Technik in Literatur

Zum Spannungsverhältnis von analogem Medium Buch und darin inszenierten digitalen Medien

Von Stefanie JakobiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie Jakobi

Digitale Medien, ihre Chancen, Möglichkeiten, Grenzen und Herausforderungen sind aktuell präsenter denn je und das nicht nur, aber auch im Kontext der Literaturwissenschaften. In literarischen Texten werden Debatten geführt oder eher vorgeführt: Die deutschsprachige zeitgenössische Jugendliteratur stellt diesbezüglich keine Ausnahme dar. 

Grundlegend ist in diesem Zusammenhang zunächst das Spannungsverhältnis von analogem Medium Buch und den inszenierten digitalen Medien: Wie und mit welchen narrativen, narratologischen, materiellen und paratextuellen Inszenierungsformen macht das analoge Medium die intermedialen Bezüge auf verschiedene digitale Medien sichtbar?

Als erster Effekt lässt sich die Adressierung der Texte veranschlagen. Die zeitgenössische Jugendliteratur ist durchaus gängiger Schauplatz für die literarische Bearbeitung digitaler Entwicklungen, sucht sie doch eine entsprechend digital sozialisierte Lesendenschaft zu erreichen. Für den (insbesondere frühen) Jugendbereich ist jedoch zu fragen, wer über die entsprechenden Texte angesprochen wird, einzig die jugendlichen Lesenden oder auch die erwachsenen Mitlesenden im Ewer’schen Sinne? 

Daraus resultiert die Frage, wie die unterschiedlichen Bedürfnisse, Wünsche, Anforderungen und Voraussetzungen der adressierten Gruppen in den Texten austariert werden. Diese Frage ist im jugendliterarischen Subsystem nicht auf den Themenbereich ‚digitale Medien‘ beschränkt, wird in diesem Kontext unter Umständen jedoch noch potenziert, kann es in diesem Rahmen doch zu einem Wissens- oder zumindest Anwendungsvorsprung der jugendlichen Digital Natives gegenüber den erwachsenen Vermittlungsinstanzen kommen, die eben dies nicht immer sind. Sichtbar wird die Wissensverschiebung darüber hinaus daran, dass gerade digitale Medien und ihre verschiedenen Anwendungsformen als jugendliche Abgrenzungsmechanismen genutzt werden und sich mitunter dem erwachsenen Zugriff und Verständnis entziehen. 

An die unterschiedlichen Wünsche der Lesenden und Mitlesenden knüpft ein weiterer Aspekt an, der zu dem mitunter etwas unrühmlichen Ruf der Jugendliteratur in den Literaturwissenschaften beigetragen hat: das Austarieren von Unterhaltung und pädagogischer Aufklärung. Dass einige der zeitgenössischen Jugendbuchtexte zum Thema in Schulbuchverlagen herausgegeben werden oder in Reihen, die bewusst als Schullektüre vermarktet werden, stellt diese zwei Pole deutlich heraus. Sichtbar wird der Aushandlungsprozess zwischen Unterhaltung und Pädagogik punktuell auch, wenn man sich das non-fiktionale Œuvre einiger Autoren anschaut: So hat Thomas Feibel zahlreiche Ratgeber – sowohl für Kinder als auch für Erwachsene – über den Umgang mit Smartphone, Computer, sozialen Netzwerken, Messengerdiensten und Apps geschrieben. Karl Olsberg hat nicht allein zu künstlicher Intelligenz, die ein zentrales Thema in seinen jugendliterarischen Texten darstellt, promoviert, sondern mit Schöpfung außer Kontrolle. Wie die Technik uns benutzt ihre Gefahren zudem außerliterarisch verhandelt. Sein Titel verweist auf einen weiteren Aspekt, der den Themenkomplex ‚digitale Medien‘ prägt: der Frage, ob die digitalen Medien als Unterhalter und Unterstützer oder als kontrollierende Instanz über die menschlichen Benutzenden fungieren. 

Potenziert wird diese Frage im Kontext des jugendliterarischen Erzählens, sind es doch vornehmlich jugendliche Akteure, die sich digitaler Unterhaltungsmedien im besonderen Maße bedienen und sind es die erwachsenen Akteure, die dieses Nutzungsverhalten kritisch beobachten. Des Weiteren ist die unterstellte Kontrolle der digitalen Medien verknüpft mit Identitätsdiskursen: Was bedeutet es angesichts von klüger werdenden Maschinen ein Mensch zu sein? Im jugendliterarischen Bereich wird hier an die Inszenierung adoleszenter Identitätskonstruktion angedockt. 

