Katze sein

„Bartls Abenteuer“, Marlen Haushofers Katzen-Klassiker für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, liegt in einer bibliophilen Neuausgabe vor

Von Günter HelmesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Helmes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ob Marlen Haushofer klammheimlich nicht nur eine Frau mit Ehemann und Kindern und eine Autorin von thematisch, gehaltlich und sprachlich bedeutenden Romanen wie Die TapetentürDie Wand und Die Mansarde gewesen ist, sondern auch eine Katze? Das jedenfalls muss man annehmen, wenn man dem Diktum „Von Katzen versteht niemand etwas, der nicht selbst eine Katze ist“ des großen Schriftstellers der Meiji-Zeit, Natsume Sōseki, Glauben schenken will. Denn wie anders sollte man es sich erklären, dass es Haushofer mit dem Bartl gelungen ist, eine literarische Katerfigur zu entwerfen, die die Katzen betreffenden An- und Einsichten so mancher berühmter Kollegen vollauf bestätigen? Diese lauten beispielsweise: „Könnte man den Menschen mit der Katze kreuzen, würde man damit den Menschen verbessern, aber die Katze verschlechtern.“ (Mark Twain), „Wenn ich mit meiner Katze spiele, bin ich nie ganz sicher, ob nicht ich ihr Zeitvertreib bin.“ (Michel de Montaigne) und „Die Katze behält ihren freien Willen, auch wenn sie dich liebt, und sie wird nichts für dich tun, was sie für unvernünftig hält.“ (Théophile Gautier).

Gewiss, in Bartls Abenteuer ist mehr auf der Oberfläche viel Autobiographisches in der einen oder anderen Abwandlung eingeflossen. Doch hätte dieser Rahmen, hätten die in Literatur überführten Situationen und Geschehnisse nicht auf jene Mensch-Tier-Schranken übersteigende, zur Selbsterkenntnis taugende Intimität des (Mit-)Erlebens und (Mit-)Empfindens hin vertieft werden können – zu denken ist auch an Wisława Szymborskas ergreifendes Gedicht Katze in der leeren Wohnung –, wenn die sich in der Figur der Mutter selbst skizzierende Haushofer nicht als Liebhaberin wahlverwandtschaftlich mit Katzen verbunden gewesen wäre.

Als Liebhaberin: Petrarca meinte die Menschen „grob in zwei Gruppen einteilen“ zu können: „in Katzenliebhaber und in vom Leben Benachteiligte“. Zumindest die Benachteiligten unter Ihnen sollten sich an dieser Stelle überlegen, ob sie überhaupt noch weiterlesen wollen – im Folgenden geht es nämlich eigentlich nur noch um Katzen, sieht man von Beiherspielendem, doch keinesfalls zu Unterschlagendem und einer längeren Bemerkung zu möglichen, doch Erkenntnissen zum Trotz unzuträglichen Lesarten von Bartls Abenteuer einmal ab – oder ob sie, als bereits Mündige darin weiter auf Kants Spuren, mit dem Kennenlernen von Bartl und weiterem Katzengetier einen ungefährlichen, weil fiktiven ersten Schritt auch aus ihrer selbst verschuldeten Benachteiligung heraus wagen möchten.

Die vorliegende Sonderausgabe des 1964 erstmals erschienenen Buches glänzt nicht nur mit 32 mit Kohlestrich und Aquarellfarben angefertigten, zum Teil über zwei Seiten gehenden und gefällig verteilten Illustrationen von Bronislava von Podewils, sondern auch mit Hand und Nase schmeichelndem Papier, anmutsvollem Schutzumschlag, Fadenheftung, Lesebändchen und das Auge weidendem Satz. Recht eigentlich handelt es sich also um eine der Sache damit höchst angemessene Liebhaberausgabe. Die erinnert nicht zuletzt ausstattungsseitig an den wunderschönen Novellenband Katzenbuch von Doris Lessing, der vor vierzig Jahren bei Klett-Cotta erschienen ist.

