Innenansichten
Zart geformte Gedichte legt Marie T. Martin in „Rückruf“ vor
Von Thorsten Paprotny
„Worte heilen, Worte töten“ – so hat Heinrich Böll die Macht der Sprache beschrieben, an weite Möglichkeiten des Ausdrucks sorgenvoll erinnernd. Die Wörter, ja alle Sprachen sind den Sprechenden, nicht weniger den Schreibenden in besonderer Weise anvertraut, gewissermaßen in ihre Obhut gegeben. In der Dichtkunst zeigt sich mitunter ein besonderes Moment, das Erlebnis- und Begegnungsräume öffnet oder zu Entdeckungen einlädt. Der Autorin Marie T. Martin, die bereits einige Lyrik- und Prosabände publiziert hat, attestiert Tom Schulz, der ihren Band Rückruf mit einem Nachwort versehen hat, einen „magischen Sprachrealismus“. Über den Zauber der Poesie wurde oft nachgedacht, die gewählten Begriffe – Magie und Realismus – bezeichnen im Grunde Gegensätzliches. Vermag Magie realistisch zu sein? Kommt kunstvoll geformten Worten etwas Erhabenes, Feierliches oder Zauberhaftes zu?
Die Lyrikerin fasst die Prosa des Daseins in Verse, überhöht das Alltägliche, das sie poetisch aufnimmt, aber nicht mit einer suggestiven, mirakulösen Sprache, sondern sie zeichnet sich durch ein im besten Sinne handwerkliches Geschick aus. Marie Martin gewährt neue, bisweilen nur sensibel angedeutete Wahrnehmungsweisen, etwa für eine fantasievolle, mitunter fantastische Dimension von Wirklichkeit. Sie erkundet auch das, was frühere Generationen als die Seele des Menschen bezeichneten. In dem Gedicht Postkarte offenbart sich eine innere Sehnsucht, eher spielerisch als ekstatisch:
Hier ist es wie nirgendwo, die Gräser leuchten. Hier ist es wie
Es überall sein könnte, Stimmen fliegen, flechten sich ineinander,
ohne dass du die Hände ausstrecken musst in Verteidigung.
Der Regen „fällt manchmal nach oben“, also zum Himmel hinauf, auch wenn „Myriaden von Märchen“ erzählt werden oder verborgen bleiben, steht am Schluss die eine Frage, die den wunderbaren Realismus liebender Hoffnung bezeichnet: „stimmt deine Nummer noch?“ Das ist es, was wichtig ist und bleibt, auch wenn Regentropfen aufzusteigen beginnen und Märchenhaftes mitgeteilt werden könnte. Die Postkarte gilt dem Adressaten, der ein Telefon besitzt, das er nach diesen zarten Versen nur zu gern benutzen wird. Die Absenderin der Liebesgrüße wartet, und welcher Empfänger würde sie wohl warten lassen?
Manchmal werden Momente zueinander gefügt, über einen „Schuh der am Boden liegt“, über schelmische „Nachbarskinder“, bis der ganze Ernst der Dichtung sichtbar wird:
schreib doch über die
blau angelaufene Hand
deines Vaters
über die Stille im Zimmer.
Wer behauptet, dass Poeten für jede existenzielle Erfahrung die passenden, vielleicht sogar die einzig richtigen Worte hätten? Marie Martin nähert sich schreibend an, bleibt vorsichtig, tastend, aber sie verschweigt nichts. Macht sie Hoffnung? Diese Gedichte finden ihr Ziel in sich selbst. Sie wollen nichts aussagen, zwingen keine Interpretation auf. Die Lyrikerin bleibt zurückhaltend und komponiert leise Töne. Im letzten Satz bleibt das Schweigen gegenwärtig, förmlich anwesend, in einem Sterbezimmer, in dem die Stille wirkt wie ein unsichtbares Wesen im Raum.
Auch von Ängsten wird berichtet:
Am Anfang
So war das: Du öffnetest den Mund,
tatest den ersten Schrei. Jemand
wickelte dich, legte dich in einen Kasten.
Du warst gewohnt, einen Herzschlag
zu hören, warst gepolt auf Wärme,
den Klang einer Stimme. Noch heutekann dich die Angst überfallen, dass
alle auf einmal verschwunden sind,
dass du eine Täuschung bist oder ein
seltsamer Traum.
Die Angst, verlassen zu werden, verloren zu gehen, kennt jedes Kind, das schon nach wenigen Augenblicken zur Uhr schaut, wenn es allein zurückbleibt, nicht spielen mag, weil es nur zu Hause sein und bleiben möchte – „gepolt auf Wärme“. Unter allen Stimmen, die es hört, vermisst es den „Klang einer Stimme“, vielleicht den gütigen Tonfall der liebenden Mutter, der Sicherheit garantiert und ein Obdach schenkt. Die Angst, dass alle verschwinden könnten, bleibt, mancher mag – philosophisch inspiriert – auch erwägen, ob er nicht wirklich, nicht real, sondern nur geträumt ist. Aber wenn die Vorstellung erlischt, wenn der Traum enden würde, wäre es schmerzhaft? Größer wäre die Angst vor dem Verlust, verwaist zu sein, für Stunden nur, auf Zeit, für immer.
Von der Stille, vom Verschwinden schreibt Marie Martin öfter, von Dingen, die auf einmal fort sind, von Menschen, die noch anwesend waren und dann anderswo oder nicht mehr sind:
In diesen blauen Räumen
wohnt Stille.
Vor der Wirklichkeit möchten viele Menschen die Augen verschließen, und sie wollen nicht sehen, was ihnen doch vor Augen steht. Ängste bleiben. Gefangen in den Gespinsten der Erinnerungen, in einer Schattenwelt oder in einem von Angst verschatteten Dasein mag die eine oder der andere dasselbe erwägen, ob ein Aufbruch möglich ist:
Es gab, es gibt die Krankenhäuser, überfüllte Stationen, Staub,
der ganze Städte begräbt und diese Träume, aus denen du hochfährst,
wie früher, bevor du wusstest was es hier gibt. Nichts kann dir Augen
und Ohren verschließen, du musst sie öffnen und sehen, aufstehen und
hinausgehen. Wirst du, kannst du es tun?
Die Frage bleibt offen, aber sie lautet nicht: Willst du es tun? Sehr viel vorsichtiger, niemals appellierend, dröhnend, theatralisch oder ironisch, sondern behutsam formt Martin die Verse, zeichnet sorgfältig die Konturen der Angst nach. Die Frage „Wirst du, kannst du es tun?“ zeigt eine Notwendigkeit an, den eigenen Dämonen zu entkommen, auch ein inneres Bedürfnis, aber es bleibt schwer zu realisieren, für manche unmöglich.
Marie T. Martin vergegenwärtigt auch Innenansichten aus dem weiten Land der Empfindungen und Leidenschaften, berichtet so von Vergangenheiten, die weder vergehen wollen noch vergessen werden. Diese Alpträume sind buchstäblich ins Innerste eingeschrieben. Wer sich ihnen stellt, wird vielleicht etwas leichter fortgehen können. Mit kunstvoll gefertigten Versen öffnet die Dichterin neu den Blick auf Menschen, Erfahrungen und Gegenstände. Die resonanzvolle Lektüre dieser sanft fließenden Poesie weckt Erinnerungen an tiefgehende Erfahrungen. Diese Gedichte sind, ganz schlicht formuliert, zugleich einfach auch sehr schön und berühren von innen her.
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