Hey Jude

Ein Panorama der intermedialen Beatles-Rezeption der Gegenwart

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

 

Don’t carry the world upon your shoulders

Bei der Lektüre zu einer Lehrveranstaltung über deutschsprachig-jüdische Gegenwartsliteratur stolperte ich kürzlich über ein Beatles-Zitat bei Katja Petrowskaja. In ihrem autobiographischen Familienroman Vielleicht Esther (2014) beschreibt die Autorin, wie ihre Erzählerin auf den Straßen der polnischen Stadt Kalisz nach Spuren der dortigen jüdischen Gemeinde sucht, zu der auch Teile ihrer weitverzweigten, zu großen Teilen in der Shoah ermordeten Familie gehörten. Die Grabsteine des jüdischen Friedhofs von Kalisz waren zur Zeit der NS-Besatzung von den Tätern zerkleinert und mit der beschrifteten Seite nach unten zu Kopfsteinpflaster verarbeitet worden. Jahrzehnte nach Kriegsende wurden diese Fragmente anlässlich von Straßenbauarbeiten ausgegraben und teils andersherum wieder eingesetzt. Mit der Folge, dass die Menschen in Kalisz heute über hebräische Buchstaben laufen, die einst auf den Grabsteinen jüdischer Gestorbener standen. Bei der Suche nach diesen hebräischen Inschriften kommt Petrowskajas Erzählerin unwillkürlich eine Zeile aus einem Beatles-Song in den Sinn: „Anytime you feel the pain, hey Jude, refrain“.

Was hat diese seltsame Assoziation in einem Roman über das Nachleben und das jüdische Familiengedächtnis des Holocaust verloren? Petrowskajas Erzählerin möchte an der Stelle nicht, dass die Bürger der polnischen Stadt angesichts dieses unsichtbaren Friedhofs unter ihren Füßen bei ihren alltäglichen Verrichtungen zur Trauer genötigt werden, sondern wünscht sich einen optimistischeren alltäglichen Umgang mit der Vergangenheit. Den Appell des Songs Hey Jude bezieht die Erzählerin dabei aber vielleicht auch auf sich selbst, um angesichts der bizarren Situation so etwas wie Trost und Ruhe zu finden, sinngemäß vielleicht in dieser freien Übersetzung der Liedzeile: „Immer, wenn der Schmerz kommt, nimm Abstand.“

Vielleicht Esther ist ein Text voller filigraner intertextueller Querverweise, Synekdochen, vertrackter literarischer Motive und Erinnerungsfetzen, die sich zu einem vielschichtigen Gewebe von Bedeutungen verflechten. Dazu gehört auch, dass der Roman, den ich in dem Fall zur Vorbereitung eines Seminars an der kanadischen University of Calgary in der englischen Übersetzung von Shelley Frisch las, permanent damit spielt, dass die in der Sowjetunion aufgewachsene Autorin ihren Text auf Deutsch geschrieben hat und dabei permanent lost in translation ist, also zwischen verschiedenen Sprachen hin- und herdenkt, Wortbedeutungen und -klänge in verschiedenen Idiomen vergleicht, um ihren unterschiedlichen Bedeutungen und Konnotationen nachzuspüren.

Englischsprachigen LeserInnen wiederum wird bei der Lektüre von Maybe Esther womöglich entgehen, woran deutschsprachige LeserInnen, zumindest wenn sie wie Katja Petrowskaja um 1970 geboren wurden, an der Textstelle unweigerlich auch denken müssen: Wer in den 1970er und frühen 1980er Jahren Beatles-LPs im Plattenschrank der Eltern vorfand und noch weitgehend ohne Englischkenntnisse auf den Song Hey Jude stieß, rätselte zunächst über den Titel. Adressierte der Sänger Paul McCartney hier etwa einen Juden? Doch war das nicht unpassend? Wurde dieses Wort „Jude“ in alltäglichen Gesprächen in Deutschland damals nicht seltsam vermieden? Nein, das musste im Englischen wohl einfach nur ein Name oder irgendwie anders zu verstehen sein! Es hätte seinerzeit, noch ohne Internet und Wikipedia, einiger etwas aufwändigerer Recherchen bedurft, um als Kind herauszufinden, dass McCartney den Song schlicht für John Lennons damals fünfjährigen Sohn Julian schrieb und zwecks Vereitelung zu eindeutiger Lesarten von „Jules“ zu „Jude“ umschrieb.

