsatz wird das soziale Miteinander durch das Tabu geregelt, das zwar für den außenstehenden Beobachter undurchschaubar ist, aber für die Lebensqualität der indigenen Bevölkerung kaum Nachteile zu haben scheint. Religiös motivierte Askese ist im Tal unbekannt, der Kult der Taipi gebietet dem Volk, im Gegenteil, das regelmäßige Feiern ausgelassener Feste. Der Glaube an ein angenehmes Jenseits macht den Tod erträglich, doch wird der postmortalen Existenz im glückhaften Diesseits kaum eine größere Bedeutung beigemessen. Als Wermutstropfen dieses unbeschwerten Lebens sind allenfalls die wiederholten Fehden mit den Nachbarstämmen zu werten, mit denen die Taipi verfeindet sind. Doch geben diese dem männlichen Nachwuchs zugleich die Gelegenheit, seinen Mut unter Beweis zu stellen.

Die Beschreibung eines solchen Idylls hätte einen allzu süßen Beigeschmack, wäre die literarische Speise, die Melville uns vorsetzt, nicht durch eine spöttische Grundhaltung gewürzt, die sich oft bis zur beißenden Schärfe steigert. Zielscheibe des Spotts wird dabei zunächst das Inselleben selbst: Genussvoll und mit dem Pinsel des klarsichtigen Karikaturisten werden wiederholt die charakterlichen Schwächen der Einwohner von Taipivai, ja von ganz Nuku Hiva, skizziert: So erfahren wir etwa, dass die jungen Mädchen sich ausgesprochen freizügig gebärden, die Frauen vielfach mit mehreren Männern in einer alles andere als unauflöslichen Ehe zusammenleben und die BewohnerInnen der Insel weit davon entfernt sind, sich als Aushängeschilder einer puritanischen Arbeitsmoral zu erweisen. Ihre Vorliebe für Tätowierungen auf allen Körperteilen, besonders auf dem Gesicht, wird als Mangel an ästhetischem Empfinden bewertet und der ortsübliche Polytheismus sowie die zahlreichen Tabus der Taipi erscheinen dem Erzähler-Ich, einer in ihren Erfahrungen und Urteilen als alter ego des Autors fungierenden Instanz, vielfach reichlich ungereimt. Erst recht wird der Kannibalismus der Einwohner Nuku Hivas wiederholt aufs Korn genommen und als eine zutiefst abstoßende und beunruhigende Verhaltensweise charakterisiert.

Jeder Schwäche allerdings, die der Erzähler dem Volk der Taipi zuschreibt, stellt er einen ungleich größeren Makel derjenigen Völker gegenüber, die sich in der zeitgenössischen Gegenwart die Kolonialisierung der Südsee auf die Fahnen geschrieben haben. So betont der Erzähler etwa ausdrücklich, dass die auf den Marquesas etablierte Vielehe, bei der die Frauen offiziell mehrere Männer erwählen dürften, sich bei all ihrer moralischen Fragwürdigkeit friedlich und stabil gestalte, dass es fast nie zu Ehebrüchen komme und im Fall des Falles eine formlose und unkomplizierte Ehescheidung möglich sei. Die europäisch-nordamerikanische Monogamie habe hingegen heimliche Ehebrüche und schmerzhafte Scheidungskriege zu ihrer Kehrseite. Auch die Feststellung, dass aus den Ehen der Taipis fast nie mehr als zwei Kinder hervorgingen, während in der europäisch-amerikanischen Welt eine Mutter oft so viele Kinder wie Orgelpfeifen um sich habe, lässt sich als Kritik an der zivilisierten Lebensweise Europas und der Vereinigten Staaten verstehen: Wenn der Erzähler betont, dass man die geringe Zahl der Nachkommen bei den Taipi angesichts der beschränkten Nahrungsressourcen ihres Lebensraums als Segen betrachten müsse, so insinuiert er damit, dass nicht zuletzt das Fehlen einer wirkungsvollen Familienplanung weite Bevölkerungskreise in den „zivilisierten“ Ländern in Armut versetze.

Der Missionseifer der christlichen Völker im polynesischen Raum wird im Roman ganz unverhohlen kritisiert: Der Vorwurf des Erzählers lautet, dass zusammen mit dem Christentum alle zivilisatorischen Grundübel wie verschiedene Krankheiten und Laster in die Südsee gebracht und die dank guter Nahrungsversorgung überhaupt nicht an harte Arbeit gewöhnten Männer und Frauen skrupellos zu Arbeitstieren versklavt würden. Der Missionseifer wird in der Logik einer solchen Darstellung zum Feigenblatt einer letztlich inhumanen und unchristlichen Vorgehensweise.

