Der etwas andere Max Weber

Eine kleine Auswahl seiner Reisebriefe und ein letzter Band seiner Briefe sind erschienen

Von Dirk KaeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Kaesler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Notwendige Vorbemerkung

Für die an dieser Stelle seit 2006 laufende Berichterstattung über die Max Weber-Gesamtausgabe (MWG) (zuletzt https://literaturkritik.de/id/26096) und einige ausgewählte Arbeiten aus der Max Weber-Forschung wird gerade diese Rezension keine unbefangene sein können. Denn an einem der beiden neuen Bücher, um die es hier geht,  hatte der Rezensent selbst ab Herbst 2014 zu schreiben begonnen. Ich war schon ziemlich weit gekommen, bevor ich am 31. Januar 2017 notgedrungen damit aufhören musste. Das betrifft die Reisebriefe Max Webers.

Einige Reisebriefe Max Webers

Max Weber reiste viel und gern, sein ganzes Leben lang. Bereits als vierjähriges Kind wurde er auf Reisen mitgenommen. Nicht nur er, alle Familienmitglieder reisten viel und lange. Man blieb teilweise wochenlang am Zielort, zuweilen sogar monatelang. Es war nicht die Zeit der Kurzreisen nach London, Paris oder Rom, von einem Shopping-Wochenende in Manhattan ganz zu schweigen. Und so kam es, dass Weber sogar während seiner Erholungsreisen und seiner Familienbesuche wissenschaftlich arbeitete, wenn seine Kräfte es zuließen. Auch an fernen Orten schrieb er an seinen aktuellen wissenschaftlichen Vorhaben und erledigte eine große Menge der Korrespondenzen im Rahmen seiner diversen Herausgeberschaften.

Max Weber unternahm jedoch auch reine Urlaubsreisen, die seiner grundsätzlichen Entdeckungsfreude und Reiselust oder der seiner Mitreisenden – vor allem also seiner Mutter und seiner Ehefrau – entsprangen. Zudem begab er sich häufig auf Kur-Reisen, worunter seine zahlreichen Sanatoriums-Aufenthalte fallen. Dazu kamen mehrfache Reisen im Zusammenhang seiner militärischen Verwendung, zahlreiche Reisen im wissenschaftlich-politischen Zusammenhang und die zahllosen Besuche bei den diversen Verwandten.

In meiner Biographie Max Webers habe ich besonders ausführlich seine zahlreichen Reisen nach Italien und die monatelange Reise durch die USA im Jahr 1904 behandelt und dabei zu verdeutlichen versucht, welche anhaltenden Auswirkungen gerade diese beiden Reiseziele nicht nur auf den Menschen Max Weber, sondern auch auf sein wissenschaftliches Werk hatten. Wir wissen es von Marianne Weber, wie intensiv ihr Mann auf seinen Reisen alle Sinneseindrücke in sich aufnahm und meistens zugleich analytisch ordnete: „Nur im Reisen und Schauen entspannt er sich völlig. Dann wird er ganz jung und öffnet sich aller Erdenschönheit. Er kann dann gar nicht genug Welt in sich schlingen. An keinem Ort hält es ihn länger als höchstens 3 Tage. Was immer er sieht und erfährt, bemalt das schon vorhandene Wissen mit Farbe und Gestalt.“