Katja Petrowskaja wird diese unfreiwillige Doppeldeutigkeit des Liedtitels, die ausschließlich im Deutschen entsteht und den sie in ihrem Roman an der Stelle nicht einmal explizit nennt, gewiss bewusst gewesen sein. Damit zitiert ihre Protagonistin die Liedzeile einerseits mit ironischen und sarkastischen Untertönen, als sei der Song frech an sie als Jüdin adressiert, andererseits aber auch im Sinne einer neckenden Selbstberuhigung. Beatles-KennerInnen müssen dabei vielleicht zusätzlich an die nächste, im Roman nicht mehr zitierte Zeile des Stücks denken, auch wenn diese Ermahnung im Kontext des Holocaust und seiner traumatischen Folgen für die zweite Generation der Familien Überlebender einem Understatement gleicht: „Don’t carry the world upon your shoulders“.

 

Kanonischer Status in der popkulturellen Verweishölle

Wie auch immer man die Textstelle bei Petrowskaja im Einzelnen deuten mag, die überraschende Aufrufung des Songs Hey Jude im Kontext des Holocaust-Gedächtnisses sagt einiges über die immense Tragweite der Beatles-Rezeption seit der Trennung der Band im Jahr 1970 aus. Wer nicht gerade Arno Schmidt hieß oder gar die Rolling Stones besser fand, liebte die Band ab den 1960er Jahren bedingungslos. Auch heute noch kennt so gut wie jeder weltweit die Beatles. Kaum jemand, der sie einmal aufmerksam gehört hat, lehnt diese Musiker und ihr Werk ab.

Wie die Stelle aus Vielleicht Esther unterstreicht, avancierten die Songs der Gruppe in der internationalen Gefühlskultur des 21. Jahrhunderts zu Allzweck-Pathosformeln, die der Rolle der bloßen Erwähnung Klopstocks in Goethes Werther gleichen. Man könnte sogar noch weiter gehen: 50 Jahre nach der Auflösung der Band hat das Werk der Fab Four in der popkulturellen Verweishölle einen kanonischen Status erreicht, der der universellen Zitierbarkeit Heiliger Bücher gleicht.

Die Vorstellung, die Musik der Beatles könne einmal vergessen werden, erscheint nach wie vor so schwer vorstellbar, dass sie zum Stoff an den Haaren herbeigezogener Filmkomödien-Plots wie in Danny Boyles Yesterday (2019) wurde. Darin fällt weltweit für einige Sekunden der Strom aus, woraufhin die Beatles der gesamten Weltbevölkerung plötzlich nicht mehr erinnerlich sind – bis auf einen erfolglosen britisch-indischen Straßenmusikanten, der daraufhin mit der Intonation ihrer Songs eine steile Karriere hinlegt und schließlich als größter Musiker-Songwriter aller Zeiten gefeiert wird, obwohl er doch bloß aus dem Kopf Songs wie Hey Jude covert – unfassbare Ohrwürmer, die sein ahnungsloses Publikum für seine eigenen genialen Kompositionen hält. Einer der Witze, die der Film über diesen Song macht, ist übrigens der, dass dem Protagonisten im Studio vorgeschlagen wird, er möge doch besser Hey Dude singen, das klänge sehr viel besser.

Kaum ein 68er-Haushalt in der BRD war vor dem Mauerfall ohne mindestens zwei Beatles-Klassiker denkbar – das rote und das blaue Doppelalbum, zwei Best-of-Kompilationen mit Hits von 1962-1966 (rot) und 1967-1970 (blau). Diese unverwüstlichen Kompilationen waren noch in den 1980ern für Teenager in evangelischen Jugendheimen oder vergleichbaren Institutionen mindestens ebenso unvermeidlich greifbar und allgegenwärtig wie andere, längst zu Erinnerungsorten avancierte Konsumgüter, Fernsehsendungen oder Bücher wie Miracoli, Fischstäbchen von Iglo, Nutella bzw. Nusspli von Zentis, Einer wird gewinnen mit Hans-Joachim Kulenkampff, Wetten daß mit Thomas Gottschalk, Der Internationale Frühschoppen mit Werner Höfer, Gudrun Pausewangs Atomkriegs-Schocker Die letzten Kinder von Schewenborn oder Michael Endes Roman Momo.

