Geschichtenerzähler aus Göttingen und Jaipur

Christine Wunnickes Roman „Die Dame mit der bemalten Hand“ über Sterne, Geschichte und den kolonialen Blick

Von Monika WoltingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Wolting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Christine Wunnicke entführt in ihren Romanen die Leser gerne in weit entlegene Zeiten, an weit entlegene Orte. Sie kennt aber auch ihre Leser und überlässt sie nicht dem Geist einer alten Zeit, sondern entwirft ihre Geschichten so, dass sie an den gegenwärtigen Wertvorstellungen gemessen werden können. Der gerade für den Deutschen Buchpreis nominierte Roman mit dem auf den ersten Blick rätselhalt erscheinenden Titel Die Dame mit der bemalten Hand (Berenberg, 2020) lässt die Figur des deutsch-dänischen Mathematikers Carsten Niebuhr neu entstehen.

Carsten Niebuhr tritt als jünger, vielversprechender Wissenschaftler mit einer fünfköpfigen Forschergruppe eine Expedition nach Ostindien an. Der Grund für die Reise ist tief in der Aufklärung verwurzelt, die jungen Forscher sollen nun für den Göttinger Orientalisten Prof. Johann Michaelis Beweise für die Richtigkeit der in der Bibel enthaltenen Landschafts-, Sitten- und Menschenbeschreibungen liefern.

Wunnicke entwirft ihre Figuren mit viel Witz und Zuneigung, sie verleiht ihnen unverwechselbare Charaktere, lässt aus historischen Überlieferungen Menschen entstehen, die ihr eigenes Leben im Roman zu führen beginnen. Das gilt als eines der Merkmale des posthistorischen Schreibens: Im Roman findet eine gegenwärtige Auseinandersetzung mit der historisch überlieferten Wirklichkeit und mit historisch belegten Persönlichkeitsportraits statt. Christine Wunnicke wählt für ihren Roman als zentrales Ereignis den Zeitpunkt, als Carsten Niebuhr an Sumpffieber erkrankt, zum neunten Mal von Fieber erschüttert wird und bewusstlos von einem aus dem indischen Jaipur stammenden und nach Makkah (Mekka) reisenden Astronomen Haddaschi Musa gefunden wird. Musa hält den Kranken durch Geschichtenerzählen am Leben. Carsten Niebuhr hat auf seiner bisherigen Reise bereits alle seine Begleiter verloren und sucht auf der Insel Gharapuri (Elefanteninsel), zwischen Panvel und Manbai (heute Mumbai) gelegen, nach Kultschätzen der Christen, Juden und Moslems. Es ist eine seltsame Begegnung der beiden, sie findet jenseits der Kulturen und Sprachen statt. Die Forscher, der junge Deutsche und der alte Inder, werden durch ihre Begeisterung für Sternenbilder, für Mathematik, für das Messen und Rechnen, durch ihren Entdeckergeist miteinander verbunden und entwickeln sich zu geistig ebenbürtigen Partnern. Erst der Blick der Engländer, die auf die Insel kommen, lässt die unterschiedlichen Verhaltensweisen und Zugehörigkeiten der beiden Männer transparent werden. In dem Moment wird der Leser mit dem kolonialen Blick auf die Fremde konfrontiert und merkt, wie eingeschränkt und wenig ergiebig dieser ist. Im Medium der Literatur werden der Gesellschaft am Beispiel von Erzählungen differente Deutungen des Vergangenen zur Diskussion gestellt. Die Geschichte westlicher Dominanz dekonstruiert sich in diesem Blick selbst, so benötigt die Autorin keine Anklage oder Buße mehr.

Bei dem Roman von Wunnicke handelt es sich auch um einen Abenteuerroman. Die Abenteuer spielen sich aber in den Köpfen beider Protagonisten ab, sie erzählen Geschichten über das Erlebte und Erdachte. Der alte Astronom unterrichtet den jungen Mathematiker im Geschichtenerzählen, weist auf die Bedeutung des Erzählens, des Ausschmückens, des Fabulierens hin. Historische Themen erhalten so ihre Gültigkeit zurück und können durchaus das Interesse eines heutigen Lesers wecken. Durch die Art und Weise der „ästhetischen Codierung“ historischer Sachverhalte ergeben sich in Wunnickes Roman neue Sichtweisen. Beispielsweise gelingt es der Autorin, den „historischen Helden“, den „aufklärerischen Entdecker und Abenteurer“, als Identifikationsfigur und Sympathieträger neu zu konstruieren.

Im postheroischen Zeitalter unserer Tage sind Helden nicht mehr erwünscht. Ein Held zeigt, dass er sich von der Masse durch bestimmte Eigenschaften unterscheidet, und das würde gegen demokratische Prinzipien verstoßen. Die Demokratie hat den Helden ein für alle Mal abgeschafft, an seine Stelle rückt ein couragierter Zivillist. Dem Leser wird Carsten Niebuhr zunächst als ein von Prof. Michaelis gehänselter Student präsentiert, später als todkranker Europäer, der von einem Inder durch Geschichtenerzählen geheilt wird. Carsten Niebuhr bleibt nur in seinen und des Meisters Musas Geschichten ein Entdecker und Abenteurer, Held und Bezwinger. Damit spannt Wunnicke einen überaus interessanten literarischen Bogen zwischen der wissenschaftlichen Überlieferung und der Möglichkeit, sich heutzutage an historische Figuren zu erinnern. „Auch Clio dichtete“, schrieb Hayden White. Wunnickes Text demonstriert, wie in der Gegenwart produktiv mit Geschichte umgegangen werden kann. Wie ehemalige Helden auch in der demokratischen, globalen Welt ihren Platz im kulturellen Gedächtnis behalten können. Weil sich Menschen unter bestimmten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen an das Vergangene und an die Helden der Vergangenheit erinnern und die entsprechenden Ereignisse archivieren, kann die Vergangenheit überleben. Wir erinnern uns, indem wir das Vergangene vergegenwärtigen. Medien dienen der Speicherung, aber auch der Überlieferung von Wissen aus der Vergangenheit und über die Vergangenheit. Dem Band sind viele Leser zu wünschen!

Titelbild

Christine Wunnicke: Die Dame mit der bemalten Hand.
Berenberg Verlag, Berlin 2020.
168 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783946334767

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