Diese Reisebriefe Max Webers  sind auch deshalb ganz besonders lesenswert, weil sich der spröde Paragraphenkonstrukteur wissenschaftlicher Arbeiten in ihnen als ein literarischer Meister der Beobachtung und Analyse erweist. Man erkennt, mit welch genauer und streckenweise geradezu poetischer Darstellungsgabe dieser Gelehrte ausgestattet war, wenn er fremde Landschaften, Städte und ihre Bewohner schildert. Vom Witz und Spott seiner Reportagen ganz zu schweigen. Man lernt einen ganz anderen Weber kennen, als den, dessen Stimme man aus seinen wissenschaftlichen oder seinen politischen Arbeiten kennt. Das auch heute noch so Faszinierende an diesen Briefen ist die lebendige Unmittelbarkeit. Es ist, als wenn man mit dem Reisenden am Ende eines Tages zusammensitzt und er von seinen Eindrücken sprudelt, wie er es seiner Mutter erklärte, die offensichtlich befürchtete, die langen Briefe an sie seien ein „Opfer“ für den reisenden Sohn: „es ist die bequemste Zeitausfüllung nach dem Abendessen sich in geschwätziger Breite über das Erlebte zu ergehen, das Einem selbst dabei noch einmal deutlich wird.“

Für mein eigenes Vorhaben standen auf der Liste der Reisebriefe für die Jahre 1895 bis 1897 Webers Reisen nach Schottland, Irland, Südfrankreich und ins Baskenland, für die Jahre 1903/04 sollten es die Fahrten in die Niederlande, nach Belgien und in die USA sein, 1907 waren  die Niederlande, Frankreich und Italien die bereisten Länder, 1910 Italien und Belgien, 1911 Schweiz, Frankreich, 1913/14 die Schweiz, 1915 Belgien und Österreich, 1918 Österreich und Frankreich.

Die Idee für mein Vorhaben war es gewesen, sämtliche Reisebriefe zu versammeln, gereinigt von unnötigen Trivialitäten und ohne Erläuterungen der früheren Herausgeber in der MWG. Erst in einem sehr ausführlichen Nachwort wollte ich im Detail zeigen, dass diese teilweise sehr ausführlichen Reiseberichte keineswegs nur zur Unterhaltung der Charlottenburger Familienangehörigen gedacht gewesen waren, sondern dass sie zugleich auch das Material lieferten, aus denen Weber in seinen wissenschaftlichen Arbeiten zehrte. Auch deswegen forderte er sie großenteils von den Adressaten wieder zurück. Es war noch die Zeit der handschriftlichen Korrespondenz, häufig auf dem Briefpapier der jeweiligen Hotels.

Nachdem ich mich mit Hilfe meines damaligen Agenten im Dezember 2016 für einen der an dem Projekt interessierten Verlage entschieden hatte, dessen Inhaber eine ganz besonders engagierte Aufgeschlossenheit für die von mir geplante äußere Gestaltung teilte, stellte sich uns vor allem eine Frage: Die gedruckte Fassung aller dieser Briefe ist in den einschlägigen Bänden der MWG enthalten, sie sind dort größtenteils erstmalig publiziert. Der Tübinger Verlag Mohr-Siebeck hält die Rechte an den Bänden der MWG. Die Recherchen zur Frage, wie der Schutz von Texten aus wissenschaftlichen Ausgaben aussieht, ergaben ein uneindeutiges Bild. Zum einen ist zu lesen, dass nach § 70 UrhG Texte, die das „Ergebnis wissenschaftlich sichtender Tätigkeit“ darstellen, bis 25 Jahre nach dem Erscheinen der Ausgabe geschützt sind, das würde also z.B. heißen, dass die Briefe aus Band II/3, der 2015 veröffentlicht wurde, erst im Jahr 2040 „frei wären“. Zum anderen gibt es eine Diskussion darüber, ob das nicht ein Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit und eine „Re-Monopolisierung gemeinfreier Inhalte“ sei. Immerhin: Weber starb 1920, seine Arbeiten sind dementsprechend seit 1990 „frei“, was ja auch die Grundlage für die von mir betreute Ausgabe der Protestantischen Ethik gewesen war. Natürlich hätte auch ich nach München fahren können, um die Originale in der Bayerischen Staatsbibliothek anzusehen und zu transkribieren. Das zu veröffentlichen wäre gemeinfrei, aber so viel Zeit wollte ich dann doch nicht aufwenden. Diese Arbeiten waren ja bereits getan, finanziert zum allergrößten Teil aus Steuerzahlers Geld!