Mit oftmals schwerwiegenden Folgen. Wer sich aufgrund dieser musikalischen Sozialisation für das Erlernen eines passendes Instrumentes zu interessieren begann, hörte sich schnell durch den gesamten Werkkatalog der Beatles und versucht in der Regel bis heute, seine Lieblings-Songs der Band immer wieder nachzuspielen und sich deren Akkordfolgen neu zu vergegenwärtigen. Die Lieder dieser Band verlangen eine endlose instrumentale Erinnerungs- und Wiederholungsarbeit, die literaturwissenschaftlichen Relektüren nicht unähnlich ist. Durch zahllose Lehrvideos auf YouTube ist dies heute wesentlich leichter zu bewerkstelligen als noch vor wenigen Jahren.

 

Sowieso die Favoriten gegenwärtiger Meta-Instrumentalisten

Doch nicht nur bei Hobby-Musikern, sondern auch bei Profis stehen die Beatles seit jeher hoch im Kurs. Die unvermeidliche Ballade Yesterday zum Beispiel dürfte der meistnachgespielte Song der Geschichte sein. Es existieren Adaptionen von so unterschiedlichen KünstlerInnen wie Wes Montgomery, Ray Charles, Aretha Franklin, Sarah Vaughan oder Boyz II Men.

Der Trend dauert an. Mehr denn je ehren weltbekannte Instrumentalisten die Beatles mittels spektakulärer und oft preisgekrönter Interpretationen ihrer zeitlosen Kompositionen. Die derzeit prominentesten Bewunderer reichen von den Beatles-Zeitgenossen Jeff Beck, Neil Young und Elton John über den Akustikgitarren-Virtuosen Tommy Emmanuel bis hin zu dem Jazz-Pianisten Brad Mehldau.

Zu nennen wäre hier aber auch das notorisch überkandidelte, in der Punk-Ära wütend attackierte und dennoch unkaputtbar gebliebene Metier des Progressive Rock. Unvergessen bleibt dem Verfasser dieses Artikels ein Berliner Konzert der Prog-Rock-Supergroup Transatlantic Anfang der Nullerjahre, in dem der Multiinstrumentalist und Lead-Sänger Neil Morse das normale Konzertprogramm unterbrach, um dem überraschten Publikum im Scherz die Musik einer sehr „obskuren“ Band anzukündigen. Was folgte, war eine kongeniale Intonation weiter Teile des legendären, letzten Beatles-Albums Abbey Road (1969).

Auch der Jazz-Rock-Virtuose Al Di Meola, der Anfang der 1970er Jahre als Gitarrist in Chick Coreas Formation Return to Forever über Nacht berühmt wurde und 1981 mit John McLaughlin und Paco De Lucia den Flamenco-Meilenstein Friday Night in San Francisco aufnahm, ist nach einer längeren Tango- und Weltmusik-Phase reumütig zu seinen frühesten Hörerfahrungen zurückgekehrt. Nach dem ersten, wesentlich zurückgenommeneren, rein akustischen und daher weit hörenswerteren Versuch All Your Life – A Tribute to the Beatles (2013) hat er nun mit Across the Universe. The Beatles Volume 2 (2020) ein weiteres Album mit Gitarren-Adaptionen klassischer Songs der Band eingespielt, auf dem er sich allerdings eher in kopflosen instrumentalen Studio-Tricksereien verliert.

Die Liste ließe sich fortsetzen. Seit Jimi Hendrix, der 1967 unmittelbar nach der Veröffentlichung des klassischen Beatles-Albums St. Pepper’s Lonely Hearts Club Band dessen Titelsong sofort live nachspielte – ein denkwürdiger Moment der Rock- und Popgeschichte, der mittlerweile auch schon verfilmt worden ist, schwören insbesondere virtuose Gitarristen bis heute weiter auf die Band. So adaptierten in den letzten Jahren u.a. der Weltstar Pat Metheny, der ehemalige Miles-Davis-Sideman John Scofield oder auch der Supertramp-Gitarrist Carl Verheyen Songs der Beatles, um sie in ihrer jeweils eigenen musikalischen Ausdrucksform ganz neu leuchten zu lassen. Auch wenn er sich auf die (Solo-)Kompositionen John Lennons konzentrierte, ist hier nicht zuletzt der Jazz-Gitarrist Bill Frisell zu erwähnen. Mit All We Are Saying, womöglich dem gelungensten Versuch dieser Art, nahm er 2011 ein ganzes Album mit vielen Beatles-Coverversionen auf, nachzuvollziehen auch in einer Reihe von Konzertmitschnitten, die auf YouTube greifbar sind.

