Hungertod in der Eremitage

Polina Barskova schildert in „Lebende Bilder“ das Schicksal Leningrader Künstler während der Blockade

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

[In dieser Rezension wurde die Schreibweise russischer Namen der im besprochenen Buch angeglichen.]

Die titelgebenden Lebenden Bilder bilden den Abschluss von elf Texten in diesem beeindruckenden ersten Prosaband von Polina Barskova, deren bisheriger Lebensweg vom dichtenden Leningrader „Wunderkind“ zur literaturwissenschaftlichen Professur in den USA führte. Das Buch ist im russischen Original 2014 erschienen und erhielt den renommierten Andrej-Belyj-Literaturpreis. Die Texte basieren auf Tagebuchnotizen von Künstlern, die während der hitlerdeutschen Blockade Leningrads (1941–1944) ums Leben kamen. Polina Barskova hat sich auch in der wissenschaftlichen Arbeit dieses bewegenden Themas angenommen, z. B. in Aufsätzen unter dem Titel Schwarzes Licht – Die Dunkelheit im belagerten Leningrad in der Zeitschrift Osteuropa.

Als Leningrader Blockade bezeichnet man die Belagerung der Stadt durch die deutsche Wehrmacht und deren Verbündete während des Zweiten Weltkriegs. Sie dauerte vom 8. September 1941 bis zum 27. Januar 1944 und war ein von Hitler befohlenes kapitales Kriegsverbrechen. Die Blockade hatte zum Ziel, die Einwohner Leningrads, der zweitgrößten Stadt der Sowjetunion, durch Hunger umzubringen. Die Stadt Peters des Großen war den Nazis als „Wiege der bolschewistischen Revolution“ und als einstiges intellektuelles Zentrum Russlands verhasst. Sobald die Bevölkerung verhungert war, sollte Leningrad zerstört und das Gebiet umgepflügt werden. 2,5 Millionen Menschen wurden eingesperrt, und 1,1 Millionen Zivilisten verloren in diesen 872 Tagen ihr Leben, die meisten von ihnen verhungerten. Die Rechnung der Belagerer ging dennoch nicht auf. Auch während der Blockade produzierte Leningrad weiterhin Geschütze, Munition und Kampfpanzer vom Typ T 34. Die Stadt blieb in sowjetischer Hand, und am 27. Januar 1944 wurde die Blockade durch die Rote Armee gebrochen.

Nach dem Krieg wurden in riesiger Zahl unveröffentlichte Tagebücher von Eingeschlossenen gefunden, auf die sich die Autorin stützt. Sie legen Zeugnis ab vom Schicksal der Opfer und vom allmählich erlahmenden Überlebenswillen ohne Nahrung, fließendes Wasser und Brennstoffe. Die Menschen beschreiben sich als von Hunger, Krankheit und Vereinsamung gezeichnet. Sie magern zu Skeletten ab und können wie Tiere nur noch an Nahrung denken. Den ausgemergelten Gestalten mit Hautausschlägen und Läusebefall fällt das tagtägliche Aufbäumen immer schwerer. Viele Eingeschlossene suchen Kraft in der Beschäftigung mit der Geschichte und den Künsten. Doch der Hunger zerstört nicht nur den Körper, sondern auch die Seele. Vom deutschen Feind ist in den Tagebüchern so wenig die Rede wie vom Frontverlauf. Die Aufmerksamkeit gilt dem Krieg im Inneren.

Der erste Text kündigt mit dem Titel Der Vergeber sogleich an, dass sich die Sprache nicht in ausgefahrenen Gleisen bewegt und man den Wörtern nachspüren muss. Was tut ein „Vergeber“, der im Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache nicht vorkommt? Verteilt er Ämter, verzeiht er Schuld und Beleidigung, oder nutzt er Chancen nicht aus? Die Wortfindung der Übersetzerin Olga Radetzkaja bezieht sich auf jemanden, der nach Meinung der Autorin zu rasch verzeiht. Gemeint ist der italienische Schriftsteller Primo Levi, der nach seiner Rückkehr aus Auschwitz keine Kraft zum Hassen mehr aufbringt.

Es kann hier nicht im Einzelnen auf die polyphonen Texte eingegangen werden, mit denen die Autorin auf die „gewaltige Vielfalt von Geschichten und Stimmen“ reagiert, die sie in Tagebüchern der Blockadezeit fand. Es geht um Prominente wie den Komponisten Dimitrij Schostakowitsch oder den Dramatiker Jewgenij Schwarz, dessen „Drache“ ein herausragendes Theaterereignis in der DDR war. Andere Protagonisten, wie der Literaturwissenschaftler Dimitrij Maximow oder der Maler und Schriftsteller Pavel Salzman, sind weniger bekannt.