Wie dem auch sei, es begann eine längere Korrespondenz zwischen meinem Verleger und einem der Geschäftsführer von Mohr-Siebeck. „Grünes Licht“ wurde signalisiert, wenn auch verbunden mit dem Bedauern, warum ich dieses Vorhaben nicht bei ihnen machen wolle. Viele Monate später, in denen ich mit Hochdruck und großer Freude an dem Vorhaben weiterschrieb, kam am 31. Januar 2017 die Nachricht meines Verlegers, dass Mohr-Siebeck von dieser ursprünglichen Zustimmung „abgerückt“ sei und man es lieber im Tübinger Verlag selbst machen wolle. Mein Verleger wollte keinen Streit. Wenn man es gutwillig sehen möchte, hatten mehrere Menschen dieselbe Idee für dieses Buch, mehr oder weniger gleichzeitig.

Betrübt, aber nicht niedergeschlagen begrub ich das Vorhaben. Wir Wissenschaftler haben genügend andere Projekte in petto. Ein Jahr später wurde das Erscheinen eines Bandes über Max Webers Reisebriefe angekündigt, herausgegeben von zwei ausgewiesenen Weber-Forscherinnen: Edith Hanke, Generalredaktorin der MWG in München, zusammen mit Rita Aldenhoff-Hübinger, Historikerin an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder.

Dieser Vorspann scheint mir notwendig zu sein, um nachvollziehen zu können, mit welchen Erwartungen ich das Bändchen von 241 Druckseiten erstmals in die Hand nahm. „Das können unmöglich alle sein, die ich aufnehmen wollte“, dachte ich bei mir. Mein Verleger und ich waren auf einen sehr viel umfangreicheren Band bei der Kalkulation gekommen. Was also bekommt die Leserschaft in die Hand, die die Reisebriefe Max Webers in dieser Auswahlsammlung liest und nicht bereits aus den nun insgesamt elf Briefbänden der MWG kennt?

Dieses erste Büchlein aus der angekündigten Reihe „Ausgewählte Briefe“ mit dem Titel Reisebriefe enthält etwas mehr als siebzig Briefe und Karten, die Max Weber auf seinen zahlreichen Reisen innerhalb Europas und in Nordamerika geschrieben hat. Der Band setzt mit Webers „Jugendbriefen“ ein, denn schon als Kind und Jugendlicher reportierte der Charlottenburger Bürgersohn ausführlich und anschaulich seine Reiseerfahrungen, zumeist an die Mutter adressiert. Diese Adresse darf nicht darüber täuschen, dass in diesem Milieu solche Briefe dann im größeren Kreis der diversen Familiensysteme zirkulierten: es war eben die Zeit vor E-Mails an mehrere Adressaten. Auch über die ausgedehnten, mit Marianne Weber unternommenen Reisen nach Schottland und Irland 1895, Frankreich und Spanien 1897 und die berühmte Reise quer durch die Vereinigten Staaten 1904 erhielt zwar Helene Weber eingehende Berichte, die jedoch anschließend an die Verwandten in Heidelberg und Straßburg weitergeleitet wurden. Es sind spannend zu lesende Momentaufnahmen mit dem Blick auf Sozialstrukturen in Schottland und Irland, auf den Erzabbau und die Bedeutung der Jesuiten im Baskenland oder auf die amerikanischen Kirchen und Sekten, die US-amerikanische Frauenbewegung und das US-amerikanische Hochschulleben. Die heutige Leserschaft steht neben Max Weber bei seinen mehrfachen Besuchen des Rijksmuseums in Amsterdam und wir beobachten mit ihm gemeinsam das Treiben auf den Straßen Italiens. Der Band endet im April 1914 mit Webers Aufenthalt in Ascona, wenige Monate vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs.

