Auch keine Geschichte der Philosophie
Jürgen Habermas‘ zweibändige Genealogie nachmetaphysischen Denkens
Von Maximilian Huschke
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer Titel von Jürgen Habermas‘ bisher umfangreichstem Werk ist irreführend: Auch eine Geschichte der Philosophie. Das wendet er selbst ein. Ursprünglich vorgesehen gewesen sei Zur Genealogie nachmetaphysischen Denkens. Auch eine Geschichte der Philosophie, am Leitfaden des Diskurses über Glauben und Wissen. Sperrig, aber treffender.
Der Anspruch einer Geschichte der Philosophie bestünde wohl – in aller Grobheit – in der Darstellung historischer Positionen und Konzeptionen innerhalb der einzelnen Teildisziplinen, die sich zusehends ausdifferenziert haben. Absicht wäre dementsprechend die Darlegung der Entwicklung des ‚Fachs‘ als Ganzes. Beides verfolgt Habermas primär nicht. Er intendiert weniger, zugleich aber auch mehr. Deutlich weniger hinsichtlich des eigenen Anspruchs: Es ist ihm nicht darum zu tun, die Geschichte der Philosophie darzustellen. Folglich wird weder beansprucht, dass die dargelegten Positionen repräsentativ für die Philosophie seien, noch für die Entwicklung dieser Wissenschaft. Eine derartige Philosophiegeschichte behaupten schreiben zu können, wäre tatsächlich ein „eigentlich unseriöses Unternehmen“. Immerhin bedarf selbst die auf die europäisch-westliche Entwicklung begrenzte Darstellung der Geschichte der Philosophie, welche von Wolfgang Röd verantwortet im letzten Jahr abgeschlossen wurde, vierzehn Bände. Als eine Philosophiegeschichte gelesen, muss Auch eine Geschichte der Philosophie enttäuschen, weil es diesem Anspruch gar nicht gerecht werden will. – Mehr beabsichtigt und beansprucht Habermas jedoch hinsichtlich des Systematischen seiner Entwicklung. Auch deswegen handelt es sich um eine Genealogie. Im Gegensatz zu der Geschichte im Sinne einer vollumfänglichen historischen Darlegung der Entwicklung einer Sache, benennt die – zumindest seit Friedrich Nietzsches Genealogie der Moral – eher die Absicht, die metaphorischen ‚Abstammungsverhältnisse‘ von Theoremen zu entwickeln. Es wird Vergangenes verhandelt, aber mit dem dezidierten Zweck, Herkunft und Entwicklung des behandelten Gegenstandes rückblickend aufzuspüren. In einem noch stärkeren Sinne als eine Geschichte ist eine Genealogie folglich immer die von etwas. Dementsprechend ist die von Habermas dargelegte Genealogie eine des nachmetaphysischen Denkens. Zentral ist also die Frage nach Entwicklung und Abstammung des nachmetaphysischen Denkens. Gründe für diese Ausrichtung von Habermas‘ Darlegung gibt es zweierlei: Unser Denken sei nachmetaphysisch – oder vorsichtiger: müsse es nach Habermas konsequenterweise sein –, weil ‚unsere Zeit‘ es ist. Innerhalb des nachmetaphysischen Denkens wiederum sei die Stellung der Philosophie heute zusehends prekär, weil sie ihre einst zentrale Rolle als Medium der Klärung unseres „Selbst- und Weltverständnisses“ einzubüßen scheint, wenn sie nicht mehr metaphysisch ist. Deshalb braucht es die Genealogie. Sie dient als Reflexionsmedium der Frage nach der Möglichkeit, diese ehemals von der Philosophie auf sich genommene Aufgabe auch als nachmetaphysisches Denken zu bewältigen. Hierin liegt das Mehr des systematischen Anspruchs: Die reflektierende Darlegung der Entwicklung des Denkens bis hin zu dem und unter der Perspektive von dessen vorläufigem nachmetaphysischen Endpunkt soll verstehen helfen, wie die sich ihm darbietenden gesellschaftlichen Probleme verarbeitet werden können, indem sie zeigt, wie diese historisch verarbeitet wurden und so zu besagtem Ende geführt haben.
