Angst, Scham und Heimweh
Bilder einer bedrohten Kindheit und die Suche nach der Identität als Jude in Georges-Arthur Goldschmidts „Vom Nachexil“
Von Barbara Mahlmann-Bauer
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseVorbemerkung der Redaktion: In der Mai-Ausgabe 2018 haben wir eine Gratulation unserer Mitarbeiterin Barbara Mahlmann-Bauer zum 90. Geburtstag Georges-Arthur Goldschmidts und einen Hinweis auf den von ihr mit herausgegebenen Band „Georges-Arthur Goldschmidt – Überqueren, überleben, übersetzen“ veröffentlicht. Der Band war im Zusammenhang mit der Ehrendoktorwürde entstanden, die Goldschmidt von der Universität Bern im Dezember 2016 verliehen wurde. Mit dem folgenden Beitrag setzt Mahlmann-Bauer ihre langjährige Beschäftigung mit dem Leben und Werk des Autors fort. T.A.
„Er“ – „man“ – „wir“ – „ich“ wechseln sich ab in seinem neuesten Buch. Zwischendurch funkt das „Es“ als Störenfried mit seinem „rätselhaften Selbst“. Georges-Arthur Goldschmidt hat diese Personalpronomina für sich mehrfach erprobt, in der Autofiktion, in den Freud-Büchern und in der Autobiographie. In Vom Nachexil mischt er sie, auf der Suche nach seiner Identität als Jude, das heißt als Mensch in seiner einzigartigen „Heiligkeit“. „Ich“ ist vor und im Exil ein Anderer („er“), zum Ich gelangt er wieder im Nachexil.
Goldschmidt hat die Verfolgung der Nazis in Florenz und Megève überlebt. Vom Nachexil enthält mehr als nur ein Résumé seiner Überlebensgeschichte, die in früheren Büchern auf deutsch und französisch dokumentiert ist. Vom Nachexil ist ein poetologisches Bekenntnis des Pariser Autors und eine Liebeserklärung an die zweite Muttersprache, die „Sprache der seelischen Rettung“ und an die Literatur der „Befreiung“, die seit dem 16. Jahrhundert „frech, unbotmäßig, widerspenstig und kritisch sein durfte“. Goldschmidt schrieb es im Bewusstsein, einer der letzten Zeitzeugen zu sein, der die Zuschreibung, Jude zu sein, und die Drohung, ausgelöscht zu gehören, unauslöschlich im Körpergedächtnis mit sich trägt. Aus Vom Nachexil klingt der Stolz des Schriftstellers, Übersetzers und Gymnasiallehrers durch, einer der ältesten jüdischen Familien Hamburgs anzugehören, die Künstler und Musiker hervorgebracht habe und mit Heinrich Heine verwandt sei, der schon „alles vorgefühlt“ und „viel besser gesagt hat als jeder andere“. Er schreibt in der subkutanen Mutter- und „Wanderersprache“, die sich unterhalb des Französischen wie eine gegenläufige Grundstimme ständig mitbewegt und blau frisch-morgentlich durch die „orangene, ins Warm-Rötliche verlaufende“ „Nachmittagssprache“ durchschimmert. Dabei bereichert er die deutschsprachige Literatur erneut mit berückenden Bildern einer bedrohten Kindheit in winddurchzauster Pappel- und Birkenlandschaft. Die Bilder prägen sich im jambischen Sprechvers beim Lesen ein, so als schaukelte man in einer Barke auf der Binnenalster: „Es erstaunte den Knaben immer wieder, daß sich Wiesen, Felder oder Waldrand so geradlinig durch die Landschaft zogen. ‚Zu Bäume‘ ging er mit dem Vater in den Hintergarten und legte sich ins Gras gegen seine Hüfte gelehnt, und spürte das leise Auf und Ab des Atmens, über ihn das Übereinanderwabern der kleinen Birkenblätter, die senkrecht in den Himmel standen. Man hörte Stimmen in der Ferne, um ihn herum lag alles, was es zu sehen gab, das Hochhinaufreichen der Baumstämme, das Sichausbreiten der Landschaft, und doch, vor allem, wenn er von der Schule kam, war sie voller Drohungen.“ Plötzlich (ab „doch“) stürmen statt Jamben Trochäen im Marschschritt voran.
Einzigartig und unvergesslich ist die Schilderung, wie Angst, vermischt mit Scham, das Sehen und Hören verändert und noch beim fast Zweiundneunzigjährigen grobianische Abwehrgesten hervorruft, die er 1940 vom Bahnhofsvorsteher in Modane gelernt hat: „Itler caca“.