Eingeleitet wird diese Auswahl der Reisebriefe durch einen Essay des deutsch-französischen Soziologen Hinnerk Bruhns – ein ausgewiesener Weber-Forscher (siehe https://literaturkritik.de/id/20910). Auch er betont, wie sehr selektiv die beiden Herausgeberinnen den großen Schatz aller einschlägigen Briefe und Postkarten aussortiert haben: Es ist die Konzentration auf die drei großen „Entdeckungsreisen“, die die Auswahl bestimmt hat. Schottland/Irland 1895, Südfrankreich/Nordspanien 1897, USA 1904.

Nur schwer nachvollziehbar sind die Relativierungen von Bruhns zu den ganz unverblümt rassistischen Ausführungen Webers über Menschen, denen er auf seinen Reisen begegnete: „schauderhaftes, rohes, ungebildetes, widerlich ‚pfäffisch‘ anmutendes Gesindel“ (der irische Klerus), die „stierdämlichen Postonkel“ in Irland, die „Postschweinebande“ in Spanien, „die Halbaffen, die man in den Plantagen und Negerhütten des Cotton Belt“ sieht. Nein, das kann man nicht „vorschnell rassistisch“ nennen. Das ist rassistisch und war es auch in den Jahren 1877 bis 1914!

Der ganze arrogante Hochmut der dünkelhaften Charlottenburger „Kulturmenschen“ schlägt sich in vielen der Weberschen Briefe nieder, die natürlich nie für den Abdruck in seriös anmutenden Büchern im Jahr der hundertsten Wiederkehr des Todes Max Webers gedacht waren. Man kann mit Sicherheit annehmen, dass Weber darüber entsetzt wäre, wie schon früher über den Abdruck seiner Liebesbriefe an Mina Tobler und Else Jaffé.

Ein biografisches Personenregister erschließt die Briefe, die gegenüber der zugrundeliegenden MWG „vereinfacht“ zum Abdruck gelangen, d.h. ohne die Anmerkungen. Angekündigt wird ein weiterer Band mit dem Titel Gelehrtenbriefe.

Selbst wenn ich von meinen eigenen ursprünglichen Absichten mit diesem Material zu abstrahieren versuche, kann ich meine Ent-Täuschung nicht verhehlen. Was hätte man aus diesem Stoff machen können! Von den beiden Herausgeberinnen gibt es keinen eigenen Text, außer ein einseitiges „Vorwort“, in dem sie angeben, was ihr eigenes Bestreben war. Sie wollten die „anschaulichsten und charakteristischsten Briefe Max Webers“ aus den insgesamt 3.500 Briefen auswählen, um das „Markante, das Weber-Typische, seinen ‚besonderten‘ [sic!] Blick auf die ihn umgebende Welt zu zeigen.“ Das kann man natürlich machen, muss sich dann aber auch fragen lassen, warum man so vieles ausgelassen hat. Wegen meiner eindeutigen Befangenheit in dieser Sache belasse ich es jedoch bei dieser grundsätzlichen Bemerkung. Nicht anschließen kann ich mich jedenfalls der Einschätzung der Rezension des Konstanzer Literaturwissenschaftlers Bernd Stiegler am 30.1.2020 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der den Band als „eine gut edierte Auswahl“ preist.

Nicht unterdrücken möchte ich zudem meine Verwunderung darüber, dass ich der vom Lektorat des Verlags C.H.Beck für meine Weber-Biographie erstellten Amerika-Karte der Reiseroute des Ehepaars Weber druckidentisch in dieser Auswahl wiederbegegnete: ein Hinweis auf die Quelle oder ein kleiner Dank hätte mich – und meinen Verlag – gefreut! Das Bemerkenswerte dabei ist zudem, dass die Unterschrift zu dieser Grafik geändert wurde: Wo bei mir „Die Reiseroute der Webers durch die USA“ stand, steht nun in dieser Ausgabe „Amerika-Karte mit der Reiseroute Max Webers.“