Zeitgenössische deutschsprachige jugendliterarische Texte lassen eine thematische Auffächerung des Themenkomplexes ‚digitale Medien‘ in den letzten 20 Jahren erkennen, die mit den technologischen Entwicklungen korrespondiert. In den frühen 2000er Jahren dominieren zwei große zentrale Themenbereiche in der Jugendliteratur: Computerspiele und ihre immersive Wirkung einerseits und künstliche Intelligenz andererseits, wobei diese Bereiche durchaus miteinander verflochten werden. 

Zu dem ersten Bereich zählen neben Andreas Schlüters umfangreicher Level 4-Reihe Titel wie Alice Gabathulers dead.end.com oder Werner Färbers Wie viele Level hat dein Leben? und Ursula Poznanskis Erebos. Olsberg thematisiert in seinen zwei Bänden um Rafael 2.0 künstliche Intelligenz als freundlichen Helfer, während in Erebos und Erebos 2 diese eher als gefährlicher Gegenspieler markiert wird. Olsbergs Boy in a White Room und die Folgebände (Boy in a Dead End, Girl in a Strange Land) zeichnen hingegen ein eher ambivalentes Bild der Gefahren und Chancen, die mit technologischer Singularität einhergehen. Die künstlichen Wesen sind gleichsam Freund und Feind und verhandelt wird, ebenso wie in Erebos 2, die Frage der absoluten Zielorientierung digitaler Rechenwesen. 

Zu diesen zwei Schwerpunkten ist den letzten Jahren im realistischen und fantastischen Erzählen verstärkt die jugendliterarische Auseinandersetzung mit sozialen Netzwerken oder unterschiedlichen Apps hinzugekommen. Gerade die realistischen Erzählungen lassen sich als Fortführung des Genremusters der Warn- und Abschreckgeschichte verstehen und thematisieren die Gefahren sozialer Netzwerke: Vom Sexting und daraus resultierenden Erpressungsversuchen (Likes sind dein LebenFor your eyes only), über Identitätsdiebstahl und Stranger Danger (#selbstschuld. Was heißt schon privatIch weiß alles über dich), dem Verlust der Privatsphäre, dem Preisgeben oder Verbreiten empfindlicher Informationen (Likes sind dein Leben) bis zur emotionalen Verrohung (Ich werde YouTube-Star! ).

Auf narratologischer Ebene lässt sich eine zunehmende Nutzbarmachung moderner Erzähltechniken in den Texten – vom multiperspektivischen über das unzuverlässige bis hin zum unnatürlichen Erzählen – verzeichnen. Poznanski arbeitet in Erebos multiperspektivisch und fügt der personalen Erzählperspektive, die an die Hauptfigur als Reflektorfigur gebunden ist, eine weitere hinzu, die für den Lesenden zunächst nicht einzuordnen ist und sich schließlich als unnatürlich – d.h. an die künstliche Intelligenz gebunden – offenbart. Die Desorientierung, welche die Hauptfigur angesichts der verwirrenden Ereignisse rund um das Spiel verspürt, wird somit an die Lesenden weitergegeben.

In zahlreichen der anderen Texte wird punktuell ebenfalls multiperspektivisch und unzuverlässig erzählt, wobei das unzuverlässige Erzählen häufig an das digitale Medium geknüpft ist. So entpuppt sich in #selbstschuld. Was heißt schon privat? nicht nur die Hauptfigur als unzuverlässiger Erzähler, eine weitere Figur schreibt ebenfalls unzuverlässig. Ebenso unzuverlässig erzählt die Hauptfigur in Killyou!, wobei der Erzählmodus genutzt wird, um das zunehmend als problematisch zu klassifizierende Computerspielverhalten der Hauptfigur zu markieren. Während in Erebos und dead.end.com das immersive Potenzial des Spielens für den Lesenden auf narratologischer Ebene nachvollziehbar gestaltet wurde und der Übertritt in die Welt des Spiels für den Lesenden gespiegelt wurde, ist dies in dem realistisch erzählten Killyou! nicht mehr der Fall. Es ist nicht die Faszination des Spielens, die im Vordergrund steht, sondern der Kontrollverlust, der mit diesem einhergeht. Ähnlich problematisiert wird der Kontrollverlust in Olsbergs Würfelwelt-Romanen, in denen die Hauptfigur unfreiwillig und wiederholt unter Drogen gesetzt wird und sich als Folge dieser Erfahrung in der Welt von Minecraft wiederfindet. Olsberg übersetzt die Spielmechanik des Respawning in Minecraft in repetitives Erzählen, sodass der Lesende nach dem Tod des Avatars der Hauptfigur jeweils – in geraffter Form – dieselben Ereignisse präsentiert bekommt. 