Vor dem Hintergrund des von zivilisierten Völkern in der Südsee verübten Zerstörungswerks gewinnt Melvilles Text selbst dem Kannibalismus der Taipi noch eine gute Seite ab: Der Erzähler insinuiert, dass nur ihr schlimmer Ruf als Kannibalen die Einwohner von Taipivai zum Zeitpunkt von Melvilles Reise vorübergehend noch vor der Kolonialisierung bewahrt habe. Der überirdisch schöne Hafen von Nuku Hiva, der nach seiner Darstellung von einem besser beleumundeten Stamm bewohnt wird, befindet sich im Roman schon am Abgrund – er ist von französischen Kriegsschiffen besetzt, welche sich dort ohne größeren Widerstand Zutritt verschafft haben. Die technisch überlegenen Eroberer sind dabei bereits im Begriff, in dieses Paradies all jene Missstände einzuschleppen, welche zuvor auch die Bevölkerung von Hawaii korrumpiert haben. Allein der Lebensraum der Taipi steht – aufgrund der ihnen unterstellten Gefährlichkeit – einstweilen noch nicht unter europäischer Fremdherrschaft: Nach der Darstellung des Erzählers sind die französischen Krieger trotz ihrer militärischen Überlegungen schlicht zu feige, sich diesen „Menschenfressern“ zu nähern.

Als Manifest gegen den westlichen Imperialismus im Umgang mit den Polynesiern vermag der Roman auch seine heutigen LeserInnen zu überzeugen. Zu den weiteren Stärken des Textes gehört es, dass, ungeachtet der oben erwähnten Topoi, all jene Taipi, mit denen Melvilles alter ego näheren Umgang pflegt, in ausgesprochen wertschätzender Weise beschrieben werden: Sie erscheinen nicht als stereotype „Wilde“, sondern als achtbare, ja vielfach beeindruckende Individuen voller Lebensklugheit, Redlichkeit und Güte – kleine Ideosynkrasien und Schwächen lassen ihre Stärken dabei noch prononcierter und glaubwürdiger erscheinen.

Die Übersetzung durch Alexander Pechmann tut alles dafür, Melvilles heute wenig beachtetes Debüt bei den RezipientInnen des 21. Jahrhunderts aufzuwerten. Zunächst zeichnet sich die Neuerscheinung, die in Form eines ansprechend-schlichten Leinenbandes im Schuber angeboten wird, durch eine hervorragende Lesbarkeit aus. Melvilles oft eigenwilliges, passagenweise von nautischem Vokabular durchzogenes amerikanisches Englisch in ein flüssiges und zugleich der Vorlage gerecht werdendes Deutsch zu bringen und dabei zudem ästhetisch-literarischen Genuss zu bieten, verlangt einem Übersetzer einiges ab. Pechmann hat diese Aufgabe bravourös gemeistert. Hilfreich zum Verständnis des Werks sind neben den sparsam, aber überzeugend eingesetzten kommentierenden Fußnoten des Übersetzers auch die weiteren para- und metatextuellen Beigaben zum Werk: eine Karte der Inselwelt Polynesiens und, in größerem Maßstab, eine Karte der Marquesas, das oben erwähnte Nachwort Pechmanns, ein Glossar nautischer Fachbegriffe und eine tabellarische Biografie Melvilles.

In seinem Nachwort skizziert Pechmann unter anderem auch die Widerstände, denen das Werk vor, während und nach seinem fast zeitgleichen Erscheinen in britischen und amerikanischen Verlagen ausgesetzt war. Im Veröffentlichungsprozess musste er den jeweils unterschiedlichen Verlegerwünschen entgegenkommen und sich letztlich auch dem Wunsch des amerikanischen Verlags nach Auslassungen besonders provokanter Passagen beugen. Und in der weiteren Folge sah er sich unter anderem Zweifeln hinsichtlich der Authentizität der beschriebenen Erfahrungen ausgesetzt und mit verschiedenen Vorwürfen konfrontiert. Die Letzteren zielten insbesondere auf Melvilles wenig schmeichelhafte Einschätzung der Südsee-Mission sowie allgemein auf seine kritische Schilderung der Rolle, welche die imperialistischen Europäer in dieser Weltgegend spielten.

Besonders reizvoll an der vorliegenden Ausgabe erscheint, dass der Herausgeber und Übersetzer Pechmann sich erstmals an einer Synopse der amerikanischen Erstausgabe mit einem erhaltenen Fragment der Urfassung des Romans versucht. Durch die editorische Zusammenschau wird deutlich, zu welch drastischen selbstzensierenden Eingriffen in sein Werk der Autor im Prozess der Publikation bereit war. Um seine polynesischen Erfahrungen und seine Kritik am Umgang mit den Südseevölkern überhaupt ans Licht der Öffentlichkeit bringen zu können, verzichtete er, sicherlich schweren Herzens, auf so manche scharfsinnige Textpassage. Doch Melville sollte noch Gelegenheit zur Genugtuung finden: Denn – und hier schließt sich der Kreis zum Beginn dieser Rezension – durch die Veröffentlichung seines Erstlingswerks Typee legte er den Grundstein für seine weitere schriftstellerische Laufbahn, in deren Zuge europäische und nordamerikanische LeserInnen noch einiges an Kritik von ihm zu hören bekommen sollten.

Titelbild

Herman Melville: Typee.
Neu übersetzt aus dem Amerikanischen und herausgegeben von Alexander Pechmann.
Mare Verlag, Hamburg 2019.
447 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783866486140

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