Der Roman ist in nicht nummerierte vierzehn Kapitel mit einem durchschnittlichen Umfang von ca. zehn Textseiten unterteilt. Allen Kapiteln sind linksbündige, in Großbuchstaben gesetzte und drei bis vier Zeilen lange Inhaltsstenogramme der Art „Wie Bartl zu seinem Namen kommt und wie er sich bei seiner Herrschaft, bei Papa, Mama und den Kindern, einlebt“ (1. Kapitel) vorangestellt.

Am Ende des Buchs hat man Bartl und die Seinen – Vater, Mutter und zwei Söhne im Kindes- und dann Jugendlichenalter – über mehrere Jahre begleitet, ist mit ihm aus einer Innenstadtwohnung in eine vorstädtisch-ländlich gelegene Wohnung umgezogen, hat miterlebt, was es bedeutet, als Stadtkater Katzenkind und -jugendlicher zu sein und dann quasi auf dem Land zu einem entfalteten Erwachsenen mit sozusagen bikulturellem Hintergrund heranzureifen, hat erfahren, dass auch in einer Katzenbrust nicht nur sieben Leben stecken – können, sondern auch zwei Seelen: die eines „sanfte[n], gutartig[n] Kätzchen[s]“ und die eines wütigen „Mongolenkaiser[s]. Und begriffen hat man, dass man als Mensch aller Bemühungen und Interpretationskunst zum Trotz Katzen niemals ganz verstehen wird, wie auch für diese der Kern des Menschseins ein Buch mit sieben Siegeln bleiben wird. Dennoch gibt es wechselseitig viel zu verstehen, wobei das Urteil, der Katzen Menschenkenntnis falle klar hinter der Menschen Katzenkenntnis zurück, gewiss ein vorschnelles wäre – mehr als einmal ist die Rede davon, dass Bartl die Menschen partout nicht versteht, aber eben auch, dass er den Seinen ein Rätsel ist: „Mama […] konnte nicht mehr schlafen und dachte darüber nach, wie schwierig es doch war, eine Katze zu betreuen.“

Katzen verstehen: In einer Lesart könnte man sagen, dass es Haushofer vor allem darum gehe, der Katzen ‚Sprache‘, die ganze, in unterschiedlichste Situationen eingebettete Vielfalt ihrer Ausdrucksformen aufzuzeigen und ‚auf den Begriff‘ zu bringen, indem ihnen – in auktorialer Halbdistanz auch aus des Helden Perspektive – Gefühlswerte, ‚Denk‘operationen, ‚Willens‘entscheidungen und Instinktimpulse zugeschrieben werden. In diesem Sinne wäre Bartls Abenteuer dann so etwas wie ein erzähltes Fremd‚wörter‘lexikon oder auch ein Handbuch der Katzennatur. Aus letzterem ließe sich im Übrigen auch ein Kapitel entwickeln, das einen Titel wie „Von der heilsamen Wirkung der Katzen auf Menschen“ tragen könnte.

Große Teile des Romans würde aber auch eine Akzentuierung erfassen, der es insbesondere um die hier präsentierte Vielfalt an Katzen- und Menschencharakteren ginge. Mit was für unterschiedlichen Typen sind doch jene Welten angefüllt – Semmelkater, Ringelkater, Fuchs, Schnurli, Mucki oder Pauli –, die beispielsweise zwischen den Katern Beli, einem viehischen Raufbold, und dem stets freundlichen, aufgeschlossenen und zutraulichen Gentleman Fridtjof liegen! Richtet man dann den Blick auf die kätzische Damenwelt, geht es hier u.a. mit Putzi, Rezi und zweimal Mizzi nicht minder bunt und – eine kritische Randbemerkung sei erlaubt – auch ein wenig stereotyp zu, wenn es beispielsweise um deren frei nach Conny Francis „seltsames Spiel“ mit den Herren der Schöpfung geht.