Im gleichen Jahr spielte der amerikanische Rock-Gitarrist Andy Timmons eine komplette instrumentale Version des Beatles-Klassikers St. Pepper’s in Trio-Formation ein. Nicht zu vergessen der französisch-vietnamesische Jazz-Gitarrist Nguyên Lê, der seine LP Songs of Freedom (2011) voller multikulturell inspirierter Versionen von Kompositionen so unterschiedlicher Gruppen wie Led Zeppelin, Cream oder auch Bob Marley & the Wailers mit einer spektakulären, anhand von Fernost-Harmonien radikal umgedeuteten Fusion-Jazz-Version von Eleanor Rigby von dem Beatles-Album Revolver (1966) beginnt, die einen ausgedehnten Gitarrensolo-Exzess einschließt.

 

Melodiöses und komplexes Songwriting

Einer der Gründe für diese in Wellen wiederkehrende und offenbar unzerstörbare Konjunktur der Beatles ist deren verblüffende Verknüpfung eingängig-melodiösen Songwritings mit visionären, multiinstrumentalen Studiotechnik-Experimenten sowie einer überraschenden harmonischen Vielfalt ihrer Kompositionen. Die Beatles zu covern, ist keineswegs einfach. Sogar der notorische Angeber Al Di Meola äußerte anlässlich seines aktuellen Beatles-Cover-Albums: “Believe it or not, these ‘simplistic’ pieces turned out to be far more difficult to play and to rehearse than anything I’ve done before! People can say it’s just simple pop music but the way I approached it required me to really work hard on it! It wasn’t a simple ‘strum the guitar and sing the melody’ thing.”

Selbst ein in den Ohren von Otto Normalhörer womöglich simpel klingender akustischer McCartney-Folk-Song wie Blackbird von dem eklektizistischen White Album (1968) basiert auf eher unkonventionell und schnell über das gesamte Griffbrett wechselnden Akkorden, die nicht nur blutigen AnfängerInnen einiges an Übung abverlagen, um sie flüssig zu spielen. Wie der in die Jahre gekommene deutsche Komiker Otto Waalkes kürzlich demonstrierte, lassen sich sogar Zusammenhänge zwischen Beethovens 5. Symphonie und den ersten Akkorden dieses Songs entdecken. Auch als erfahrener Gitarrist fragt man sich beim Nachvollzug dieser Harmonien, wie ein Autodidakt wie McCartney eigentlich auf eine so eigenwillige Akkordfolge gekommen sein mag.

Zugleich ist und bleibt es eine Musik, die im plattesten Sinn des Wortes Grenzen zu überwinden vermag. In Kanada war einer der größten Überraschungserfolge des letzten Jahres die leise, fast schüchtern eingesungene Blackbird-Cover-Version der 16-jährigen Sängerin Emma Stevens, die den Song in ihrer Muttersprache Mi’kmaq intonierte und damit in einem postkolonialen Riesenland mit einem nach wie vor manifesten Rassismus gegenüber der indigenen Bevölkerung ein YouTube-Millionenpublikum für sich zu begeistern vermochte. Aus Sicht der Mi’kmaq-Minorität im östlichen Kanada mag eine Songzeile wie „Take these broken wings and learn to fly“ einer hoffnungsvollen Chiffre gleichen, vor allem aber vermochte die Cover-Version des Beatles-Songs in Emma Stevens Sprache diesem Idiom ganz neue Anerkennung und Aufmerksamkeit zu verschaffen.

Klar, Theodor W. Adorno wäre dennoch dagegen gewesen. Das Rätsel des andauernden Welterfolgs dieser Musik ist aber wohl kaum damit zu lösen, dass man sie auf ein bloßes Produkt spätkapitalistischer Kulturindustrie reduziert. Warum kommt Katja Petrowskajas Roman-Ich ausgerechnet in Kalisz ein redundantes Kindergeburtstagsständchen wie Hey Jude in den Sinn? Warum erliegen keineswegs nur weiße alte Gitarristen, die mental auf dem endlosen Gegniedel der 70er hängen geblieben sind, immer wieder neu dem Reiz dieser Beatles, sondern eben auch eine Mi’kmaq-Teenagerin im Jahr 2019? Das sind Fragen, die dieser Artikel nicht erschöpfend beantworten kann. Aus gegebenem Anlass, 50 Jahre nach dem Ende dieser einzigartigen Band, kann man sie sich beim erneuten Anhören ihrer Platten aber durchaus einmal wieder stellen.