Es ist die Anekdote kolportiert, dass Karl Heinz Haag, ehemaliger Kollege von Habermas in Frankfurt, bei Erscheinen von dessen Theorie des kommunikativen Handelns gemeint haben soll, jeder könne über 1000 Seiten schreiben. Derselbe Haag hat 1983 einen Band vorgelegt, der ein ganz ähnliches Projekt verfolgt wie Habermas‘ neuer Band. Der Fortschritt in der Philosophie unternimmt den Versuch, die historische Entwicklung der Grundfrage der Metaphysik nach dem Seienden als Seiendem von der Antike über das Hochmittelalter, Immanuel Kant und Friedrich Hegel hin zu ihrer Ablehnung im Positivismus und ihrer Gestalt in der Zeit der Dominanz der Naturwissenschaften nachzuzeichnen. Der Anekdote korrespondierend: auf 200 Seiten. – Die Differenz im Umfang ist hier nebensächlich, auch wenn betont werden muss, dass Habermas einmal mehr seine umfängliche Belesenheit unter Beweis stellt. In diesem Vergleich ist die Differenz von Methodik und Selbstverortung relevant. Haag geht es um die Entwicklung eines systematischen Problems, dem er in seinen unterschiedlichen Gestalten nachspürt. Um die Gegenwart zu begreifen, wird die Vergangenheit aufgeklärt. Diese Absicht teilt Haag mit Habermas. Nur unterscheiden sich beide maßgeblich hinsichtlich der inhaltlichen Bestimmung des Gegenwärtigen: Haag sieht eine negative Metaphysik an der Zeit, seine historisch-systematische Entwicklung zielt demzufolge auf deren Begriff. Habermas hingegen ist unsere Zeit nachmetaphysisch, entsprechend handelt es sich um eine Genealogie des nachmetaphysischen Denkens. Das ist kein geringer Unterschied, sondern einer, der das jeweilige Ganze der beiden Darlegungen wesentlich bestimmt. Deutlich sichtbar wird die inhaltliche Differenz beider an ihrer Deutung Kants. Während sich für Haag bei Kant die Möglichkeit dessen andeutet, was er als eine negative Metaphysik zu begreifen sucht, verursacht er zusammen mit David Hume für Habermas die Notwendigkeit nachmetaphysisch zu denken. Haag stellt den begründenden Charakter der Kritik der reinen Vernunft für eine neue Metaphysik heraus, Habermas allerdings ihren begrenzenden. Haags Darstellung ist als eine zwar historisch darlegende, aber weitgehend systematische Entwicklung eines Problems zu verstehen. Seine These einer negativen Metaphysik lässt sich folglich auch systematisch überprüfen. Hier zeigt sich wiederum die Differenz der Methodik. Habermas verfährt nicht rein systematisch. Vielmehr versucht er die historischen systematischen Probleme als die ihrer spezifisch historisch-gesellschaftlichen Konstellation zu begreifen. Seine Absicht ist es nicht, eine rein systematische Entwicklung nachzuvollziehen, wie das bei Haag weitgehend der Fall ist, sondern die systematischen Problemstellungen durch ihre jeweiligen gesellschaftlichen Konstellationen bedingt zu verstehen. Folglich steht bei Habermas zusehends nicht die systematische Argumentation im Zentrum, sondern ihre Deutung als Artikulation eines gesellschaftlichen Problemhorizonts. Die „Lernprozesse“, die Habermas nachvollzieht, sind keine bloß der Philosophie, sondern solche der Gesellschaft selbst, wie sie in Philosophie und Religion verarbeitet wurden und werden. Die Darlegung der Genealogie am „Leitfaden von Glauben und Wissen“ durchzuführen, rechtfertigt Habermas mittels der „engen Symbiose der griechischen Philosophie mit den monotheistischen Religionen“. Weil beide einen ähnlichen historischen Grund haben, lässt sich die Entwicklung hin zu einem nachmetaphysischen Denken als ein Prozess der Transformation von Glaubensinhalten in solche des Wissens dechiffrieren. Die „Genealogie des nachmetaphysischen Denkens“ führt ihn so nicht nur zu Platon, sondern ebenso zum Urchristentum, nicht nur zu Niccolò Machiavelli, sondern auch zu Martin Luther. Sie dient Habermas dabei als „indirekte[r] Weg“, um die Lernprozesse herauszuarbeiten, welcher in dieser Transformation mit Kant und Hume nicht abgeschlossen sind. Die wiederum sieht Habermas „an der Wegscheide nachmetaphysischen Denkens“. Die „Trennung von Glauben und Wissen“, die mit dem Protestantismus und der Subjektphilosophie in der Neuzeit vollzogen wird, zeitigt unter anderem die Problematik der Legitimität von Recht und Moral, aber schließlich auch die von Erkenntnis überhaupt. Aus dieser Perspektive muss die Reaktion eines René Descartes auf seinen eigenen, die Dominanz der Erkenntnistheorie in der neuzeitlichen Philosophie begründenden Zweifel, mittels eines Gottesbeweises die Möglichkeit von Erkenntnis zu begründen, als eine aus einer anderen gesellschaftlichen Konstellation von Glauben und Wissen stammende erscheinen. Folglich spielt Descartes eher eine Nebenrolle, während Kants Projekt einer transzendentalphilosophischen Begründung, welche das Subjekt vollends zum Ausgangspunkt nimmt, eine wesentliche Stellung in der Genealogie einnimmt. – Es geht Habermas um nichts weniger als das metaphysische Erbe nachmetaphysischen Denkens und die Frage, wie es angetreten werden kann. Diese Perspektive setzt die Position nachmetaphysischen Denkens voraus. Somit fungiert Auch eine Geschichte der Philosophie als historische Fundierung von Habermas‘ systemisch grundlegender These und als indirekte Erörterung von deren Bedeutung für Stellung und Aufgabe der Philosophie als einem nachmetaphysischen Denken.
Die Genealogie ist somit mehr als eine Geschichte, indem sie auf eine systematische Perspektive aus ist. Gleichzeitig ist ihr Anspruch geringer, weil sie nicht die Entwicklung der Philosophie darlegt. Sie gewinnt ihre Kraft der Überzeugung also nicht durch Vollständigkeit und auch nicht aus ihrer rein systematischen Argumentation, wie Haags Versuch beispielsweise. Vielmehr kann sie ihre Überzeugung nur mittels Kohärenz gewinnen. Indem sie unter der Prämisse nachmetaphysischen Denkens steht, zeitigt sie die Notwendigkeit, die Darlegung unter Voraussetzung des gesamten Werkes von Habermas und als dessen Ergänzung zu verstehen. Unabhängig von dieser systematischen Prämisse muss sie unverständlich und für sich genommen ausrichtungslos bleiben. Wer sich mit ihr beschäftigt, wird ihre Genealogie wiederum nicht ignorieren können.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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