In seinem berühmten Bekenntnis gegenüber Paul Demeny vom 15. Mai 1870, „Je est un autre“, erklärt Arthur Rimbaud: „Le poète se fait voyant par un long, immense et raisonné dérèglement de tous les sens“. Dies buchstabiert der neunjährige Arthur vor dem Exil neu. Nicht der Dichter macht sich zum Seher, sondern die Entfesselung aller Sinne setzt ein, wenn das Beisammensein im Elternhaus und Dorf bedroht ist und die heimische Landschaft durchsichtig für grauenhafte Innenbilder wird. Die Deregulierung des Wahrnehmungsapparats folgt einer Logik, ist vernunftgeleitet. Wer als Judenkind spürt, verfolgt zu sein, schärft seine Wahrnehmung, übt sich im Schauen und Verstellen, und dies setzt poetische Kräfte frei. Arthur erblickt beim letzten Familienausflug die Uferböschung mit einem breiten Graben, „an dem entlang hohe Kiefern wuchsen“, aber die Erinnerung an die Verhaftung des KPD-Mitglieds Hermann Bauers beim Blumengießen weckt die Vorstellung eines Geländes, das sich ideal für ein KL eignen würde, „Holzplanken, Blechteller, Handschellen“. Angst konditioniert die Blickrichtung nach oben, wo die Baumwipfel eine Linie bilden, oder an mächtigen Felswänden empor, daher Arthurs Bewunderung des Campanile und Duomo in Florenz. Angst führt zu geheimem, unheimlichem Wissen, mit dem der Junge den treudeutschen Eltern weit voraus ist, für das ihm aber noch die Worte fehlen. Seine Existenz ist bedroht. Schon die Oberfläche, das Alltäglichste, verrät es dem seismographischen Blick: Die Bewegungen der Hitlerbegeisterten sind zu kurz und hastig, ihre Stimmen zu laut, alle Gesten „entweder ein ganz wenig zu zackig oder zu kurz“. Während die Erwachsenen glaubten, Hitler würde sich nicht lange halten, „wußte“ Arthur“, „daß eben, weil es so das Gegenteil alles Möglichen war, weil es so zynisch immer das Dümmste und Böseste zur Wirklichkeit machte, daß es noch lange dauern würde.“ Arthurs Urteil deckt sich mit dem der dreizehnjährigen Susanna Ruth in Ruth Klügers weiter leben: „Die Erwachsenen hielten die Geschichte von den Duschen, aus denen statt Wasser Giftgas strömte, für ein Phantasieprodukt der Kinder, während Kinder, wie ich, sie zumindest ernsthaft in Erwägung zogen. […] Kinder lernen ja noch, wie die Welt aussieht. So war es also.“
Was sich dem kindlichen Blick in überzeichneten, durchsichtigen Bildern offenbart und im Braun und Schwarz der Uniformen im Körper Ekel hochjagt, hat Montesquieu als „principe du gouvernement despotique“ charakterisiert: „la crainte“ (De l’esprit des lois, III,9). Arthur weiß es genau: Dieses „principe“ funktioniert so, dass es Teilnehmer zu hirnlos Begeisterten zusammenschweißt und Andersartige, Unliebsame, Verdächtige ausschließt, verbannt und verdammt.
Malerei und Literatur sind Schwesternkünste. Arthurs Phantasiewelt wurde von Kunstbüchern und der Landschaftsmalerei des Vaters, eines begabten Amateurs, angeregt, dessen Zeichnungen aus Theresienstadt Goldschmidt dem Résistance-Museum in Lyon übergeben hat. Arthur malte sich aus, was er noch nicht sah, als er auf den Schultern des SS-Manns saß und dem winkenden Hitler auf Augenhöhe begegnete: das Morden. In Paris war der Schüler zu arm, um sich Malerhandwerkzeug zu kaufen und dem Vater nachzueifern. Nach Molière und Racine, die ihn im Rucksack beim Milchholen in Megève begleiteten, begeistern den Pariser Schüler Rousseau und Zola. Aber der Farbkasten der subkutanen Mutter- und Gegensprache, mit dem Eichendorff und Heine hantierten, liefert dem poetischen Pinsel eine grandiose Palette: In seinem Essay Vom Nachexil malt Goldschmidt die majestätische Gebirgslandschaft der savoyischen Alpen und ihre hilfsbereiten Bewohner mit Gefühlen der Dankbarkeit.
Goldschmidt fasst seine Erinnerungen, ein Gemisch von Empfindungen, Zuständen, Bildern, Lauten, woraus sich sein kindliches Wissen speiste, in Emblemata zusammen, die Botschaften seiner früheren Bücher wie im Brennglas verdichten. Jede pictura ist durch ein Gefühl als Motto schattiert, Angst, Scham, Heimweh. Das nachexilische Ich erschließt die Erinnerungsbilder mit subscriptiones, welche die damaligen deutschen Machthaber mit Verachtung und Hass strafen und uns Nachgeborene vor der Wiederkehr von „Pogromen“ warnen, die zum Wesen von Europa gehören. Der Doppelsprachige taucht in die in Arthur schlummernde Sprache der Romantik ein, welche Nacht- und Schattenseiten phantastisch beschwört. Ich wünschte mir, dass er als nächstes in der luziden Sprache seiner Retter schildern wird, wie er seinen Pariser Schülern deutsche Sprache und Literatur nahegebracht hat.
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