Poznanskis 2019 erschienener Nachfolgeband Erebos 2 räumt dem immersiven Potenzial des titelgebenden Spiels ebenfalls weniger Raum ein. Zwar ist in diesem der Ein- und Austritt in die virtuelle Spielewelt erneut mit dem Wechsel des Tempus verknüpft und die Primär- und Sekundärwelt darüber voneinander abgegrenzt, jedoch ist es nicht mehr die im doppelten Wortsinne fantastische Spieleumgebung, welche die Figuren in den Bann zieht. Vielmehr ist es im zweiten Teil der Einfluss der künstlichen Intelligenz auf Smartphones und Rechner, welcher diese Wirkung ausübt. 

Unzuverlässig erzählt wird auch in Olsbergs Boy in a White Room, wobei über die Entlarvung der Erzählerfigur als unzuverlässig aufgedeckt wird, auf welchen tönernen binären Füßen Konzepte wie ‚Wirklichkeit‘ im digitalen Raum stehen. In den Nachfolgebänden wird ebenfalls mit desorientierenden Elementen und intradiegetisch unzuverlässig erzählenden Figuren gearbeitet, die immer wieder die Unsicherheit der Figurenwahrnehmung und der sie umgebenden Welten und Simulationen inszenieren. Dass in den von Olsberg entworfenen intradiegetischen Simulationen olfaktorische und haptische Sinneserfahrungen möglich sind, macht es den Figuren schwerer zwischen (digitaler) Virtualität und (literarischer) Realität zu unterscheiden. 

Gleichermaßen problematisiert wird die Unterscheidung von literarischer Realität und digitaler Virtualität in den fantastisch erzählenden Texten durch den Einsatz von metafiktionalen Elementen. Wiederholt erkennen sich die Figuren im Kontext ihrer Erfahrungen mit den digitalen Welten als (Spiel-)Figuren (dead.end.comLevel 4). Potenziert wird das Verhältnis von literarischer und digitaler Virtualität in Olsbergs Flucht aus der Würfelwelt über eine Autorenfigur namens Karl, die gemeinsam mit den anderen Figuren nicht nur an mehreren Stellen über einen imaginierten Lesenden spricht, sondern dabei ebenfalls die Gemachtheit der literarischen Fiktion ausstellt, die sich somit auch als Simulation entpuppt – jedoch als literarische.

Die zeitgenössische Jugendliteratur bedient sich auf narratologischer Ebene somit einer Reihe moderner Erzählverfahren, um das digitale Medium im Text sichtbar zu machen. Diese Sichtbarkeit geht im Inneren der Texte jedoch oft mit einer materiellen Unsichtbarkeit der digitalen Medien einher. Illustrative Kennzeichnungen der digitalen Medien beschränken sich materiell vorwiegend auf den Einsatz bestimmter und digital konnotierter Schriftarten. 

Auf paratextueller Ebene hingegen rückt das digitale Medium sehr prominent in den Vordergrund. So verweisen die Titel und Cover häufig konkret auf das digitale Medium oder bedienen sich digitaler Attribuierungen, welche die menschlichen Figuren häufig überschreiben. Dieser paratextuell so dezidierte Fokus auf die digitalen Medien und ihr Übergewicht mag dabei Ausdruck der den Texten eingeschriebenen Frage sein, ob die digitalen Medien als Unterhalter und Unterstützer oder als kontrollierende Instanz über die menschlichen Figuren fungieren. Da oftmals mit beängstigenden Elementen gearbeitet wird, die mitunter den Lesenden zu adressieren scheinen (ErebosKillyou!Ich weiß alles über dich!) werden eher die Gefahren der digitalen Medien inszeniert, denn ihr Unterhaltungspotenzial. Gleichsam verheißt diese Covergestaltung Spannung und spricht im Spagat aus Unterhaltungs- und Aufklärungsversprechen jugendliche Lesende und erwachsene Mitlesende an. 