Auffällig ist aber in jedem Fall, dass Haushofer für die jeweilige charakterliche Prägung der Katzen nicht nur sogenannte natürliche Gründe wie Veranlagung und Alter ins Feld führt, sondern auch soziale wie Herkunft, Sozialisation, Lebensumstände und Kontakte (zu Menschen wie Tieren). So verfährt sie im Übrigen auch mit den gar nicht so wenigen Menschen, die im Romanverlauf auftauchen, wobei hier ‚schwarzweißer‘ zwischen Katzenhassern und Katzenliebhabern unterschieden und dem ‚natürlichen‘ Anteil bei der charakterlichen Prägung mehr Raum eingeräumt wird. Eine Ausnahme stellt in diesem Zusammenhang die Figur des „alten Max“ dar, der auf Tauben und Katzen schießt und der auch den wunderbaren Fridtjof heimtückisch um die Ecke bringt. Für ihn, der als Täter à la Emil und die Detektive von einer Vierergruppe Jungen identifiziert wird, war das Schießen auf harm- und wehrlose Tiere ein Ventil für jene Bitterkeit, die mit seiner sozialen Vereinsamung einherging. Das erfahren wir allerdings nicht bei einer Gerichtsverhandlung oder Ähnlichem, sondern dank Papa, der Max nicht anzeigte, sondern ihn aufsuchte und ein klärendes, Wunder bewirkendes Gespräch mit ihm führte. Womit eine dritte Dimension bzw. Lesart des Romans angesprochen wäre, die zu seiner landläufigen Einordnung in die Kinder- und Jugendliteratur beigetragen hat: die didaktische.

Gewiss können bei Kindern schon all jene Abenteuer eine hohe Bindekraft erzeugen, die Bartl erlebt: mit Menschen, mit anderen Katern und Katzen und mit Tieren wie Hunden, Igeln und Käuzen, hoch auf den Dächern und in tiefen Kellern, in windigen Verschlägen und in soliden Ställen, in ausweglosen Hinterhöfen und auf unbekanntem offenem Feld, im vertrauten Garten und auf endlos weiter Wiese, auf Dachböden und in fremden wie eigenen Wohnungen. Und zumindest für ‚richtige‘ Jungen dürften auch die beiden Jungen der Familie identifikatorisches Potential haben, ist doch beispielsweise der eine zum Leidwesen seiner Eltern faul und ein Schulverächter. Doch scheint sich Haushofer damit nicht zufrieden zu geben. Indem sie nämlich Bartls Sozialisation und Adoleszenz erzählt, erzählt sie beiläufig, erzählt sie ohne erhobenen Zeigfinger, Ratschläge oder Merksätze auch von gut und böse, richtig und falsch, zuträglich und unzuträglich, schön und unschön und dergleichen mehr – was ja nicht per se ein Fehler ist. Und sie erzählt ohne jede Larmoyanz, in einer eigentümlichen Mischung aus aufklärerischer Sachlichkeit und empfindsamer Teilnahme, von (damals) kinderliterarisch eher randständigen Themen wie Gewalt, Angst, Verzweiflung, Eifersucht, Trauer, Verwahrlosung, Altern und Tod – und ein klein wenig auch von der Liebe, der geschlechtlichen.

Und doch scheint es ein Leichtes zu sein, all die einfühlsam erzählten Geschichten um Bartl, seine Familie, seine Freunde und Feinde zu problematisieren oder sogar aus den Angeln zu heben, was so viel heißen würde wie: das Buch aufgrund vermeintlich schwerwiegender No-Gos dem Vergessen zu überantworten. So könnte man beispielsweise fragen, ob die einzelnen Episoden und der Roman als ganzer nicht zu lang für Kinder sind und ob sie bzw. er beim Gros der heutigen Kinder – seien diese auch Katzenliebhaber – überhaupt noch auf Interesse stoßen angesichts (multi-)medialer, mit Aber- und Abermillionen in ‚Heftchen‘ oder auf Leinwände, Bildschirme und Displays gepuschter Konkurrenz wie dem ja schon ungleich älteren Felix oder dem auch nicht mehr taufrischen Garfield.