Diese Änderung ist nicht ohne (beabsichtigte?) Ironie: Die beiden Herausgeberinnen verzichteten systematisch darauf, jene „Rundreisebriefe“ aufzunehmen, die Marianne Weber von diesen Reisen nach Hause schrieb. Wie sinnlos diese Entscheidung ist, kann eine arglose Leserschaft nur dann wirklich erkennen, wenn sie die Fassungen aus dem einschlägigen Band II/4 der MWG danebenlegt. Am 21. August 1904 begann Marianne Weber mit dem Bericht über diese Amerikareise mit einem Brief an die Schwiegermutter in Charlottenburg: „Liebste Mama! Nun schwimmen wir schon über 24 Stunden auf dem Wasser. Es ist köstlich heute: warme Sonne, Bläue, u. ganz ruhige See, man fährt so still wie auf einem Teiche, jetzt vis à vis der englischen Küste.“ Und dann berichtet sie ausführlich in der ihr so eigenen blumigen Sprache von den Erlebnissen an Bord der „Bremen“ mit ihren beiden Begleitern, Max Weber und Ernst Troeltsch: „der Damenflor ist zwar nicht first rate u. Toilette wird nicht gemacht.“

Es sind ganz eindeutig Berichte, die im Namen eines „Wir“ geschrieben wurden, auch wenn „Janne“ als Unterschrift steht. Erst beim dritten dieser ausführlichen und informativen Briefe finden wir eine Ergänzung Max Webers. Marianne Weber hatte davor geschrieben, dass ihr Mann am „eindeutigsten begeistert“ von den ersten amerikanischen Eindrücken ist, im Vergleich zu ihr selbst, was ihn ganz offensichtlich zur Korrektur motivierte: „N.B! Von besonderer Begeisterung ist bei mir nicht die Rede, ich ärgere mich nur über die deutschen Mitreisenden, die nach 1 ½ Tagen New York über Amerika stöhnen.“ Der  Band fängt das Kapitel „Amerika 1904“ jedoch mit diesem Satz an, so dass die Leserschaft dieser Sammlung nichts über die vorangegangenen Stationen und Erlebnisse wissen kann. Und sie erfährt nichts, was mit der Feder von Marianne Weber geschrieben wurde, wie beispielsweise über deren Besuch der „Women’s Trade Union League“ am 11. September 1904. Wenn die männlichen Herausgeber alle Briefe von Marianne Weber aus der MWG genommen hätten, hätte es gewiss einen Aufschrei gegeben. In diesem Auswahlband jedoch tragen zwei Kolleginnen auf ihre Weise dazu bei, dass erneut die Stimme Marianne Webers verstummt. Dabei ist gerade ihre Stimme zur Vervollständigung der Reiseeindrücke unverzichtbar, wenn man allein an ihre Berichte über die diversen Haushalte und die Rolle der Frauen denkt: „Für Leute unsres Standes u. unsres Portemonnaies ist das Leben überhaupt weit härter als bei uns, namentlich für die Frauen. Sie müssen alle Hausarbeit thun u. dann abends in eleganten Kleidern die lady spielen.“ (St. Louis, 27. September 1904)

Angemerkt sei zudem der Hinweis, dass es hilfreich gewesen wäre, bei den Drucknachweisen wenigstens noch den jeweiligen Ort anzugeben: Wer weiß denn schon, wo der 13jährige Max Weber am 20. Juli 1887 war? Er war im Harz und stieg, zusammen mit seinem Vater und seinem Bruder Alfred, von Wernigerode auf den Brocken. Überhaupt wäre ein Ortsverzeichnis sehr hilfreich gewesen, um beispielsweise die atemberaubende Reportage der Berliner Kulturprotestanten aus Lourdes auf Anhieb zu finden (September 1897, Seite 67 bis 73). Und anstatt der lieblosen schwarz-weißen Reproduktion der (viel zu wenigen) Postkarten wäre die Wiedergabe der farbigen Originale schon sehr erfreulich gewesen. Für mein eigenes Vorhaben hatte ich bereits ausgehandelt, dass wir neben den damaligen Unterlagen aktuelle Farbbilder der heutigen Zustände aufnehmen wollten: viele der Häuser, Straßen, Hotels und Restaurants, die Weber allein oder in Begleitung besuchte, existieren heute noch!

