Alt und neu: Vorbemerkungen zur Januar-Ausgabe 2021

Das neue Jahr beginnt in literaturkritik.de mit Erinnerungen an Friedrich Dürrenmatt. 30 Jahre vor dem 14. Dezember des alten Jahres ist er in der Schweiz 1990 gestorben. Am 5. Januar des neuen Jahres wäre er 100 Jahre alt geworden. Im Mittelpunkt des ersten Beitrags dieser Ausgabe erinnert Daniel Bickermann, Germanist und Filmwissenschaftler, Drehbuchautor, Dozent an der Internationalen Filmschule Köln und Dürrenmatt-Fan, an dessen autobiographisch-anekdotische Beschreibung eines seiner apokalyptischen Bilder – mit dem Titel „Katastrophe“. Es ist typisch für Dürrenmatts groteske Komik und Schwarzmalerei, „ein irrsinniges Wimmelbild des Schreckens“, gemalt aber mit schwarzem Humor, der uns hilft, den Schrecken leichter zu ertragen.

Wie wohl würde Dürrenmatt heute als Autor und Maler mit der Corona-Krise umgehen? Wie in seiner bekannten surrealen Kurzgeschichte mit einem endlosen „Tunnel“? Mit apokalyptischen Schreckensszenarien, die nur durch komische Übertreibungen auszuhalten sind? Wie in seiner „tragischen Komödie“ Der Besuch der alten Dame mit der Phantasie einer reichen Frau, die die Bewohner einer Stadt aus finanzieller Not zu befreien verspricht, dabei allerdings den Tod eines ehemaligen Liebhabers fordert?

Antworten auf Fragen, die zu diesem Stück dem Schweizer Literaturwissenschaftler Peter von Matt vor einigen Jahren gestellt wurden, sind in dieser Ausgabe von literaturkritik.de ebenfalls zu lesen. Und wir veröffentlichen darüber hinaus auch erneut einen älteren Beitrag von Marcel Reich-Ranicki zum 60. Geburtstag des „makabren Possenreißers“, der vor 40 Jahren, am 15. Januar 1981, in der F.A.Z. und später auch in seinem Buch Lauter Lobreden erschienen ist. Reich-Ranicki stand dem Werk Dürrenmatts schon früh nahe. 1957 übersetzte er in Polen Der Besuch der alten Dame.

Auf etliche „Neuerscheinungen zum 100. Geburtstag von Friedrich Dürrenmatt“ verweist der Beitrag von Manfred Orlick in dieser Ausgabe, auf neue Editionen seiner Werke und vor allem auf die neue Biographie von Ulrich Weber, dem Kurator des Dürrenmatt-Nachlasses im Schweizerischen Literaturarchiv in Bern und Mitherausgeber des eben erschienenen Dürrenmatt-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung.

Der zweite Themenschwerpunkt der Januar-Ausgabe zur Geschichte und Rezeption der Psychoanalyse knüpft zu Beginn des neuen Jahres an alte Interessenschwerpunkte unserer Zeitschrift und unseres Verlags seit nun mehr als zwei Jahrzehnten an – u.a. mit Beiträgen zu Wilhelm Reich von Bernd Nitzschke und zur Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus von Helmut Dahmer sowie einem Beitrag von Petra Brixel über die Beziehung der Schwester ihrer Großmutter Sofie Benz zu dem Maler und Schriftsteller Leonhard Frank und dem Psychoanalytiker Otto Gross.

Mit der Psychoanalyse haben sich auch Dürrenmatt und manche Forschungen über ihn auseinandergesetzt. Im Verzeichnis seiner Bibliotheksbestände, die vom Schweizerischen Literaturarchiv in Bern betreut werden, stehen die 10 Bände der Studienausgabe von Freuds Werken. Im Band I mit den Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse finden sich zahlreiche „An- und Unterstreichungen“ Dürrenmatts. Dieser bezeichnete seine Denkmethoden zwar als „analytisch“, betonte aber, er sei „weder Psychoanalytiker noch Soziologe“. Und im Rückblick auf seine eigene Lebensgeschichte erklärte er zwar, „dass alles Wichtige, alles Entscheidende sich auf die Jugend zurückführt“, aber dies sei „keine Erkenntnis, die ich – etwa von der Psychoanalyse – übernommen“ habe. Auseinandersetzungen mit der Psychoanalyse und Affinitäten zu ihr in seinen Werken sind trotzdem vorhanden. Die Ortsbeschreibung vor dem ersten Akt der irrrwitzigen Komödie Die Physiker mit der „,Villa‘ des Irrenhauses“ und einer „Handlung, die unter Verrückten spielt“, beschreibt eine Hauptfigur des Stücks, „Dr. h. c. Dr. med. Mathilde von Zahnd“, als „Frau von Weltruf“ und führt als Beleg dazu in Klammern an: „ihr Briefwechsel mit C. G. Jung ist soeben erschienen.“ Zu den Literaturwissenschaftlern, die sich schon früh mit Affinitäten und Differenzen zwischen Werken Dürrenmatts und der Psychoanalyse befasst haben, gehört vor allem Peter von Matt. In seinem zuerst 1972 und dann 2001 in einer überarbeiteten Fassung erschienenen Buch Literaturwissenschaft und Psychoanalyse geht er auf mehreren Seiten im Hinblick auf Freuds Konzeption des „Ödipuskomplexes“ den Ambivalenzen von literarischen Figuren Dürrenmatts in ihren Beziehungskonflikten mit oft monströsen Vaterfiguren nach, die sich nicht umbringen lassen.

Nicht zuletzt um Machtkonflikte geht es auch in den Beiträgen zur Geschichte der Psychoanalyse in dieser Ausgabe. Und nicht nur dort. Doch das soll hier nicht weiter ausgeführt werden. Hingewiesen sei aber in diesem Zusammenhang wenigstens noch auf den 80. Geburtstag einer Sängerin vier Tage nach dem 100. von Dürrenmatt. Wir freuen uns, dass sie noch lebt: Joan Baez. Unser vor zwei Jahren anlässlich ihrer Abschiedstournee erschienener Beitrag Ein anderes Amerika, das sie verkörpert, passt heute zu den jüngsten Ereignissen im Kapitol und zu ihrem Geburtstag noch besser. In unserer Januar-Ausgabe steht ein neuer Beitrag über sie von Dieter Lamping mit den Sätzen: „Sie machte ihre Musik, die auch zum Mitsingen einladen sollte, zur Begleiterin grundsätzlich gewaltloser politischer Aktionen. Auf dem Civil Rights March sang sie 1963 in Washington ,We Shall Overcome‘, das zu einer Hymne der Bürgerrechtsbewegung wurde – ähnlich wie es Bob Dylan mit ,Blowin` In The Wind‘ gelang, das sie auch lange vortrug. Der Einsatz für Gleichberechtigung, gegen Rassismus und Krieg ist das Leitmotiv ihrer politischen Arbeit geworden, die sie nicht auf die USA beschränkte.“

Der Beginn des neuen Jahres ist ein Anlass, allen zu danken, die zu dieser Ausgabe sowie zu denen im alten Jahr beigetragen oder sie mit anderer Hilfe ermöglicht haben. Im Namen unserer Redaktionen an den Universitäten in Mainz, Duisburg-Essen und Marburg wünscht unseren Leserinnen und Lesern mit herzlichen Grüßen anregende Lektüren und auch sonst alles Gute für 2021

Thomas Anz