Wenn ja, dann könnte dies doch immerhin auf das literarhistorisch eher seltene Phänomen hinauslaufen, dass ein Kinderbuch zu einem Erwachsenenbuch wird. Doch auch auf diesem Marktsegment droht überaus starke Konkurrenz. Dabei ist in Zeiten zusehends tabuierter Erwachsenensprache und ständig anwachsender Adoleszenzzeiträume nicht nur ganz allgemein an All-Age-Literatur zu denken. Thematisch unmittelbar ist vielmehr auch an all die sogar in einen Musicaltitel geronnenen, auch bei hochkultureller Anbindung eher dem Vergnügsam-Populären zuzuschlagenden Cats, Stiefelträger und Schwarzberockten der ‚volkstümlichen‘ Literatur anno dazumal und der Unterhaltungsindustrie heute zu denken, zudem an all die dem ‚Ernsthaft-Hohen‘ zuzurechnenden Hinzes, Murrs, Spiegels, Behemoths oder Selimas.

Angenommen schließlich, der Roman würde all diese Gefahren wie sein Held Bartl überstehen, drohte ihm der Todesstoß dennoch dann, wenn er auf jenen Typus des inquisitorischen, sich als Großchirurg phantasierenden Dekonstruktivisten treffen würde, dessen verantwortungsbeladene Hände in Moralin gebadet sind und dessen heimliches Idol Robespierre heißt. Von daher sei gleich vorab gesagt: Wem der Sinn danach steht, sich über traditionsbehaftete Familien-, Geschlechter- und Rollenentwürfe zu echauffieren, wer die Qualität solcher Entwürfe zur allein selig machenden bzw. zielführenden Richtschnur literarischer Kritik erklärt, dem dürfte Bartls Abenteuer im Wortsinn ein willkommenes Fressen sein. Denn hier fühlt man sich, oh Katzenjammer, doch gar nicht einmal selten in die zwar problembeladene, doch unterm Strich recht heile Welt der Schölermanns und Hesselbachs und ihrer Vorstellungen beispielsweise von Frau- oder Mannsein zurückversetzt.

Bei Lichte besehen fechten aber all diese Einwände und Frontalangriffe Bartls Abenteuer gar nicht ernsthaft an. Trägt der Text nicht bloß den schlichten Nachnamen „Roman“ und schert sich von daher gar nicht um jene Segmentierungen, die der nach pekuniärem Gewinn strebende Verlags- und Buchmarkt, literarturwissenschaftlicher Inventarisierungsfleiß oder das in Rubriken denkende Zeitungs- und Kritikerwesen vorgeben? Ist er von daher nicht allererst an sich selbst zu bemessen, an seinem Vorhaben, dessen Erreichen und insbesondere der Art und Weise, wie er dieses Erreichen ins Werk setzt? Und spielt es von daher nicht bestenfalls eine untergeordnete Rolle, dass wir im Roman aufs Ganze gesehen einer Familie Mustermann nach ‚klassisch-fröstelndem‘ Muster begegnen?

Wie auf Katzenpfoten elegant daherkommend, mit Katzensinnen feinspürig erlebend und aus kätzischer Sicht entwerfend, hat Marlen Haushofer einen Helden geschaffen, der eben nicht ein in einen Tierleib gesteckter Mensch à la Baloo, Mickey Mouse, Donald Duck, Feivel oder Sid ist, sondern ein Kater ist und bleibt. Dass dieser Kater, darin den Menschen gleich, beispielsweise auch eine Kindheit, ein entfaltetes Gefühlsleben, eine Triebnatur und ein Planen und Wollen und Müssen hat und ein Lied von Luftschlössern, Fehleinschätzungen, Lernprozessen und dergleichen mehr zu miauen weiß, verleitet sie nicht dazu, ihn um sein ureigenes Wesen zu bringen – wann immer Bartl zu sehr Mensch zu werden droht, schiebt Haushofer dem mit einem Eichendorff’schen „wie“ den Riegel vor. Vielmehr arbeitet sie dieses faszinierende Wesen ebenso unermüdlich wie nuancenreich wie liebevoll heraus, mit dem schönen Ergebnis auch, dass der Mensch – auch der bislang „vom Leben Benachteiligte“ – sich in der Begegnung mit Bartl ein gutes Stück weit besser kennenlernen kann – gerade auch in seinen Grenzen, seinen Unzulänglichkeiten, seinem Selbstbetrug, seiner Hybris.

Titelbild

Marlen Haushofer: Bartls Abenteuer.
Panima Verlag, Karlsruhe 2020.
176 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783982012629

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