Trotz solcher Einwände lege ich dieses Bändchen allen mit Nachdruck ans Herz, die einen ganz anderen Max Weber kennenlernen möchten. In den zu erwartenden Festvorträgen im Jahr 2020 wird er als Verfasser dieser sehr lebhaften, informativen, unterhaltsamen, lustigen und ärgerlichen Briefe wohl wenig zum Vorschein kommen.

Die Sammlung der Briefe Max Webers ist (fast) abgeschlossen

Als Herausgeberinnen begegnen uns Rita Aldenhoff-Hübinger und Edith Hanke auch bei dem Band II/11 der MWG. Mit ihm wird nun (vermutlich) endgültig die Sammlung der Briefe Max Webers der Jahre 1875 (des 11jährigen Gymnasiasten) bis zu dessen Todesjahr 1920 abgeschlossen sein.

Mehr als zwei Drittel des Bandes umfasst das „Gesamtregister“, das die Empfänger der edierten Briefe Max Webers verzeichnet (Marianne Weber ungeschlagen auf Platz 1 mit zehn Seiten der Daten, zweispaltig), ein Personenregister enthält, ein Sachregister und ein Ortsregister. Dieses verzeichnet auf 45 Seiten alle jene Orte, die in den Briefen genannt werden. Dort findet man nun die Stellen für den Lourdes-Besuch in Bd. II/3 sofort! Es wäre ein Leichtes gewesen, die Orte in das Auswahlbändchen der Reisebriefe zu übernehmen.

Es lässt sich nur wiederholen, was ich bereits beim Erscheinen des Registerbandes (MWG I/25) zur Serie der acht Einzelbände von Wirtschaft und Gesellschaft geschrieben hatte (https://literaturkritik.de/id/20910). In der digitalisierten Wissenschaftswelt des 21. Jahrhunderts handelt es sich bei derartigen gedruckten Registern um Dinosaurier der analogen Welt.

Erneut mahne ich an, dass nun, nachdem sich die gedruckten Bände der MWG ihrem Abschluss genähert haben, möglichst umgehend an die Produktion der kompletten Lieferung als CD-Rom gegangen werden möge. Oder, noch sehr viel besser, die kostenlose Bereitstellung der kompletten MWG im Netz auf der Homepage der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Was für die Tagebücher von Erich Mühsam, den kompletten Nachlass von Niklas Luhmann, die komplette Edition der Schriften von Hannah Arendt und viele andere Editionen möglich ist, sollte doch auch für die MWG möglich sein. Man nehme allein das Modell der Arendt-Ausgabe im Wallstein Verlag: Jeweils ein Jahr nach der Buchausgabe stellen die Herausgeber die Texte kostenfrei ins Netz, so bearbeitet, dass man jede Veränderung von Arendts Hand nachverfolgen kann, alle Streichungen, Einfügungen, Überschreibungen sind zu sehen. Mit einem Klick sieht man, wo Arendt Heidegger zitiert, wo sie von „Schuld“, „Verantwortung“ und „Emanzipation“ schreibt. Angesichts der Tatsache, dass es von Webers wissenschaftlichen Texte fast ausnahmslos keine Manuskripte, sondern nur die gedruckten Ausgaben gibt, wäre das im Fall der MWG ein Leichtes. Da die absolut überwiegende Finanzierung des gesamten Unternehmens durch öffentliche Mittel ermöglicht wurde, ist das eine mehr als überfällige Maßnahme. Die ersten Bände erschienen im Jahr 1984, vor 36 Jahren!

