Aktuelles Orakel?

Kurt Oesterles Essays „Wir & Hölderlin?“

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit Romanen wie Der Fernsehgast oder Wie ich lernte, die Welt zu sehen (2002), Der Wunschbruder (2014), Martha und ihre Söhne (2016) oder zahlreichen Essays wie Die Erbschaft der Gewalt. Über nahe und ferne Folgen des Krieges (2005) hat sich der in Tübingen lebende Schriftsteller und Journalist Kurt Oesterle (Jahrgang 1955) längst einen Namen gemacht. Der mit einer Arbeit über Peter Weiss promovierte Literaturwissenschaftler hat sich auch wiederholt mit Leben und Werk Friedrich Hölderlins auseinandergesetzt, etwa 2017, als er im damaligen Klöpfer & Meyer Verlag Wilhelm Waiblingers Biographie über Friedrich Hölderlins Leben, Dichtung und Wahnsinn aus dem Jahr 1827/28 mit einer instruktiven Einleitung und zusätzlichen Quellen neu vorgelegte.

Zum Hölderlin-Jubiläumsjahr folgen nun drei Essays, zusammengefasst unter dem Titel Wir & Hölderlin? Was der größte Dichter der Deutschen uns 250 Jahre nach seiner Geburt noch zu sagen hat. Dem langen titelgebenden Essay folgen zwei kürze Texte: In verschwiegener Erde. Friedrich von Hölderlins „Winkel von Hardt“ – ein bedeutender Gedächtnisort des evangelischen Württemberg und derAufsatz „Mein Reich ist nicht von diesem Stift!“ Leben und Nachleben des ersten Hölderlin-Biographen Wilhelm Waiblinger (1804-1830).

Oesterles erste „Momentaufnahme“ gilt der Person Hölderlins, dessen „Identitätsschwäche“ in der „Vaterlosigkeit“ zu sehen ist. Insgesamt umkreist Oesterle den lebenslangen Wanderer Hölderlin und mögliche Bezugspunkte zur Gegenwart in 17 Abschnitten.

Der Württemberger „Ehrbarkeit“ entstammend, einem „Provinzbürgertum“, das zur „Keimzelle für den südwestdeutschen Liberalismus“ wurde, der wiederum „schon bald Epoche machen sollte“, erwächst Hölderlins „Dichtungsdrang“ aus einem „weit überdurchschnittlichen Naturerleben“. Der Wanderer Hölderlin ist auch im übertragenen Sinn „ein entgrenzendes Naturell“, dessen „machtvollste“ Werktendenz Oesterle zurecht in dem sieht, was er „Wiederverheiligung des Lebens“ nennt – nämlich einem Werk, das „um jeden Preis die Totalität aus Mensch, Natur und Gott bewahren“ will.

Hat Karl-Heinz Ott in seinem Essay Hölderlins Geister pointiert und auch etwas polemisch überspitzt vom „weltanschaulichen Gegrapsche“ gesprochen (siehe https://literaturkritik.de/id/26548), so betont Oesterle: „Vielleicht ist kein Dichter in Deutschland je so sehr von emotionaler Bedürftigkeit her gelesen worden.“ Hölderlins Rezeption lasse sich als „ein „Abenteuerroman“ lesen; sein Werk, das wie kein anderes „hierzulande so oft und so intensiv für ideologische Weltdeutung beansprucht“ wurde, sei „ein deutsches Orakel, aus dem jeder beziehen konnte, was ihm beliebte“.

Oesterle liest Hölderlin insgesamt unter dem Blickwinkel des Tragischen und zitiert daher am Ende auch Walter Muschg, „der uns die Literaturgeschichte als Tragödie zu lesen lehrte und Friedrich Hölderlin damit besonders gerecht wird“. Demzufolge erscheine Hölderlins „Verfinsterung […] nicht ganz undurchdringlich. […] Er beharrte auf dem ungeheuren Abstand zwischen sich und den Andern, gönnte ihnen aber ihre Überlegenheit.“

Und auch für Oesterle bleibt das Œuvre des schwäbischen Landsmanns Hölderlin „ein Werk von unermüdlicher Aussagekraft und unerschöpflicher Aktualität […], ja ein wundersames perpetuum mobile des Sinns und der Sinnstiftung.“

Hölderlins um 1800 entstandenes Gedicht Der Winkel von Hardt nimmt Oesterle quasi mit auf einen wiederholten Besuch beim „untergehenden Gedächtnisort“ am Ulrichstein und liest dieses Gedicht mit und gegen Hauff und Schwab und deren literarischen Bezüge zu jenem sagenhaften Ort aus der Zeit des Bauernaufstandes von 1514. Vor dieser Folie seines gleichsam wiederholten eigenen „Gang aufs Land“ wird Oesterles Lektüre plastisch, wonach Hölderlin in seinem Gedicht – anders als Hauff und Schwab, die ‚nur‘ in die Geschichte zurückblicken – keine geronnene Zeit vorführe, sondern eine bewegliche, die in die Zukunft weise.

In dem Essay über Waiblingers Hölderlin-Biographie, der auf der Einleitung zu dem oben genannten Band von 2017 basiert, folgt Oesterle Waiblingers vielschichtiger werdenden Sicht des „Jammerheilige[n]“, wie dieser 1823 in seiner Hymne An Hölderlin den im Turm wohnenden Dichter bezeichnete. Bei aller Vorsicht, mit der Waiblingers Essay zu genießen sei, würdigt Oesterle dessen antipsychiatrischen Umgang avant la lettre mit dem Kranken. Was bleibt, so Oesterle, „ist das nach wie vor leuchtende[] Zeugnis einer unzerstörbaren Menschenfreundlichkeit, die durchaus auch in Zukunft als beispielhaft gelten kann.“

„Hölderlin und kein Ende!“ könnte man in Anlehnung an den bekannten Goethe-Aufsatz zum Shakespeare-Tag sagen. Denn es ist doch, wie Goethe schon wusste, „dies die Eigenschaft des Geistes, daß er den Geist ewig anregt“. Das Hölderlin-Jahr 2020 und seine Beiträge unterstreichen dies einmal mehr. Und auch insofern darf man das Fragezeichen in Oesterles Essay-Titel gerne in ein Ausrufezeichen verwandeln!

Titelbild

Kurt Oesterle: Wir & Hölderlin? Was der größte Dichter der Deutschen uns 250 Jahre nach seiner Geburt noch zu sagen hat.
Klöpfer, Narr Verlag, Tübingen 2020.
177 Seiten, 22 EUR.
ISBN-13: 9783749610297

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