Nicht alle Texte spielen in Leningrad und in der Blockadezeit. Picasso zieht reichlich Ironie auf sich. Polina Barskova ist jedoch alles andere als respektlos. Sie findet es bei vielen Gedichten Alexander Puschkins, die sie auswendig kennt, geradezu unglaublich, dass sie von einem Menschen geschaffen wurden. Ihre Texte spiegeln wider, wie sehr die Schicksale sie fasziniert haben. Die Blockade hat sie nicht miterlebt, aber ihre Kinderzeit in der Sowjetunion kommt zur Sprache, mit Pionierlager und Leninkult.

Polina Barskovas Sprachwucht ist so intensiv wie das tödliche Erleben jener Menschen, von denen sie Zeugnis ablegt. Die Grenzen zwischen Essay und Erzählung sind fließend, doch da wird nicht kunstfertig mit den Genres gespielt, sondern die Form dient dem Thema.

Nicht episch, sondern dramatisch ist der Text Lebende Bilder, der dem Band den Titel gab. Der szenische Dialog spielt im ersten Blockadewinter in der Leningrader Eremitage. In dem bedeutenden und prächtigen Kunstmuseum, von Bomben und Geschossen schwer getroffen, lebten rund 12.000 Menschen. Sie sollten Ausstellungsstücke retten und Schäden geringhalten – und kämpften gegen den Hungertod.

Die meisten von ihnen hielten sich in Kellerräumen auf – nicht so ein Liebespaar, das es wirklich gab. Die 37-jährige Kuratorin Antonina Isergina und der zwölf Jahre jüngere Maler Moissej Waxer hausten in einem leeren Bildersaal. Waxer kam während der Blockade auf die Krankenstation, wo er starb. Isergina überlebte bis 1969. Die Aufzeichnungen der beiden werden von der Autorin collagenhaft mit ihren eigenen Worten verschränkt, wie sie das auch in anderen Texten tut.

Das Miteinander soll die beiden am Leben halten, ein Lied, das Märchen von der Schneekönigin, die längst hinter den Ural gebrachten Bilder Rembrandts. „Alles ist da – man muss nur sehen können und sich erinnern, Kinder!“ Das sagt die dritte Person in diesem Dramolett, die alte Anna Pawlowna. Zu ihr kam jemand, wegen des Stroms, und gab ihr von den gekochten Nudeln aus seiner Jackentasche ab. Da „zeigte“ sie ihm die Danae von Rembrandt „mit allem Drum und Dran“. Zwar ist das Bild nicht mehr da, doch sie kennt es ja auswendig. Dasselbe nur auf den ersten Blick merkwürdige Beharren beweist Moissej, als er der Geliebten, die er Totja nennt, eine Schallplatte zum Neujahrstag schenkt. Kein Grammophon? Sie haben ihre Erinnerung!

Obwohl sie immer schwächer werden, will Moissej alles aufschreiben. „Die Wahrheit, nichts als die Wahrheit!“ Totja bezeichnet ihn und sich als „mittelprächtige Mumien, Erhaltungszustand unbefriedigend“, deren Schicksal niemanden interessiere. Er aber will verklärende wie diffamierende Geschichtsschreibung vereiteln. „Dass wir alle Helden waren zum Beispiel oder alle Dreckskerle …“

Die Autorin Polina Barskova schildert ergriffen und ergreifend, sprachmächtig, kunstvoll und inhaltsreich die in tödlicher Zeit schreibenden, leidenden und sterbenden Menschen und sagt mit vielen wunderbar erfundenen Details die Wahrheit, nichts als die Wahrheit.

Ihre Übersetzerin Olga Radetzkaja würdigt mit Recht „die Sprünge zwischen Schmerz, Lust und Gelächter, zwischen wortlosem Grauen und komischem Detail“. Sie legt eine gelungene Übersetzung vor, solide und oft kühn, wenn sie etwa eine Kurzzeitgeliebte als „Flimmerflamme“ bezeichnet. Über den Tonfall einer Passage und über einzelne Wörter („Hungerleider“ für Dystrophiker?) lässt sich bei jeder Übersetzung streiten. In ihrer Nachbemerkung, die man mit Nutzen vor den Texten liest, erörtert die Übersetzerin einige Aspekte ihrer Arbeit. Kundig führt sie den Leser dabei in die Vielstimmigkeit der Autorin „zwischen Prosa und Lyrik, Fiction und Non-Fiction“ ein.

Titelbild

Polina Barskova: Lebende Bilder.
Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
180 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783518429426

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