Die ersten 137 Druckseiten dieses abschließenden Briefbandes versammeln 68 Briefe, Karten und Briefentwürfe, die erst nach Publikation der vorangegangenen Briefbände gefunden wurden. Die Liste der Personen und Institutionen, die bei dieser Recherche geholfen haben, ist lang und imponierend. Der Inhalt der nun nachgelieferten Korrespondenz enthält keine Sensationen, die über das bereits sattsam Bekannte hinausführen würden. Es ist die übliche Kollegenkorrespondenz („Sehr geehrter Herr College!“, „Hochverehrter Herr Professor!“, „Sehr geehrter Herr Doctor!“, „Lieber Jaffé“, „Lieber Freund“ [Gerhart von Schulze-Gaevernitz!], „Liebe und verehrte Tante“, „Mein lieber Otto!“, „Lieber Fritz“, „Liebe Mutter“).

Allenfalls von Interesse könnte das Fragment eines Briefes an Else Jaffé vom Januar 1911 sein, in der er ihr einigermaßen kryptisch mitteilt, den Eindruck zu haben, sie habe ihre Seele „in einen Käfig sperren lassen“. Ergänzt wird diese Diagnose durch die Schilderung der „Vasallen in alter Zeit“, die ihrem „gnädigen Herrn“ gesagt hätten: „Führe uns zur Hölle, wenn es sein muß, und unsre Hand und unser Herz gehört in Fröhlichkeit Dir“. Nur schwer als Liebeserklärung misszuverstehen, ist der Schlusssatz: „Aber dann fühlt Ihre Seele sich bedrängt, wird feindlich und fremd oder befangen, – so einen mittelalterlichen Kerl kann sie nicht brauchen.“ Die Zeit der distanzierten Beziehung zwischen Else Jaffé und ihrem Doktorvater Max Weber sollte bald danach vorüber sein.

Ebenfalls ergänzend zum bisherigen Wissen kann man den Brief Webers an Hans Gruhle von Anfang März 1913 einordnen, in dem Weber sehr detailliert seine und Marianne Webers Hilfe schildert, die der erkrankten Franziska Gräfin Reventlow angeboten wird: „Die Gräfin käme am besten sofort. […] Alles Geld steht zur Verfügung.“ Ein Viertel der neu edierten Briefe in diesem Band stammt aus der Zeit der Tätigkeit Max Webers in der Reserve-Lazarett-Kommission Heidelberg von August 1914 bis zu seinem Ausscheiden im September 1915. Diese Briefe und Eingaben an den Stadtrat Heidelberg dokumentieren eindrucksvoll die praktischen und bürokratischen Probleme, die der Hauptmann der Landwehr als Disziplinaroffizier der diversen Reservelazarette zu bewältigen hatte. Immer wieder erstaunlich ist die in diesen Briefen erkennbare enorme Energie und Einsatzbereitschaft Webers, der kurz davor noch ein kranker und kränkelnder Pflegefall in der Fürsorge seiner Frau gewesen war.

Nun stehen sie also da, in Reih und Glied, eine Folge blauer Bände, die in meinem Bücherregal insgesamt 256 Zentimeter belegen. Wenn der allerletzte noch fehlende Band III/2 – die Edition der Vorlesung „Praktische Nationalökonomie“ – erschienen ist, werde auch ich meine begleitende Rezensionsarbeit beenden können.

Titelbild

Max Weber: Ausgewählte Briefe. Band 1: Reisebriefe 1877–1914. Mit einem Einleitungsessay von Hinnerk Bruhns. Hg. von Rita Aldenhoff-Hübinger und Edith Hanke.
Mohr Siebeck, Tübingen 2019.
241 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-13: 9783161564918

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Max Weber: Max Weber-Gesamtausgabe. Band II/11: Briefe. Nachträge und Gesamtregister.
Herausgegeben von Rita Aldenhoff-Hübinger und Edith Hanke.
Mohr Siebeck, Tübingen 2019.
XXVI, 707 Seiten , 319,00 EUR.
ISBN-13: 9783161556036

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