Die paratextuelle Gestaltung von Olsbergs mehrbändiger Minecraft-Fanfiction Das Dorf adressiert einmal mehr das Überlappen von literarischer und digitaler Realität. So ist den Bänden der Reihe jeweils ein Minecraft-Seed beigefügt, der den Lesenden zum Spielenden macht und es ihm oder ihr ermöglicht, die literarischen Handlungsräume digital zu erfahren. 

Die hier nachgezeichneten durchaus ambivalent zu sehenden paratextuellen Inszenierungsstrategien lassen sich darüber hinaus als Indikator für die Verortung der Texte auf der (jugendliterarischen) Skala von Unterhaltung und Aufklärung verstehen. Eine Verortung, die ebenfalls ambivalente Züge trägt und mit Blick auf die besprochenen Texte durch ein Gefälle zwischen realistisch und fantastisch erzählenden Texten gekennzeichnet ist. Wenn die fantastischen Texte durchaus über die Gefahren von Computerspielen oder künstlicher Intelligenz aufzuklären suchen, liegt der Fokus dennoch überwiegend auf dem Worldbuilding der fantastischen Computerwelten und der Unterhaltung der Lesenden. In den realistisch erzählenden und oftmals narrativ sehr reduzierten Texten scheint der medienpädagogische Schwerpunkt sehr viel präsenter, was womöglich nicht zur Auflösung der Differenz zwischen jugendlichen Digital Natives und erwachsenen Vermittelnden beiträgt. 

Zeitgenössische jugendliterarische Texte bedienen sich, so hat die kurze Besprechung gezeigt, einer Reihe narrativer, (moderner) narratologischer, materieller und paratextueller Inszenierungselemente, um die intermedialen Bezüge auf digitale Medien analog umzusetzen und damit die Debatte um das Thema ‚digitale Medien‘ literarisch weiterzuschreiben.

Literatur

Buschendorff, Florian: Ich werde YouTube-Star! K.L.A.R. Mühlheim an der Ruhr: Verlag an der Ruhr, 2017. 

Gabathuler, Alice: dead.end.com. Stuttgart: Thienemann-Esslinger, 2011.

Höra, Daniel: Auf dich abgesehen. Carlsen Clips. Hamburg: Carlsen, 2015.

Höra, Daniel: Killyou! Carlsen Clips. Hamburg: Carlsen Verlag, 2018.

Färber, Werner: Wie viele Level hat dein Leben? Ravensburg: Ravensburger Verlag, 2011.

Feibel, Thomas: #selbstschuld. Was heißt schon privat? Hamburg: Carlsen, 2016.

Feibel, Thomas: Ich weiß alles über dich. Carlsen Clips. Hamburg: Carlsen, 2016. 

Olsberg, Karl: Rafael 2.0. Stuttgart: Thienemann-Esslinger, 2011.

Olsberg, Karl: Rafael 2.0.: Reboot. Stuttgart: Thienemann-Esslinger, 2012. 

Olsberg, Karl: Würfelwelt. Scotts Valley: CreateSpace, 2013. 

Olsberg, Karl: Das Dorf: Der Fremde (Bd. 1). Scotts Valley: CreateSpace, 2014.      

Olsberg, Karl: Zurück in die Würfelwelt. Scotts Valley: CreateSpace, 2014.   

Olsberg, Karl: Flucht aus der Würfelwelt. Scotts Valley: CreateSpace, 2014. 

Olsberg, Karl: Boy in a White Room. Bindlach: Loewe, 2017. 

Olsberg, Karl: Girl in a Strange Land. Bindlach: Loewe, 2018. 

Olsberg, Karl: Boy in a Dead End. Bindlach: Loewe, 2019. 

Poznanski, Ursula: Erebos. 4. Aufl. Bindlach: Loewe, 2012.

Poznanski, Ursula: Erebos 2. Bindlach: Loewe, 2019.

Ruwisch, Ulrieke: Likes sind dein Leben. Carlsen Clips. Hamburg: Carlsen, 2015.                 

Schlüter, Andreas: Level 4 – Die Stadt der Kinder. (Bd. 1). München: dtv, 2007.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen